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LATEINAMERIKA/1181: Kuba - Zur Gültigkeit der Ideologie und des ideologischen Kampfes (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 43 vom 29. Oktober 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Kein Katechismus von Geboten
Eine Meinungsäußerung zur Gültigkeit der Ideologie und des ideologischen Kampfes

Von Darío Machado Rodríguez
Zusammenfassende Bearbeitung: Günter Pohl


Die Kubanische Revolution und ihre Ideologie zwischen Marx, Lenin und Martí wirft nicht nur vor dem Hintergrund der Beschlüsse der Regierung, nach denen sich eine halbe Million Menschen darauf einstellen müssen ihre bisherige Arbeit zu verlieren, Fragen auf.

Im Folgenden geht es um die Ideologie innerhalb der speziellen Bedürfnisse der kubanischen Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und ihrer Gegenwartsprobleme. Woher kommt der kubanische Sozialismus? Wie wird er sich entwickeln? Was ist die Rolle des Einzelnen?


Der kubanische Politikwissenschaftler Darío Machado Rodríguez hat in einem längeren Aufsatz auf "www.cubadebate.cu" (1) zur Frage der Ideologie der Kubanischen Revolution Stellung genommen. Er beschäftigt sich darin vor allem mit der Frage inwieweit die Theorie der Ideologie an die praktischen Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten der Menschen angebunden ist.

"Die Ideologie der Kubanischen Revolution ist martianisch (2), marxistisch und leninistisch und steht in der sozialistischen und kommunistischen Tradition des gesellschaftlichen Denkens. Dennoch ist es auch richtig, dass in der praktischen Politik der Kubanischen Revolution über Jahrzehnte davon ausgegangen wurde, dass unsere Ideologie der "Marxismus-Leninismus" ist, womit man sich durch diese Benennung mit den politisch-ideologischen Instituten der UdSSR und der sozialistischen Länder Osteuropas identifizierte." So beginnt Darío Machado und fährt fort: "Nicht immer wurde dem lebendigen Prozess der Ideen genügend Aufmerksamkeit gegeben, wenn es darum ging das Funktionieren der Ideologie in der kubanischen Gesellschaft zu begreifen." Das Scheitern des europäischen Sozialismus sei mehr als ein politisches ein ideologisches Scheitern gewesen, bei dem jahrzehntelange Erfahrungen, Wissen und Praxis bei den Anstrengungen des sozialistischen Aufbaus verloren gegangen seien. Für Kuba hatte das wirtschaftliche, aber - in geringerem Umfang - auch politische, psychologische und ideologische Folgen.

Darío Machado gehörte Anfang der neunziger Jahre einer Forschergruppe an, die die Meinungen im Volk studierte. Man kam zu dem Schluss, dass das Volk Kubas seinen revolutionären Prozess verteidigen wollte, und zwar aufgrund seiner im revolutionären Prozess erworbenen politischen Kultur. Daraus ergaben sich zwei Fragen: warum passierte auf Kuba nicht das Gleiche wie in der Sowjetunion, und wie sollte man der Entideologisierung beim Gesellschaftsverständnis entgegenwirken, was ja unweigerlich zu einer Schwächung des Sozialismus und der Unabhängigkeit führen würde? Fidel Castro habe darauf die Antwort des Widerstehens und Verteidigens der Errungenschaften orientiert, allen voran der politischen Ordnung als Grundlage alles Weiteren. "Patria o Muerte" (3) habe nationale Einheit und Verteidigung des revolutionären sozialistischen Prozesses bedeutet.

Alle revolutionären Ideologien sind Ideologien der Befreiung, betont Machado. In der kubanischen Geschichte der Unabhängigkeit sei es bei Félix Varela und später bei José Martí um die Ideale der Emanzipation, der Unabhängigkeit, der Gerechtigkeit und des Humanismus gegangen. Mit Martí kam der Antiimperialismus in die kubanische Ideenwelt, und die räumliche Nähe der USA ergab die Notwendigkeit einer sozialistischen Lösung - verbunden mit einem höheren Niveau von nationaler Einheit, deren Erfolg wiederum von der Verbindung von nationaler und sozialer Befreiung abhing. Martís Denken hatte damit "den Weg bereitet für die fortschrittlichsten Ideen des universalen gesellschaftlichen Denkens: den Marxismus und die Beiträge anderer Marxisten, besonders Lenins", so Darío Machado. Dennoch sei der Weg schwierig gewesen, weil auch in der kubanischen Gesellschaft zunächst die Ursache der Probleme nicht im kapitalistischen Dependenzsystem gesehen worden seien - wenn auch die Widersprüche, die im gesellschaftlichen Sein und im gesellschaftlichen Bewusstsein vorherrschend waren, geradezu die notwendige Basis für sein Verständnis waren.

"Der Sieg der Revolution am 1. Januar 1959 schuf dann die Voraussetzungen für die Verbindung von Marxismus und Leninismus mit der revolutionären kubanischen Ideologie als ein kulturelles und historisches Produkt, das heute mit dem Denken und dem Werk Fidel Castros seine zweite große Synthese hat. Die Praxis bereichert die Ideologie", so Machado, wozu ein Bewusstsein über gesellschaftliche Bedürfnisse und die Handlungen der Personen gehöre: "Weil die Ideologie ein historisch-kulturelles Phänomen ist, ist sie auch Objekt von speziellen Systematisierungen, die gleichzeitig von dem Umständen beeinflusst werden, so wie sie auch selbst diese Umstände beeinflussen." Da die Ideologie der Kubanischen Revolution ein lebendiges gesellschaftliches Phänomen sei, drücke sie sich auf verschiedenste Weisen nicht nur in der Politik, sondern auch im Erziehungswesen, in den Medien, der Kultur, den Gesetzen, der Produktion und besonders auch in den revolutionären Werten aus, die von den Menschen geteilt werden. Deshalb, schlussfolgert Genosse Machado, gibt sie auch Antworten auf die Interessen der Mehrheit, wie Freiheit, Souveränität und Unabhängigkeit. Sie sei letztlich Ausdruck der historischen Erfahrung der kubanischen Nation in ihrem revolutionären Freiheitskampf.

"Der Aufbau des Sozialismus verlangt einen integralen Blick auf die Gesellschaft, nicht nur auf die Erziehung oder auf die juristischen und normativen Aspekte oder die wirtschaftlichen Fragen oder die Ideologie; ebenso wenig dürfen einige Aspekte zurückbleiben und für später aufgehoben werden." Zwar können Einzelaspekte für einen definierten Zeitraum zurückgestellt werden, aber wenn keine systemische Konzeption für einen "sozialistischen sozio-ökonomischen Stoffwechsel" erreicht wird, dann werde sich langfristig das Beharrungsvermögen des Kapitalismus durchsetzen. Hier haben Theorie und Ideologie ihre Rolle. "Deshalb ist die Verbindung von sozioökonomischen, organisatorischen, juristisch-normativen und politisch-ideologischen Aktivitäten fundamental", sagt Darío Machado. Das Gesellschaftsprojekt soll seine ideologischen Potenzen mit konkreten Aktionen verbinden, die wiederum auf ein Funktionieren der Wirtschaft, die Gesetzgebung, die Organisation des gesellschaftlichen Lebens und auf den konkreten Menschen abzielen soll, mit seiner Psyche, seinen realen Bedürfnissen und seinen normalen Reaktionen: "Der Prozess der Schaffung des neuen Menschen, als strategischer Endpunkt des kommunistischen Ideals, kann in keiner Weise davon ausgehen, dass er schon existiert, und die Schritte zu seiner Verwirklichung werden nur graduell vorangehen."

Die kubanische Gesellschaft hat wichtige Erfahrungen bei der Suche nach einem eigenständigen Gesellschaftsmodell gemacht und war dabei im sozialen und politischen Bereich erfolgreicher als im wirtschaftlichen. Darío Machado stellt in dem Artikel klar, dass es einerseits natürlich keine Rezepte für Sozialismus gibt, weil dieser Weg neu ist, und andererseits Kuba immer wirtschaftlichem, finanziellem, technologischem, politischem und militärischem Druck ausgesetzt war - als unterentwickeltes Land und mit den Defiziten, die das politische Subjekt naturgemäß habe. Dabei sei Kuba ab 1959 vor der Aufgabe gewesen, die revolutionäre Macht gegen imperialistische Aggression und interne Konterrevolution zu verteidigen und zu konsolidieren, und das zunächst mit zwei nebeneinander existierenden Wirtschaftssystemen. Als dann die interne Konterrevolution besiegt war, beschritt man den Weg der "revolutionären Offensive", bei der die Reste des Privatbesitzes beseitigt und das erste große sozio-ökonomische Projekt, der Anstieg der Zuckerproduktion, begonnen wurde. In jener Phase wurde der Privatbesitz der Kleinproduzenten eliminiert, mit dem Ziel die ökonomische Basis der bürgerlichen Ideologie des Dependenzkapitalismus zu beseitigen; alle Bürger/innen wurden zu kollektiven Besitzern der Produktionsmittel, und mit wenigen Ausnahmen wurden alle Arbeiter/innen in sozialistische Eigentumsformen einbezogen. "Das war ein wichtiger Schritt für die Entwicklung des revolutionären Bewusstseins, aber die Kosten waren in verschiedener Hinsicht groß, speziell wegen des Bruchs mit einer Produktionstradition, einer Wirtschaftskultur, von der sich die kubanische Gesellschaft noch nicht erholt hat." Es folgte die Bekämpfung der Bürokratie, und man ging zu einer kontrollierten Wirtschaftsweise und der Buchführung einer materiellen Ökonomie über, "bei der das Gefühl für die Kosten verlorenging", schreibt Darío Machado.

Es folgte die aktive Teilhabe der kubanischen Gesellschaft an den Aufgaben der Revolution (Machado führt exemplarisch die Zuckerernte an) und es entstand ein Gefühl für Kollektivität, aber ein wirtschaftlich-sozialistisches Bewusstsein entstand dennoch nicht: "Mit dem Verlust des Wertes der Arbeit ging auch der materielle Gehalt der Arbeit verloren." Nach dem Scheitern an den Zielzahlen der Zuckerrohrernte wurde Planwirtschaft eingeführt (1975-1985), aber nach erstem wirtschaftlichem Wachstum nahmen Fehler überhand, und inmitten der Fehlerregulierung kam die Sonderperiode nach dem Verschwinden der sozialistischen Partnerstaaten. In Ansätzen erfolgreich war in der Sonderperiode die Perfektionierung der Unternehmen, aber sie war zu langsam angesichts der Menge an Problemen. Wie in anderen Gesellschaften auch, agierten auch auf Kuba die Gesetze des nackten Überlebens: "Formen illegaler Verteilung des Sozialprodukts halfen zwar beim sozialen Gleichgewicht, schufen aber Gewohnheiten, die dem sozialistischen Ideal entgegenstanden." Warum ging es nicht besser? Machado: "Wir haben noch immer keine politische Ökonomie im kubanischen Sozialismus, die die sozioökonomischen, organisatorischen, juristisch-normativen und ideologisch-politischen Aktivitäten miteinander verbindet."

Die heutige kubanische Gesellschaft hat ein Bewusstsein der Probleme der Menschheit und gleichzeitig bleibt sie auch mehrheitlich beim sozialistischen Ideal. Gleichwohl sieht Genosse Machado keine Notwendigkeiten für "Losungspolitik" oder die Aufdrängung von Kriterien, die sich alle selbst erarbeiten könnten. Auch gibt es nicht mehr einen Sinn für das Kollektive allein, sondern bei einer Tätigkeit wird auch nach dem Eigennutzen gefragt: wo ist das Äquivalent für eine Arbeit? Machado sieht hier das Wirken von Jahrtausende alten Handelsgewohnheiten der Menschheit. Also müsse der politische Diskurs das berücksichtigen, sonst baue er sich selbst ein Hindernis hinsichtlich seiner Erfolgsaussichten. "Der Mensch befreit sich von Konflikten innerhalb seines Alltags, wenn er ein Bewusstsein über die Lösung der Probleme hat; und nicht weil man ihm sagt 'alles wird gut', sondern weil er genügend Information und Überzeugung für den Weg hat und sich aktiv und bewusst in die Lösungssuche einschaltet." Dabei sei die politische Kultur der Überzeugungen die Garantie für eine antikapitalistische Reaktion auf die Herausforderungen. Die Ideologie wirkt dabei als Filter für Unnützes und Abwegiges, wie sie die Informationsgesellschaft heute hervorbringt.

Für die nahe Zukunft sieht Darío Machado Kuba auf eine Mischwirtschaft zugehen, mit Schwerpunkt auf dem sozialistischen Eigentum, aber einem stärker gewordenen Anteil privater Verhältnisse. Dazu ist es erforderlich die Normen anzupassen und dem Markt und dem Privatbesitz strukturelle Grenzen zu setzen. Wirtschaftliche Effizienz sei nur unter Berücksichtigung der Tauschwertpsychologie zu schaffen, wobei nur die Beibehaltung des Sozialismus die Unterordnung der Handelsbeziehungen unter den Willen der Gesellschaft garantieren kann. Aktuell bedeute das, dass "mit der Eliminierung ungerechtfertigter Kostenfreiheit auch die ungerechtfertigt bezahlte Arbeit verschwindet". Das sozialistische Prinzip, Arbeit nach Leistung zu bezahlen, brauche eine juristische Entsprechung in einer Begrenzung des Privatbesitzes. Als generelle Regel solle gelten: was aus ehrlicher Arbeit kommt, ist statthaft, ethisch und sozialistisch. Aber auch für den Schritt hin zu einer sozialistischen Lösung der kulturellen Transformation ist das nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft: nichts ersetze den Einfluss von Bildung und Kultur und die Schaffung einer reichhaltigen Subjektivität. Machado: "Die Ideologie der Kubanischen Revolution hat eine unabdingliche Rolle beim wirtschaftlichen Aufbau und bei der nie aus dem Auge zu verlierenden Frage, dass es nicht reicht sozialistisch zu produzieren, sondern auch sozialistisch zu leben. (...) Dazu gehört es, eine patriotische, internationalistische und antiimperialistische Erziehung und eine kritische Haltung gegenüber dem Konsumismus des Spätkapitalismus zu vermitteln." Die Ideologie darf nie ein Katechismus von Geboten sein; die Reinheit der Ideologie liegt in der dialektischen Verbindung mit den Bürgerinnen und Bürgern, deren Interessen sie dient und aus deren praktischer Erfahrung sie sich nährt. Zu oft seien kritische, die Gesellschaft scharf beobachtende Geister mit dem Verdikt "ideologischer Probleme" belegt worden. Darío Machado beschließt seinen Aufsatz mit den Worten: "das Wechselspiel von Ideologie und ideologischer Aktivität der sozialistischen Revolution mit den anderen Tätigkeiten und dem Bewusstsein und dem Alltagsleben der Menschen ist unabdingbare Voraussetzung für ihre Wirksamkeit. Gibt es dieses Zusammenspiel nicht, fällt die ideologische Aktivität in den Formalismus und die Ohnmacht zurück, wenn sie nicht sogar zu einer Bremse bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme wird."


Anmerkungen:

(1) "Eine Meinungsäußerung zur Gültigkeit der Ideologie und des ideologischen Kampfs", 8. Juli 2010 auf
www.cubadebate.cu/opinion/2010/07/08/una-opinion-sobre-la-vigencia-de-la-ideologia-y-de-la-lucha-ideologica

(2) Nach dem Vorkämpfer der Unabhängigkeitsbewegung José Martí (1853-95)

(3) Vaterland oder Tod


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 43,
29. Oktober 2010, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2010