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LATEINAMERIKA/1240: Brasilien - Weniger Gewalt in 'befriedeten' Favelas, Frauen atmen auf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. März 2011

Brasilien: Weniger Gewalt in 'befriedeten' Favelas - Frauen atmen auf

Von Fabíola Ortiz


Rio de Janeiro, 2. März (IPS) - In den Armenvierteln im Norden von Rio de Janeiro hat die Präsenz der Streitkräfte einen relativen Frieden erzwungen, den viele Bewohner nicht mehr missen wollen. So wurde die Drogenmafia weitgehend aus den Slums vertrieben, und bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen lassen sich ebenfalls Fortschritte erkennen.

"Frauen mussten früher den Mund halten, weil sie niemanden hatten, der ihnen geholfen hätte", berichtet Sheila Santos de Andrade, die in einer Favela des 'Complexo do Alemno' (Komplex des Deutschen) lebt. Bis zur Ankunft der Sicherheitskräfte vor drei Monaten hätten gewalttätige Ehemänner ihre Frauen verprügeln können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Gewalt gegen Frauen gebe es zwar überall auf der Welt, räumt die 34-Jährige ein. Doch sei die Situation in geschlossenen Systemen wie den städtischen Slums noch schlimmer.

Vor der 'Befriedung', wie die umstrittene Präsenz der Sicherheitskräfte in den brasilianischen Slums genannt wird, hätten sich nur wenige Frauen getraut, gewalttätige Übergriffe anzuzeigen, berichtet die Polizeikommissarin Celia Silva Rosa. Die Täter hätten ihren Opfern damit gedroht, ihnen die lokalen Drogenchefs auf den Hals zu hetzen, sollten sie nicht stillhalten.

Im Dezember hielt sich eine Polizeieinheit eine Woche lang im Complexo do Alemno auf, um Anzeigen entgegenzunehmen. "In den meisten Fällen handelte es sich um körperliche Misshandlungen und Drohungen gegenüber Frauen", erinnert sich Rosa. Inzwischen seien die Opfer mutiger geworden und forderten häufiger als zuvor ihre Rechte ein.


Als Hort der Straffreiheit verschrien

"Hier meinen viele Leute, dass sie sich alles erlauben können, und Gewalt wird häufig als gegeben hingenommen", erläutert Andrade, Leiterin der Gruppe 'Frauen für den Frieden'. So habe sich in der Favela der Eindruck verfestigt, dass es keinen Sinn mache, Straftaten zur Anzeige zu bringen.

Andrade hat eine 13-jährige Tochter, die während einer Polizeioperation 2007 gegen kriminelle Gangs im Armenviertel Schussverletzungen erlitt. Die Projektile drangen durch die Wand ihres Hauses und trafen das Mädchen. Bei dem Einsatz kamen nach Polizeiangaben 19 Männer ums Leben.

"Ich selbst bin ein Kriegsopfer, und meine Tochter wurde angeschossen. Das hat mich geprägt, sagt Andrade. Sie träumt davon, dass eines Tages die Anwesenheit der Armee nicht mehr erforderlich sein wird und die Menschen ihres Viertels in Frieden zusammenleben.

In Complexo do Alemno und anderen Armensiedlungen im Norden von Rio de Janeiro sorgen 1.700 Soldaten als Mitglieder der sogeannten Befriedungstruppe seit drei Monaten für Recht und Ordnung. Alle zwei Stunden patroullieren sie dort zu Fuß oder in Fahrzeugen durch die Straßen. Vorgesehen ist, dass sie bis Oktober bleiben und dann zivilen Polizeieinheiten Platz machen.

"Wir alle wissen, dass wir es hier mit einem erzwungenen Frieden zu tun haben", sagt Andrade. "Wir wünschen uns Frieden ohne die Polizeieinsätze. Doch das ist ein Traum, der sich hoffentlich eines Tages verwirklichen wird". Sie ist jedoch überzeugt, dass bei einem Rückzug der Streitkräfte die Gewalt zurückkehren würde.


Hoffen auf die nächsten Generationen

Andrade setzt ihre Hoffnung auf die neue Generation, die sie und die anderen Frauen für den Frieden mitgestalten. Sheila Andrade und ihre Kolleginnen Anatalia dos Santos und Elaine Moreno gelten in der Favela viel. Sie, die selbst Gewalt erlebt haben und die Probleme in den Slums aus eigener Erfahrung kennen, werden als Gemeindeführerinnen geschätzt und verehrt. Haben junge Menschen Probleme, sind sie zur Stelle.

Dos Santos ist eine von 150 Frauen, die an einem landesweiten Projekt für Bürgersicherheit mitwirken, das in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium umgesetzt wird. Ihre Aufgabe ist es, junge gefährdete Menschen im Alter von 15 bis 29 für ein Berufsausbildungsprogramm auszuwählen und zu begleiten.

Zuerst habe sie Angst gehabt, für einen Polizeispitzel gehalten zu werden. erinnert sich dos Santos, die seit 2008 an dem Sozialprojekt mitarbeitet. Doch inzwischen sei sie glücklich, dass sie Menschen helfen könne, sich ihrer Rechte bewusst zu werden und ihr Leben zu verändern.


Gewalt nicht das einzige Problem

40 Prozent aller in Rio de Janeiro begangenen Verbrechen konzentrieren sich auf den Complexo do Alemno. Das Ausmaß der Gewalt hat der Slumansiedlung sogar den Namen 'Gazastreifen Rio' eingebracht.

Doch neben der Gewalt gibt es noch viele andere Probleme, die den Menschen vor Ort zusetzen. Elaine Moreno lebt seit 20 Jahren in Fazendinha, einer Favela des Complexo do Alemno. "Hier fehlt es an Ärzten, und einen Termin im örtlichen Gesundheitszentrum zu bekommen, ist fast unmöglich", kritisiert sie. Auch sei es schwierig, an Informationen über Verhütungsmittel heranzukommen.

Doch auch sie ist stolz darauf, dass sie in der Lage ist, Menschen Auswege aus misslichen Lagen aufzuzeigen. Seit es in den Slums ruhiger zugeht, blieben Kinder von dem Anblick von Drogendealern verschont. "Jetzt leben sie in Sicherheit, und niemand wird sich wieder an das gewöhnen wollen, was sie hier vorher erlebt haben." (Ende/IPS/kb/2011)


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http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=97632

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2011