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LATEINAMERIKA/1067: Nicaragua - Armutsbekämpfung vs. Demokratieförderung? (Presente)


presente - Bulletin der Christlichen Initiative Romero 3/2009


Armutsbekämpfung vs. Demokratieförderung?

Von Thomas Krämer-Broscheit (CIR)

Arbeitslosigkeit und Hunger verschärfen sich in Nicaragua. Doch während in Deutschland Konjunkturprogramme aufgelegt werden, um den negativen Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise zu begegnen, müssen in Nicaragua schon zum dritten Mal in diesem Jahr Haushaltskürzungen vorgenommen werden. Der Grund sind Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie Streichungen zugesagter Hilfsleistungen.


Wirtschaftskrise? Die haben wir doch schon seit Jahrzehnten!" Antworten wie diese habe ich im Juli und August häufig auf meiner Reise in Nicaragua gehört, wenn ich die Menschen nach den Auswirkungen der weltweiten Krise auf das Land befragte. Tatsächlich wird mit Nicaragua ein Land getroffen, das "sehr verletzlich" ist, wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen in einer aktuellen Studie beschreibt. Bereits bislang mussten 47 Prozent der NicaraguanerInnen von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben. Viele sind von chronischem Hunger betroffen. Laut der im Juli veröffentlichten Studie wird sich deren Zahl als direkte Folge der Finanzkrise in diesem Jahr erhöhen. Besonders betroffen sind laut der Studie ungelernte ArbeiterInnen in den Städten, zudem Familien, die von den Rücküberweisungen der Angehörigen im Ausland abhängen, und Entlassene aus den Exportindustrien. "Die Hauptbetroffenen sind nicht notwendigerweise die Ärmsten der Armen, sondern eine neue Gruppe von Personen, die in Armut fallen", schreibt das Welternährungsprogramm.

Sandra Ramos von unserer Partnerorganisation MEC in Managua erläutert mir, wie es in Nicaraguas wichtigstem Industriezweig, dem Bekleidungsexport der sogenannten Maquilas, aussieht: "Die Beschäftigtenzahlen sind seit Anfang letzten Jahres von knapp 90.000 auf zirka 63.000 Personen gefallen", rechnet sie vor. "80 Prozent davon sind Frauen, 70 Prozent von ihnen alleinerziehende Haushaltsvorstände. Nicht nur diese Frauen, sondern im Durchschnitt auch noch zwei Kinder sind von Armut und Hunger betroffen. Denn gerade jetzt in der Krise gibt es kaum Einkommensalternativen für sie." Besonders die starke wirtschaftliche Abhängigkeit Nicaraguas von den USA macht das Land laut dem UN-Welternährungsprogramm so verletzlich. In diesem Jahr wird ein negatives Wirtschaftswachstum von minus eins bis minus zwei Prozent erwartet. Ein Wachstum von jährlich mindestens 4,5 Prozent wäre notwendig, um die Millenniumsziele zu erreichen, kalkulieren UN-Experten.

Das Welternährungsprogramm fordert als Reaktion auf die drohende Ausweitung des Hungers eine Steigerung der Sozialausgaben, insbesondere im Bereich der Ernährungssicherung für Frauen oder Kinder, wie zum Beispiel Schulspeisungen. Die internationale Gemeinschaft wird zur Unterstützung für die betroffenen Länder aufgerufen.


Sozialkürzungen

Doch wie reagiert die Regierung Daniel Ortega? Mit wiederholten, massiven Haushaltskürzungen, insbesondere für Sozialprogramme, Gesundheit und Erziehung. Derzeit wird die dritte Kürzung in diesem Jahr über weitere vier Prozent vorbereitet. Die nicaraguanische Regierung sieht sich durch Anforderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) dazu gezwungen, durch massive Streichungen bereits fest zugesagter Hilfsleistungen der USA, der EU - und Deutschlands. Mit dem IWF laufen derzeit Verhandlungen über die Auszahlung von 70 Millionen US-Dollar, die zudem Voraussetzung für zahlreiche weitere Kredite und Schenkungen anderer Geber sind. Der IWF-Forderung nach Haushaltskürzungen ist die Ortega-Regierung bereits nachgekommen, doch der Währungsfonds will mehr: eine Streichung der automatischen Inflationsanpassung der Sozialrenten, auch eine Streichung der Steuervergünstigungen für Medien, Kirchen und ausländische Nichtregierungsorganisationen. Selbst eine Regierungsdelegation nach Washington, begleitet von hochrangigen nicaraguanischen Wirtschaftsvertretern und mit dem superreichen Carlos Pellas an der Spitze, konnte den IWF bislang nicht zur Freigabe des Geldes bewegen.

Der Grund für die Haushaltskürzungen ist weniger die Wirtschaftskrise als vielmehr die massive Kürzung ausländischer Hilfsleistungen, verhängt nach Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen im November vergangenen Jahres und zunehmend undemokratischen Praktiken der Regierung Ortega. Während die USA 65 Millionen US-Dollar aus ihrem Millenniums-Fonds zunächst einfroren und dann im Juni endgültig strichen, verhandelt die nicaraguanische Regierung noch mit der Europäischen Union über die Auszahlung von 60 Millionen US-Dollar, die als direkte Budgethilfe vereinbart waren. Über dieses Geld hätte die Regierung frei verfügen können. Die EU fordert nun spürbare Verbesserungen bei der Demokratisierung des Landes, unter anderem Garantien für saubere Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren. Ortega hat mittlerweile Entgegenkommen signalisiert. Wahlbeobachter der Europäischen Union sollen zugelassen werden.


Regierung in der Sackgasse

Noch weiter als die EU ging derweil die deutsche Bundesregierung. Sie strich nicht nur ihren Anteil an der Budgethilfe, sondern auch den größten Teil der projektgebundenen, finanziellen Zusammenarbeit. Obgleich ihre Entwicklungshilfepolitik offiziell an Armutsbekämpfung und den UN-Millenniumszielen ausgerichtet ist, fährt sie im Falle Nicaraguas einen konträren, politisch motivierten Kurs. Nicaragua hat unter der Regierung Ortega unbestreitbar mehr Anstrengungen zur Armutsbekämpfung unternommen als alle Vorgängerregierungen und Nachbarländer. Dennoch werden Hilfsgelder gestrichen, die gerade jetzt in Zeiten der Krise wichtig gewesen wären.

Bei einer Sitzung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages, zu der ich im März eingeladen wurde, um über die Einschätzung der Christlichen Initiative Romero zu Nicaragua zu sprechen, wurde deutlich, in welche Sackgasse sich die Bundesregierung manövriert hat. Zwar teilte ich die vorgetragene Einschätzung des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über die massiven Demokratiedefizite im Land. Doch bei den daraus zu ziehenden Konsequenzen gingen die Meinungen weit auseinander. Die Streichung der Budgethilfe wäre als politisches Signal noch sinnvoll gewesen, hätte jedoch über eine Erhöhung der projektgebundenen Hilfe kompensiert werden müssen - statt auch diese noch zu streichen. Alle Parteien von der Linken über Grüne und SPD bis hin zur CDU unterstützten meine Argumentation, dass die berechtigten und notwendigen Versuche der Bundesregierung, Ortega zur Respektierung demokratischer Spielregeln zu drängen, nicht auf Kosten der Armen und der Entwicklung des Landes gehen dürfen. Nachdem sich das BMZ auf die Linie "Hilfe nur bei Demokratiefortschritt" festgelegt hat, kommt die Bundesregierung nun kaum aus ihrer selbst gewählten Sackgasse heraus. Von der Regierung Ortega sind derzeit keine positiven demokratischen Entwicklungen zu erwarten, doch Arbeitslosigkeit und Hunger im Land steigen...


Recht und Überlebenssicherung

Bei Fabrikschließungen und Entlassungen stehen den ArbeiterInnen der Maquila-Nähfabriken Entschädigungszahlungen zu - ein gesetzlich vorgeschriebener Ersatz für die in Nicaragua fehlende Arbeitslosenversicherung. Viele Fabrikbesitzer versuchen sich jedoch mit juristischen Tricks um die Zahlung dieser Gelder zu drücken. Die Frauenorganisation Maria Elena Cuadra (MEC) unterstützt die NäherInnen. Sie werden in Schulungen über ihre Rechte informiert und erhalten juristischen Beistand. Doch oft noch wichtiger: Das MEC setzt Fabrikbesitzer und Arbeitsministerium unter Druck, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Meist mit Erfolg. Bitte unterstützen das MEC und verhelfen Sie den Betroffenen damit zu ihrem Recht - und einem Stück Überlebenssicherung.


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Quelle:
Presente 3/09, September 2009, Seite 9-11
Herausgeberin: Christliche Initiative Romero e.V. (CIR)
Frauenstraße 3-7, 48143 Münster
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Telefax: 0251/82 541
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2009