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FRAGEN/048: Brasilien - Arbeitsmarktreformen haben negative Auswirkungen auf das Bildungsniveau (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien
Gewerkschafter: Arbeitsmarktreformen haben negative Auswirkungen auf das Bildungsniveau

Von Andreas Martínez


(Montevideo, 22. November 2017, la diaria) - Nach Ansicht von Rafael Freire, Sekretär für Wirtschaftspolitik und Fragen nachhaltiger Entwicklung des Arbeitergewerkschaftbunds der Amerikas CSA (Confederación Sindical de Trabajadores de las Américas) ist die Regierung Michel Temer Teil einer neoliberalen konservativen Welle, die derzeit nicht nur das Arbeitsrecht, sondern alle Bereiche der Sozialpolitik erfasst hat. Bei seinem Besuch in Montevideo anlässlich der Konferenz für Demokratie und gegen den Neoliberalismus erklärte Freire das uruguayische Modell für verteidigungswürdig und bezeichnete die Entwicklung des Landes als "Vorbild für die gesamte Region".

Was denken Sie über die Mitte November in Kraft getretene Arbeitsmarktreform?

Rafael Freire: Die Reform gefährdet Rechte, die seit vielen Jahren bestanden haben und beschwört in einigen Bereichen sogar eine Situation herauf, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts bestand; dazu kommen weitere Effekte, die von der Regierung offensichtlich gewünscht waren, zum Beispiel wird die Bekämpfung der Sklavenarbeit geschwächt, während Outsourcing in allen Arbeitsbereichen immer umfassender legitimiert wird. Die zukünftigen Generationen werden die heute noch bestehende Rechtssicherheit gar nicht mehr kennenlernen, sondern in einer viel größeren Ungewissheit leben, da die Arbeitsmarktreform auch eine Reduzierung der [vom Arbeitgeber zu entrichtenden] Sozialversicherungsbeiträge umfasst.

Weshalb werden die Sozialversicherungsbeiträge reduziert?

Rafael Freire: Durch die neuen Arbeitsverträge, zum Beispiel im Bereich der Zeitarbeit, wo Arbeitnehmer*innen nur für eine festgelegte Stundenzahl unter Vertrag genommen werden, ohne dass eine Anstellung folgt, sowie durch Outsourcing bestimmter Arbeitsbereiche. Dieses Vorgehen bedeutet einen dreifachen Angriff auf die Sozialversicherung: Es trifft die Rentner*innen ebenso wie Menschen, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, sowie junge Menschen, die gerade in den Arbeitsmarkt eintreten.

Wie kann es denn die Renter*innen treffen, ohne dass die Sozialversicherungsreform angenommen worden ist?

Rafael Freire: Durch eine andere Reform, die die Renten vom Mindestlohn abkoppelt. Während Letzterer inflationsbedingt ansteigen kann, gilt das für die Renten nicht; das heißt, dass die Rentner*innen in wenigen Jahren nur noch sehr geringe Einkünfte haben werden.

Wie bewertet der CSA die Reform?

Rafael Freire: Der CSA hat das Problem, dass die Auswirkungen der Reformen nicht an den Ländergrenzen haltmachen. Im Moment haben wir es mit einer Welle von Arbeitsmarktreformen in mehreren Ländern zu tun: In Argentinien haben Verhandlungen bereits begonnen; in anderen Ländern gab es bereits Reformen in zurückhaltenderem Ausmaß. Doch allein die Größe Brasiliens mit seiner beachtlichen Zahl an niedergelassenen Unternehmen und seinem gigantischen Arbeitsmarkt erzeugt unmittelbar Druck auf die anderen Länder.

So habe ich zum Beispiel argentinische Unternehmer*innen sagen hören, wenn in Brasilien das Lohnniveau sinke, müsse es in Argentinien ebenfalls gesenkt werden. Die Reform schadet also nicht nur dem eigenen Land, sondern hat auch ganz direkte Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. In Argentinien wird bereits an einer weiteren Reform gearbeitet. Die Frage ist, wie es um die innere Situation und die Stärke der Demokratie in dem jeweiligen Land bestellt ist. Davon hängt letztendlich ab, ob es zu solch einer Rückwärtsentwicklung kommt wie derzeit in Brasilien.

Das heißt, am stärksten spürt man die Auswirkungen der Arbeitsmarktreform in den Ländern des Mercosur.

Rafael Freire: Genau, besonders, weil sie auch einigen wichtigen Aspekten der Erklärung über Sozial- und Arbeitsrechte (DSL) des Mercosur widerspricht. Das Perverse an dieser brasilianischen Reform ist, dass sie über eine Bedeutung innerhalb des eigenen Landes hinausgeht und Druck auf die Lebensrealität in den verschiedenen Nachbarländern ausübt. Aber die unmittelbaren Auswirkungen auf die Mercosur-Länder nicht noch nicht alles. Diese Reform ist Teil einer neoliberalistischen Welle, die die gesamte Welt betrifft, aber ganz besonders unsere Region. Ein wesentliches Kriterium dieser Entwicklung ist, dass sie sich von der Demokratie abkoppelt: Nicht ein Regierungsmitglied in Brasilien wäre gewählt werden worden, wenn er oder sie öffentlich das propagiert hätte, was Temer nun getan hat.

Selbst in Argentinien hat die Bevölkerung zwar Mauricio Macri gewählt, aber der sprach während seiner Kampagne nicht von der Arbeitsmarktreform. Was die neoliberale Offensive ebenfalls kennzeichnet, ist der permanente Angriff gegen bestehende Rechte: von Frauen, LGBTIs, Migrant*innen, POCs - von jeder Art von Minderheiten. Ein weiteres Kennzeichen ist der zunehmende Hass innerhalb unserer Gesellschaft, der außerdem ständig geschürt wird. Vor ein paar Tagen ging eine Frau Arm in Arm mit ihrer Tochter durch ein Shoppingcenter in Rio de Janeiro. Die beiden wurden heftig angegriffen, weil die Leute dachten, sie seien ein lesbisches Paar. In Brasilia passierte einem Vater mit seinem Sohn genau das Gleiche.

Die Confederación General del Trabajo und die zwei Ableger der Central de Trabajadores de Argentina gehören zum CSA. Was wissen Sie über die Arbeitsmarktreform in Argentinien?

Rafael Freire: Wir wissen, dass der Diskussions- und Verhandlungsprozess gerade läuft und dass es Parallelen zur brasilianischen Reform gibt, aber dass sie nicht so heftig ist. Wir wissen zum Beispiel, dass die betriebsintern getroffenen Vereinbarungen vor den gesetzlich garantierten Rechten Vorrang haben und dass sie eine empfindliche Verschlechterung der allgemeinen Arbeitsbedingungen ermöglicht.

Das Arbeitsrecht und die Gewerkschaften sind die Mittel, die den Arbeiter*innen zur Verfügung stehen, um ihrer Forderung nach Respekt gegenüber ihren Rechten Nachdruck zu verleihen. Sowohl in Argentinien als auch in Brasilien wird versucht, diese Mittel zu schwächen.

Rafael Freire: Die Bedrohung kommt von überall her, nicht nur aus bestimmten Richtungen oder von bestimmten Bereichen ausgehend. Wo es eine starke Arbeitsgerichtsbarkeit gibt, das die Arbeiter*innen schützt, kann man dem Arbeitsrecht nichts anhaben. Dafür muss man auch die Arbeitsgerichtsbarkeit angreifen. Das ist es, was sie im Moment machen.

Laut der brasilianischen Arbeitsmarktreform ist es untersagt, sich an das Gericht zu wenden, wenn zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Vertrag mit den Unterschriften beider Parteien geschlossen wurde. Das ist ein sehr heftiger Angriff auf die Justiz. Einigungsversuche stehen damit unter hohem Druck.

Beispielsweise würde eine Frau, die Kinder hat und Familienoberhaupt ist, einer Einigung zustimmen, laut der sie eine Abfindung von 10.000 Pesos statt 100.000 Pesos erhalten würde, weil ihr diese geringere Summe wenigstens sicher ist und sie nicht auf das Urteil des Gerichts warten kann, was unter Umständen Jahre dauert, weil sie das Geld sofort braucht. In diesem Fall stellt die Reform auch einen Angriff auf die Justiz dar.

Interessanterweise sieht die französische Arbeitsmarktreform dieselben Bestimmungen vor. Da gibt es immer noch ein paar Steine auf dem Weg, den sich die neoliberale Offensive bahnt, und das sind die Gewerkschaften, deshalb gehen sie so massiv gegen sie vor.

Wie sieht das genau aus?

Rafael Freire: Hier gehen die Angriffe in zwei oder drei verschiedene Richtungen: Eine ist, die Gewerkschaften in der Presse schlechtzumachen. Damit wird unter Umständen aus einem kleinen Problem ein Riesending. Die zweite Methode ist die Kriminalisierung der gewerkschaftlichen Aktivitäten, Anzeigen gegen Gewerkschafter*innen und Gewerkschaften. Das dritte ist der wirtschaftliche Angriff, sei es über die Mitgliederliste oder über die Beiträge der Mitglieder. Die Arbeiter*innen sind jeder Art von Ausbeutung ausgesetzt.

Wie sieht es hinsichtlich der Arbeitsmarktreformen im übrigen Lateinamerika aus?

Rafael Freire: Da muss man die verschiedenen Lebensrealitäten jeweils für sich betrachten. Ganz unten im Süden ist das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und gewerkschaftlicher Organisierung beispielsweise viel besser als in Mittelamerika. Dann kommt es auch noch auf die Situation im jeweiligen Land an. Die Gesetzgebung in Chile ist zum Beispiel sehr auf den Schutz des Kapitals ausgerichtet. In El Salvador lässt das Arbeitsrecht sehr zu wünschen übrig, und wie in anderen Ländern Mittelamerikas stehen Sweatshops im Zentrum der industriellen Fertigung, und die Arbeitsbedingungen sind ziemlich mies.

Dazu kommen noch andere Schwierigkeiten. In Guatemala sind nur zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung gewerkschaftlich organisiert ... Wir befinden uns also in einem Zustand der ständigen Bedrohung und machen ziemliche Rückschritte. Die Kernfrage ist, wie wir uns in Uruguay verteidigen, denn von allen Ländern ist Uruguay das Land, wo wir die meisten Rechte haben, und hier gibt es auch einen Arbeitgeberverband, der gern weniger Verhandlungen führen und die Arbeitsgesetzgebung abbauen würde. Innerhalb unserer Region hat das uruguayische Konzept Modellcharakter und muss unbedingt verteidigt werden.

Was gibt es noch für Probleme in Lateinamerika, mit denen die Arbeiter*innen sich auseinandersetzen müssen?

Rafael Freire: Alle Impulse in Richtung eines Minimalstaates sowie Tendenzen zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen haben zur Folge, dass soziale und politische Fürsorge an Boden verlieren, und wer am Ende darunter zu leiden hat, sind die Arbeiter*innen. In Brasilien wurde zum Beispiel ein Gesetz verabschiedet, das besagt, dass in den nächsten 20 Jahren die öffentlichen Investitionen eingefroren werden [und damit unterhalb der Inflationsrate bleiben werden]. Damit fallen die staatlichen Unterstützungsleistungen immer geringfügiger aus, während die Bevölkerung kontinuierlich wächst.

Das bekommt vor allem die Arbeiterklasse zu spüren: Sie frequentieren vorrangig öffentliche Einrichtungen, insbesondere Schulen, deren Qualität immer weiter sinkt; das heißt, das Bildungsniveau der zukünftigen Generationen nimmt kontinuierlich ab, wodurch sie einer immer umfangreicheren Ausbeutung ausgesetzt sind. Die neoliberale konservative Welle hat nicht nur Auswirkungen auf den Bereich Arbeit sondern auf den gesamten Bereich der Sozialpolitik. Dazu ein Beispiel: Die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze ist in Brasilien in einem Jahr um drei Millionen gewachsen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2017

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