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LATEINAMERIKA/1110: Kolumbien - Brisante Leichenfunde, Armee des Mordes an Zivilisten verdächtigt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. August 2010

Kolumbien: Brisante Leichenfunde - Armee des Mordes an Zivilisten verdächtigt

Von Constanza Vieira

Holzkreuze auf dem Friedhof von La Macarena - Bild: Constanza Vieira/IPS

Holzkreuze auf dem Friedhof von La Macarena
Bild: Constanza Vieira/IPS
La Macarena, Kolumbien, 6. August (IPS) - Offizielle Untersuchungen auf einem ehemals geheimen Friedhof im Zentrum Kolumbiens haben die Debatte über Menschenrechtsverbrechen in dem Land neu entfacht. Das Militär hat in der Ortschaft La Macarena seit dem Jahr 2004 offenbar bis zu 2.000 Leichen verscharrt, die größtenteils noch nicht identifiziert sind.

Menschenrechtler haben mittlerweile konkrete Hinweise darauf, dass es sich bei einigen Opfern um Zivilpersonen handelt, die von Soldaten erschossen wurden. Allein in La Macarena und den umliegenden Gemeinden wurden in den vergangenen Jahren 79 Zivilisten als vermisst gemeldet. Das Heer behauptet dagegen, mehr als 500 im Kampf getötete Guerilleros in dem Ort begraben zu haben.

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Kolumbien 1964 sind nach inoffiziellen Schätzungen mindestens 25.000 Menschen verschleppt und ermordet worden. Alle bisher bekannt gewordenen Massengräber und illegalen Friedhöfe in dem südamerikanischen Land wurden mit rechten Paramilitärs in Verbindung gebracht.

Nachdem der konservative Präsident Alvaro Uribe geständigen Milizionären Strafmilderungen zugesichert hatte, konnte die Staatsanwaltschaft aufgrund von Angaben der Kämpfer die sterblichen Überreste von etwa 3.300 'Verschwundenen' identifizieren.

Die Paramilitärs, die wie die Armee gegen die Guerilla kämpften, hatten 2003 vergeblich versucht, die Kontrolle über La Macarena in der gleichnamigen Gebirgsregion zu übernehmen. Ein Milizverband, der unter Polizeischutz in den Ort vordringen wollte, wurde von mit Flinten und Stöcken bewaffneten Einwohnern vertrieben.


Zeitung machte Existenz von Geheimfriedhof publik

Umso größer war der Schock für die kolumbianische Öffentlichkeit, als auf einer rund 10.000 Quadratmeter großen Fläche am Rande des Gemeindefriedhofs von La Macarena die Gebeine zahlreicher weiterer Menschen entdeckt wurden. In unmittelbarer Nähe befindet sich eine Militärbasis. Die regionale Wochenzeitung 'Llano 7 Días' hatte die Existenz der Gräber am Rande des Friedhofs bereits vor einem Jahr enthüllt. Zunächst ging aber niemand den Hinweisen nach.

Anwohner hatten sich schon im Juni 2008 darüber beschwert, dass sich in zwei Brunnen faulig stinkendes Wasser befand. Sie fanden heraus, dass dies mit dem nahe gelegenen Friedhof zusammenhing. "Das waren die ersten Anzeichen", sagte der Strafrechtler Ramiro Orjuela im Gespräch mit IPS.

Absperrungen am Friedhof von La Macarena - Bild: Constanza Vieira/IPS

Absperrungen am Friedhof von La Macarena
Bild: Constanza Vieira/IPS
Doch erst Ende Juli dieses Jahres sperrten die Behörden einen Teil des Geländes ab und ließen die sterblichen Überreste durch Gerichtsmediziner untersuchen. Bauern aus umliegenden Gemeinden kamen daraufhin zu einer Sondersitzung des Senats nach La Macarena. Auch eine internationale Gewerkschaftsdelegation, Europaabgeordnete und Parlamentarier aus mehreren EU-Ländern waren anwesend.

Über die genaue Zahl der Opfer besteht allerdings nach wie vor Unklarheit. Die Generalstaatsanwaltschaft informierte Orjuela darüber, dass bis Mitte Juli 449 Leichen gefunden wurden, die allesamt von Soldaten dorthin transportiert worden waren. In einem bisher nicht veröffentlichten Bericht sprechen Sonderermittler jedoch von insgesamt 2000 Toten in La Macarena.

Wie der Anwalt weiter in Erfahrung brachte, hatte die Armee die Leichen mit Hubschraubern dorthin gebracht und heimlich begraben lassen. Der Ort war zeitweise Teil einer entmilitarisierten Zone, wo der von 1998 bis 2002 regierende Staatschef Andres Pastrana letztlich erfolglose Friedensgespräche mit der Guerillabewegung FARC führte.


Leichen in schwarzen Säcken herbeigeschafft

Nach dem Scheitern der Verhandlungen rückte das Militär wieder in das Gebiet ein. Seitdem konnten die Bewohner von La Macarena täglich beobachten, wie Soldaten Leichen angeblicher Rebellen in schwarzen Säcken zu dem Friedhof brachten. Auf einem Teil des Geländes reihen sich Hunderte anonyme Holzkreuze aneinander, sie tragen alle die Aufschrift 'N.N.'. Die Todesdaten sind dagegen präzise vermerkt, sie reichen von 2004 bis 2010.

Die Einwohner des Ortes schwiegen darüber. "Sie haben alles gewusst", erklärte der Anwalt, der die Behörden aufforderte, die Vorfälle gründlich aufzuklären. Die Aussagen der Zeugen in La Macarena seien dafür ausschlaggebend, erklärte er. Viele Menschen hätten allerdings Angst davor, ihre Beobachtungen öffentlich zu bestätigen.

Ein Vertreter der katholischen Kirche führt das Schweigen nicht zuletzt darauf zurück, dass die Staatsanwälte in der Gegend in der Regel Armeereservisten oder ehemalige Offiziere seien. Wie die Polizei hörten auch sie nach wie vor auf den Militärkommandeur. (Ende/IPS/ck/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2010