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FRAGEN/041: María López Vigil, Nicaragua - "Die derzeitige FSLN ist nicht sandinistisch" (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Nicaragua
"Die derzeitige FSLN ist nicht sandinistisch" - Interview mit María López Vigil

Von Paolo Moiola


(Lima, 24. November 2016, noticias aliadas) - Die aus Kuba stammende Theologin, Autorin und Journalistin María López Vigil kam vor 35 Jahren nach Nicaragua. Sie ist Redaktionsleiterin der monatlich erscheinenden Zeitschrift Envío. Das Magazin für Analyse wird seit 1981 von der Universidad Centroamericana (UCA) in Managua herausgebracht. López Vigil hat mehrere theologische Schriften verfasst, darunter "Un tal Jesús" ("Ein gewisser Jesus"), "Otro Dios es posible" ("Ein anderer Gott ist möglich") und "Monseñor Romero: Piezas para un retrato" ("Monseñor Romero. Versatzstücke eines Portraits"). Außerdem ist sie Autorin von Kinderbüchern.

Paolo Moiola, Mitarbeiter der Zeitschrift Noticias Aliadas, sprach mit López Vigil über die gegenwärtige Situation und die zukünftige Entwicklung Nicaraguas vor dem Hintergrund der jüngsten Wahlergebnisse vom vergangenen Jahr. Daniel Ortega hatte für eine dritte Amtszeit kandidiert; seine Partei FSLN gewann am 6. November 2016 mit überwältigender Mehrheit. Seine Ehefrau Rosario Murillo wurde zur Vizepräsidentin ernannt.

Was meinen Sie, sind die Zahlen, laut denen Daniel Ortega und Rosario Murillo die Wahl gewonnen haben, echt?

Die wirklichen Ergebnisse werden wir wohl nie erfahren. Die Wahlbehörden lügen seit acht Jahren, und jede*r in diesem Land weiß das. Ortega hat nicht "abgeräumt". Er hat gewonnen, weil er im Vorfeld alles dafür getan hat, dass keine internationalen Wahlbeobachter*innen vor Ort sind und dass keine richtige Opposition antritt. Gehen wir mal von einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent aus, in ländlichen Gebieten waren es wohl eher nur 20 Prozent. Das heißt, dem Stimmenanteil von 72,5 Prozent liegen nur etwa knapp 30 Prozent der Bevölkerung zugrunde. Das wäre, wenn überhaupt, ein Pyrrhussieg.

Als "beispielhaft" bezeichnete der venezolanische Sender TeleSur nach den Wahlen den Wahlprozess in Nicaragua, "dem kleinen Giganten, [dessen] Demokratie unter Dauerbeschuss durch westliche Regierungen und Medien steht." Stimmt das?

In diesem Jahr waren es die Nicht-Wähler, die gewonnen haben. Und das will was heißen in Nicaragua, hier gelten die Leute als "wahlfreudig". Man sagt, hier "vertraue man den Wahlen". Die Zahlen, die die Wahlbehörde vorgelegt hat, sind nicht glaubwürdig. Die ganze Behörde geriet in Misskredit, weil ihr in den Jahren 2008, 2011 und 2012 Wahlbetrug nachgewiesen wurde. Die Behörde ist auch nicht mehr überprüfbar. Das Problem mit den Wahlen ist in Nicaragua sehr ernst, weil das gesamte Wahlsystem nicht mehr besteht.

Im Jahr 2015 wurde ein Wirtschaftswachstum von 4,1 Prozent verzeichnet. Bedeutet das, Ortegas Modell ist erfolgreich?

Die Regierung Ortega ist nicht progressiv. Dieser wirtschaftliche Impuls beruht auf der Unterstützung Venezuelas. Das Wirtschaftsmodell hat vor allem das Großkapital gestützt. Daher schickt der IWF auch jedes Jahr Glückwünsche an Ortega.

Die Armutsquote sank laut der Internationalen Stiftung für globale wirtschaftliche Herausforderungen FIDEG (Fundación Internacional para el Desafío Económico Global) im Jahr 2009 von 44,7 auf 39 Prozent. Sind diese Zahlen vertrauenswürdig?

Ortega und Murillo regieren seit zehn Jahren. Sie selbst haben an der Erdöl-Kooperation mit Venezuela Millionen verdient. Die soziale Ungleichheit ist heute viel größer als vor zehn Jahren. Das Hauptproblem dieses Landes ist die Arbeitslosigkeit bzw. die prekären Arbeitsverhältnisse. Acht von zehn Nicaraguaner*innen arbeiten auf selbständiger Basis, das heißt: ohne festen Lohn und ohne Sozialversicherung. Viele Menschen verlassen das Land und gehen nach Costa Rica oder Panama. Die Rücküberweisungen in US-Dollar, die Emigrierte an ihre Familien überweisen, sind eine wichtige Unterstützung für die Ärmsten in unserem Land. Nicaragua hält weiterhin den Spitzenplatz als das Land mit der größten mehrdimensionalen Armut in Lateinamerika.

Die Armut ist ein historisches Vermächtnis. Was muss man tun, um sie zu verringern?

Das erste, was man tun müsste, um das Land aus dem Labyrinth der Armut zu führen, wäre, das Bildungssystem zu verbessern. Nirgendwo sonst werden Lehrerinnen und Lehrer so schlecht bezahlt wie hier; ganze 2,5 Prozent des Staatshaushalts werden in Bildung investiert, das ist weniger als überall sonst in Mittelamerika. Die derzeitige Regierung hat nichts getan, um das Bildungssystem zu verbessern.

Die Ortegas behaupten, ihre Regierung setze auf eine Politik der Inklusion ...

Wen Ortega an der Regierung hat gleichberechtigt teilhaben lassen, das sind die großen privaten Unternehmen, die Wirtschaftselite von eh und je. Das sind ihre stärksten Verbündeten und auch ihre Partner bei verschiedenen geschäftlichen Unternehmungen. Für die Ärmsten der Armen gibt es "Sozialprogramme": monatliche Lebensmitteltüten, Schweine und Hühner für Landfrauen, Zinkfolie für die Dächer, zinslose Kredite für Mini-Unternehmen in den Städten. Ja, sie lindern die Armut, und die Ärmsten der Armen sind ihnen auch sicher sehr dankbar dafür, aber sie lösen damit nicht das Problem.

Das einzige, was der Armut wirklich ein Ende bereiten würde, wären feste Jobs mit einem angemessenen Lohn. Viele der Menschen, die von den Sozialprogrammen profitieren, gingen am 6. November dennoch nicht zur Wahl, um Ortega zu unterstützen. Die Leute haben genug von der sozialen Kontrolle, die diese Regierung ihnen auferlegt und die sich auf viele verschiedene Arten ausdrückt, auf dem Land stärker als in Managua und in anderen Städten.

Ich habe den Eindruck, dass Sandinismus heute etwas ganz anderes bedeutet als damals. Liege ich da falsch?

Wir waren alle begeistert vom Sandinismus, und deshalb sind wir nun seit Jahren traurig. Aber es wäre sinnlos, die Lage zu beschönigen und in Bezug auf die FSLN und Ortega und seine Leute irgendwelchen Unsinn zu erzählen. Das sind keine Sandinist*innen. Der Sandinismus lebt in Nicaragua weiter, jedoch nicht in irgendeiner "Institution". Mit anderen Worten: Die derzeitige FSLN ist nicht sandinistisch.

Was ist der Sandinismus?

Der Sandinismus ist eine der Wurzeln dieser Nation. Sandinismus bedeutet soziale Gerechtigkeit und staatliche Souveränität. Hier jedoch gibt es Ungerechtigkeit und Ungleichheit.

Die FSLN existiert aber noch, oder?

Nein, es gibt auch keine FSLN mehr. Ihre Parteistruktur existiert nicht mehr. Heute gibt es den Orteguismo, ein politisches Familienprojekt, das sogar schon mit der Somoza-Diktatur vergleichen wurde. Man hört diesen Satz immer häufiger: "Ortega und Somoza sind ein und dasselbe". Es sind Jahre vergangen, die Welt hat sich verändert, Nicaragua hat sich verändert. Was an die Somoza-Diktatur denken lässt, ist der Autoritarismus, die Kontrolle des Landes durch eine Familie, die Repression, insbesondere in ländlichen Gebieten, die Art, wie diese eine Familie und deren Anhang sich bereichern, die Korruption, die Vereinnahmung öffentlicher Mittel durch Privatpersonen.

Was können Sie mir über den großen interozeanischen Kanal in den Händen von Wang Jing, Präsident der Gruppe HKND, erzählen?

Ortega ist ein "Vaterlandsverkäufer", wie Augusto César Sandino die Politiker seiner Zeit nannte. Er hat das Land an eine chinesische Firma verkauft, damit sie einen interozeanischen Kanal baut [der Baubeginn wurde auf Ende 2016 verschoben]. Und wenn sie das nicht tut, dann gibt es ein Gesetz, das dieser Firma sowie Ortega und seinen Leuten Zugriff auf die für den Bau des Kanals und alle anhängigen Projekte vorgesehenen Grundstücke gestattet.

In Nicaragua sind multinationale Konzerne vertreten, die aufgrund ihrer Umweltperformance in Lateinamerika sehr schlecht beleumundet sind. Sind die Natur und die Umwelt in Gefahr?

Oh ja, hier sitzen mittlerweile Cargill [US-amerikanischer transnational operierender Agrochemie-Konzern], von Ortega mit offenen Armen empfangen, außerdem das kanadische Goldbergbauunternehmen B2Gold und [der Gensaatproduzent] Monsanto. Es gibt koreanische, taiwanesische und US-amerikanische Freihandelszonen.

Warum investieren hier so viele multinationale Konzerne und andere wichtige Firmen?

Der Hauptgrund ist, dass die Löhne hier so niedrig sind, dass sie mit den asiatischen Ländern konkurrieren können. Nicaragua hat das niedrigste Lohnniveau von ganz Lateinamerika. Der Mindestlohn in El Salvador und Honduras ist mehr als doppelt so hoch wie unserer. In Guatemala zahlen sie noch ein bisschen mehr als in Honduras, und in Costa Rica ist der Mindestlohn viermal so hoch wie bei uns. Wo die Unternehmen des Goldbergbaus tätig werden, zerstören sie die Umwelt, hier überall hier in Lateinamerika. Derzeit hat die Regierung Bergbaukonzessionen für zehn Prozent des gesamten Staatsgebiets erteilt, insbesondere für die Goldgewinnung.

Welche Rolle spielt die katholische Kirche in Nicaragua?

In den 1980ern war das Verhältnis zur sandinistischen Bewegung sehr feindselig, besonders wurde das durch Kardinal Miguel Obando y Bravo befeuert. Heute steht die katholische Kirche an der Seite der Präsidentenfamilie.

Die Spitze der katholischen Kirche ist gespalten - wie überall in der Welt. Vier der zehn Bischöfe der Episkopalkonferenz Nicaraguas stehen Ortega sehr kritisch gegenüber. Die anderen positionieren sich eher uneindeutig, manchmal stehen sie auf Seiten der Regierung, aber meistens hüllen sie sich in Schweigen. Managuas Weihbischof Mons. Silvio Báez ist eigentlich derjenige, der sich am deutlichsten kritisch positioniert.

Und die evangelikalen Kirchen?

Die haben hier in den letzten Jahren sehr starken Zulauf bekommen, wie auch sonst in Latein- und Mittelamerika. Im Allgemeinen lesen sie die Bibel auf eine Weise, die zu Fundamentalismus, zu Passivität und zu Resignation angesichts der Verhältnisse führt. Es gibt hier die klassischen protestantischen Strömungen, also die anglikanische, presbyterianische, methodistische und die lutherische Kirche, die Baptistengemeinde und die Adventsgemeinde, aber die sind zahlenmäßig längst nicht so bedeutsam wie die evangelikalen Gemeinden, die derzeit immer größer werden, besonders in den Armenvierteln der Stadt und in ländlichen Gebieten.

Wie steht es um die vier indigenen Ethnien Nicaraguas [etwa 8,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, rund 520.000 Menschen]?

Die größte Ethnie sind die Miskito, danach kommen die Mayangna. Das Volk der Rama ist mittlerweile sehr klein geworden. Dann leben hier noch Garífuna, wie auch in Honduras. Diese vier Ethnien leben in Nord- und Südregionen der Karibikseite. Diese riesige, an natürlichen Ressourcen reiche Region war traditionell recht verlassen oder von der Zentralregierung unterjocht. Nun strömen immer mehr Menschen in ihre Gebiete, und diese Regierung billigt das. Das war immer so. Aber in den letzten Jahren hat sich der Konflikt verschärft, es kam sogar zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Und das Militär unternimmt nichts.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Nicaraguas?

Ich wünsche mir ein besseres, ein gerechtes und frohes Land. Ich glaube, dass ein anderes Nicaragua möglich ist, aber das können wir nicht in kurzer Zeit erreichen. Sollte ich nicht mehr hier sein, wenn das passiert: Ich habe getan, was ich konnte, habe alles gegeben, damit es dazu kommt.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2017

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