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EUROPA/824: Vor den Wahlen in Norwegen (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Vor den Wahlen in Norwegen
Die sozialdemokratische AP hat fast alles richtig gemacht und wird vielleicht doch verlieren

von Dr. Gero Maass
September 2013



• Eigentlich hat die regierende rot-grüne Allianz unter Führung der sozialdemokratischen AP alles richtig gemacht. Die Wahlversprechen von 2009 hat sie in den Augen vieler politischer Beobachter weitgehend eingelöst, ökonomisch und sozial steht das Land mit seinen 3,5 % Arbeitslosen passabel da.

• In internationalen Vergleichen und Bestenlisten findet man das Land meist an der Spitze oder es besetzt die oberen Plätze. Wo andere ihre Schulden messen, beträgt im Ölexportland das Guthaben des staatlichen weltweit investierenden Pensionsfonds 125 % des Bruttoinlandsprodukts.

• Trotzdem herrscht im Land Wechselstimmung und mögen die Wähler dem international angesehenen Premierminister Jens Stoltenberg und seiner rotgrünen Koalition kein drittes Mandat geben.

• Umstritten ist etwa, ob und wie das staatliche Gesundheitswesen noch patientenfreundlicher und leistungsfähiger werden kann, ob man mehr von den Ölmilliarden in den Wohlfahrtsstaat stecken sollte, ob man die bislang geschützte Inselgruppe der Lofoten in Nordnorwegen für die Ölförderung öffnen darf oder ob Norwegen zu viele Migranten ins Land lässt. Ein Blick hinter die Kulissen des sozialdemokratischen Vorzeigelandes.

*

Norwegen - immer auf den vorderen Plätzen internationaler Bestenlisten zu finden

Im letzten Jahr übersprang die Einwohnerzahl Norwegens 5 Millionen. Noch vor 2030 soll sie dank Immigration und kinderfreundlicher Familienpolitik auf 6 Millionen klettern. Das sehr dünn besiedelte und an Öl- und Gasvorhaben reiche Land belegt fast immer die Spitzenplätze der internationalen Bestenlisten von Wirtschaft und Gesellschaft:

• Der Economist führt das Land an der Spitze seiner Indices für Demokratie und Human Development, auf Platz 3 beim Pro-Kopf-Einkommen und auf Platz 12 beim Leistungsbilanzüberschuss pro Kopf (zum Vergleich: D auf Platz 31)

• Das World Economic Forum placiert das Land auf Nummer 3 beim Index für globale Wettbewerbsfähigkeit und attestiert ihm einen Spitzenrang in der Genderpolitik und dem Anteil der erneuerbaren Energien am BSP (61 % - D: 11 %)

• Beim OECD Ranking der Lebenszufriedenheit müssen sich die Norweger nur knapp den Dänen geschlagen geben.

Wer es gewohnt ist, die laufenden Barometer staatlicher Schuldenberge zu betrachten, sollte sich ein Blick auf das Sekunde um Sekunde stetig anwachsende Vermögen des 4397 Mrd NOK (564 Mrd Euro zum 30.6.13) starken Ölfonds gönnen, um eine visuelle Vorstellung davon zu bekommen, auf welcher stabilen Ressourcengrundlage sich Norwegens Entwicklung von Ökonomie und Gesellschaft seit den 80er Jahren abspielt: http://nbim.no.

Politisch erholt sich das Land langsam von den tödlichen Attacken vom Juli 2011 des 33 Jahre alten Anders B. Breivik, der dem rechtsextremistischen Lager zugeordnet wird. Zunächst zollte die Bevölkerung, und mehr noch die internationale Gemeinschaft, dem Premierminister hohen Respekt für die Art der Krisenbewältigung, die die norwegische Demokratie gestärkt sowie in schwieriger Zeit eine offene und integrative Gesellschaft bewahrt hatte. In seiner Neujahrsansprache 2013 beschrieb er Norwegen als inklusives, egalitäres und sicheres Land. Das norwegische Modell sei »freedom and safety created by fellowship«. Im Nachgang zu einem Untersuchungsbericht musste er jedoch erhebliche Mängel in der Sicherheitslage und der Reaktion der Polizei auf die Anschläge eingestehen. Kritiker bemängeln auch, dass aus dem Anschlag nur zögerlich konkrete (vor allem sicherheitspolitische) Veränderungen und Reformschritte erwachsen.

Legt man den letzten Wirtschaftsbericht der OECD zugrunde, dann ist das Land gut durch die Finanzkrise gekommen und kann dank des Ölsektors nun für 2013/14 wieder ein Wachstum von mindestens 2 % zählen: »Norway continues to benefit from its well managed petroleum wealth and sound macroeconomc policies, achieving levels of well-being and social cohesion that have remaind high by international standards«.(1) Als Schwachpunkte identifizierten die Fachleute die hohe Verschuldung der Privathaushalte, steigende Hauspreise und das schwache Wachstum der Exporte der nicht-ölbezogenen Branchen. Hier kommen auch die Auswirkungen der Rezession im Euroraum zum Tragen. Die Arbeitslosigkeit bleibt mit 3,5 % weiterhin niedrig und die Reallohnentwicklung positiv.

Verdienstniveau und Kaufkraft liegen 70 % über dem EU-Durchschnitt - indes auch die Preise: Der Kauf eines Hamburgers treibt den Besuchern die Schweißperlen auf die Stirn, die europaweit agierende Fluglinie Norwegian droht damit, kein einheimisches Personal mehr einzustellen, weil es zu teuer sei. Manche fürchten, dass Norwegens Wohlstand von den Ölmilliarden aufgeblasen und realwirtschaftlich nicht unterfüttert sei.



Ein Blick zurück ins alte Parlament

Die Parlamentswahlen in Norwegen finden gewöhnlich immer am zweiten oder dritten Montag im September statt, knapp nach dem Ende der Sommerschulferien Mitte August. Die rund 3,5 Millionen Wahlberechtigten wählen ihre 169 Abgeordneten nach dem Prinzip der Verhältniswahl. 150 ParlamentarierInnen werden direkt von den WählerInnen in den 19 Wahlkreisen gewählt, während im Zuge eines landesweiten Verhältnisausgleichs weitere 19 Mandate vergeben werden.

Eine explizite Sperrklausel für die Mandate gibt es nicht, doch können nur Parteien mit einem Stimmanteil von mindestens vier Prozent von der Regelung der 19 Ausgleichsmandate profitieren.(2) Diese Regelung war vor knapp zwei Jahrzehnten eingeführt worden, um bewußt die Repräsentanz der kleinen Gruppierungen zu stärken.

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei (AP) hat nach dem 2. Weltkrieg und dem Ende der deutschen Besatzung den Wohlfahrtsstaat unter der Ministerpräsidentschaft von Einar Gerhardsen geprägt: Er regierte mit einer Unterbrechung von 1950-1955 über 20 Jahre von 1945-1965. Seit 1927 ist die AP die stimmenstärkste politische Partei im Storting. Ihren höchsten Wahlsieg errang die Partei mit 48,3 % im Jahr 1957, ihren Tiefstand 2001 mit 24,3 % - damit hatte sie indes trotzdem immer noch die größte Fraktion im Parlament gestellt. In jüngster Geschichte gelang es den konservativen Bewegungen, durch ein Bündnis im bürgerlichen Lager nur von 1997 bis 2000 und von 2001 bis 2005 den Ministerpräsidenten zu stellen.

Zum Wahltag am 9. September tritt die sozialdemokratische Arbeiterpartei mit ihrem Parteivorsitzenden und amtierenden Premierminister Jens Stoltenberg nach den Wahlsiegen in 2005 und 2009 für ein drittes Regierungsmandat in Folge an. Derzeit verfügen die Regierungsparteien im Parlament (das Storting hat 169 Sitze) über 86 Mandate.(3)

Davon entfallen

• 64 Mandate auf die AP (Arbeiderpartiet, bei 35,4 % der Stimmen),
• 11 Sitze auf die Sozialistische Linkspartei (SV, Sosialistisk Vensterparti, Parteivorsitz: Audun Lysbakken) und
• 11 Mandate auf die agrarisch-grüne Zentrumspartei (SP, Senterpartiet, Parteivorsitz: Liv Signe Navarsete). Die SP repräsentiert immer noch vor allem die ländlichen Interessen, versucht sich über die Profilierung bei grünen Themen, jedoch einen zukunftsträchtigeres Image zu geben.

Auf den Oppositionsbänken sitzen die

• rechtspopulistische Fortschrittspartei (FrP, Fremskrittspartiet, Vorsitz: Siv Jensen) mit 41 Sitzen),
• die konservative Partei (H, Høyre (= rechts), Vorsitz: Erna Solberg) mit 30 Mandaten,
• die christlich, wertkonservative Kristelig Folkeparti (KrF, 10 Mandate) und
• die liberale Venstre (V, 2 Mandate), die sich in jüngster Zeit auch als Sachwalterin ökologischer Interessen in Szene zu setzen versucht.


Letzte Umfragen sagen nun doch ein Kopf an Kopf Rennen voraus

Die Meinungsforschungsinstitute sind sich nicht einig, wer die Nase vorne hat (siehe Tabelle). Die einen sehen die AP mit 30,8 % vorne, die anderen mit einem hauchdünnen Vorsprung (29,2 zu 29,0 % immer noch Høyre. Lange hatte die AP in den Umfragen deutlich hinter der konservativen Partei gelegen. Seit den letzten Wahlen hatte die konservative Partei in den Umfragen kontinuierlich zugelegt und war in allen norwegischen Provinzen (außer Nordnorwegen) zur stärksten Partei anvanciert. Zu Beginn des Wahljahres im Januar hatte sie noch 35,2 % eingefahren (siehe die abfallende Høyre Formkurve in: VG 22.8.13, S. 8). Sie hatte damit nicht nur die AP, sondern auch die Rechtspopulisten überrundet, die bei der letzten Wahl so überraschend zur Nummer eins im rechten Lager aufgestiegen war. Als nun wieder führende Kraft im Oppositionslager fiel es ihr auch leichter, die rechtspopulistische FrP mit ins Boot zu holen und mit ihnen zusammen einen Regierungswechsel anzusteuern. Da auch die anderen beiden Regierungspartner Federn haben lassen müssen, käme der Mitte-Rechts-Block zur Zeit noch auf eine hauchdünne Mehrheit und könnte den Regierungswechsel herbeiführen.


Norwegen: Wahlergebnis 2009 und Umfragen 2013 in %
Partei

2009

TNS Gallup 25.8.13
VG Barometer 26.8.13
Rødt
SV
AP
Sp
Krf
V
H
FrP
MDG (Grüne)
Andere
1,3
6,2
35,4
6,2
5,5
3,9
17,2
22,9
0,3
1,4
0,8
4,6
30,8
5,7
4,7
4,8
27,5
15,7
3,2
1,6
1,2
4,0
29,0
5,0
5,0
6,9
29,2
13,7
3,9
2,0

(Quelle: www.vg.no und www.tv2.no)


Unruhig macht die Sozialdemokraten insbesondere die Tatsache, dass die Wechselstimmung bis tief in die befreundeten Gewerkschaften hineinreicht. Laut einer Umfrage unter den Mitgliedern der Norwegian United Federation of Trade Unions (Fellesforbundet) meinen 49 %, dass die Zeit für einen Wechsel gekommen sei. 38 % befürworten die Fortsetzung der rot-grünen Allianz (Dagsavisen 8.1.13, S. 11). Fellesforbundet ist die größte norwegische Gewerkschaft im privaten Sektor und Teil des Dachverbandes LO, der traditionell eine politische Allianz mit der AP pflegt.

Dazu passt ein tiefer Blick zurück in die norwegische Geschichte: Während im agrarisch feudalen Schweden zunächst die Industrialisierung und erst dann die Demokratie Einzug hielt, war es in Norwegen genau anders herum. Demokratie und parlamentarische Kontrolle haben eine lange Tradition und die Rechte des Monarchen wurden früh eingeschränkt.(4) Ins Bild fügt sich auch ein runder Geburtstag vom März diesen Jahres: Vor 100 Jahren wurde das Frauenwahlrecht in Norwegen eingeführt - zwar nach Finnland (1907), indes lange vor den europäischen Traditionsdemokratien.

Premierminister Jens Stoltenberg hatte in seiner Rede auf dem Wahlparteitag im April den Mitgliedern noch Mut gemacht. Er sei jetzt über 20 Jahre politisch aktiv. Bei den Umfragen in früheren Wahlen hätte sie zu diesem Zeitpunkt immer hinten gelegen, um dann bei fünf von sechs Wahlen trotzdem als Siegerin durch das Ziel zu gehen. Er vertraue in das Mobilisierungspotential der 1887 gegründeten und mit 53.000 Mitgliedern mit Abstand größten Partei des Landes, die seit ihrer ersten Regierungsübernahme 1935 in nun fast 80 Jahren nur 16 Jahre nicht den Premierminister stellte. Die AP zeichne für den Aufbau des norwegischen Modells verantwortlich und bilde nach wie vor den wichtigsten Orientierungspol der Politik des Landes.


Die AP - weiter so für ein drittes Mandat in Folge

Im April hatte die AP ihr Wahlprogramm für die neue Legislaturperiode 2013-2017
(http://arbeiderpartiet.no/file/download/5962/75516/file/vedtak_programmet.pdf) verabschiedet. Es knüpft an die unauffälligen, aber stetigen kleinen Verbesserungen der beiden letzten Kabinette an. Zu Recht betonte der Premier in der Kampagne immer wieder, dass die Koalitionäre all ihre Wahlversprechen vom letzten Mal in reale Politik haben münden lassen.

Im Zeichen einer wachsenden Bevölkerung gelte es weiterhin,

• die Vollbeschäftigung zu sichern,
• genug bezahlbaren Wohnraum und angemessene Verkehrsinfrastruktur bereit zustellen,
• das öffentlichen Schulwesens weiter zu entwickeln (eine Öffnung für private Anbieter wie in Schweden lehnt die AP strikt und geschlossen ab; vielmehr geht ihre Qualitätsoffensive über die Weiterbildung und bessere Bezahlung für die Lehrkräfte, die zudem von bürokratischen Kontrollaufgaben entlastet werden sollen), und
• die wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen zu sichern und wo möglich zu verbessern.

All dies auf der Grundlage eines ausgeglichenen Staatshaushalts und einer Finanzpolitik, die die Substanz der im staatlichen Pensionsfonds auflaufenden Ölmilliarden nicht antastet. Vehement trat Stoltenberg Überlegungen aus dem bürgerlichen Oppositionslager entgegen, den jährlichen Zufluss von 4 % aus dem Fonds an die Staatskasse zu erhöhen.

Manchem innerparteilichen Kritiker war das zu wenig. Sie bemängeln, dass der Premier nach zwei Amtsperioden Visionskraft vermissen lasse. Schon in seiner Parteitagsrede im April hatte er Ihnen entgegengehalten, dass er für Stabilität und kontinuierliche Verbesserung stehe. »My aim is not to run the country in an entertaining fashion, but in an unexciting way so that Norwegians can live exciting lives«. Um Geschlossenheit zu demonstrieren, hatte er auf dem Parteitag schon im Vorfeld dort konsequent nach Kompromissen gesucht, wo sich tiefgreifendende Meinungsunterschiede abgezeichnet hatten. Dies war vor allem bei der Frage der Fall, ob die Ölförderung auch in der bislang geschützten Region der Lofoten erlaubt werden solle. Der Parteitag beschloss, diese Entscheidung zu vertagen: Dazu soll es jetzt ein Gutachten geben, dass die ökonomischen wie ökologischen Folgewirkungen prüft. Die endgültige Positionierung soll dann erst auf dieser Grundlage beim Parteitag 2015 erfolgen. Im Wahlkampf spielt diese umweltpolitisch brisante Frage deshalb nur eine untergeordnete Rolle.(5)

Trotzdem ist die Kritik aus den eigenen Reihen nicht verstummt. Dabei mag so manches indes nicht so recht überzeugen. Etwa wenn ehemalige Parteivorsitzende oder MinisterInnen gerade die Monate vor den Wahlen für die öffentliche Präsentation ihrer Biographien wählen. Stoltenberg selbst hat in jüngsten Interviews noch mal bekräftigt, dass er selbst im Falle einer Niederlage an der Spitze der AP bleiben möchte. Um Gesundheitsminister Gore, vor Jahreswende noch als Kronprinz gehandelt, ist es ruhiger geworden. Derweil präsentiert sich der Premier als volksnah: Taxifahrer erfahren viel und kommen mit den Leuten in ein offenes Gespräch - kommentierte er die AP-Wahlkampfidee, ihn für einen Tag in das typische Osloer Taxifahrer-Outfit zu stecken und dann mit versteckter Kamera die Unterhaltungen während der Fuhren mitzuschneiden. Über die Social Media wird das Filmchen mit dem volksnahen Premierminister nun unter die Wahlbevölkerung gebracht (für Interessierte: http://www.youtube.com/watch?v=bBXV-LXzeig).



Mutti Erna soll es für Høyre richten

Im Wahlkampf setzt die konservative Partei ganz auf ihre Vorsitzende Erna Solberg. Die erfahrene Politikerin war schon Ministerin im Kabinet der letzten konservativen Regierung Anfang 2000. Gefragt, wen sie als PremierministerIn vorziehen würden, kam sie bei einer Umfrage im Juli auf noch auf 41 % der Amtsinhaber nur auf 29 % (NRK News 29.7.13). Schon seit Monaten ging sie als Siegerin hervor, wenn es um Beliebtheit und Kompetenz der SpitzenkandidatInnen geht. Bei den jüngsten Fernsehduellen zwischen ihr und dem Premier hat sie indes nicht so punkten können wie es sich ihre Wahlstrategen erhofft hatten. Die jüngste Umfrage im Auftrag des Norwegischen Fernsehens sah dann sogar den amtierenden Premierminister mit 42,9 zu 38.8 % erstmals wieder vorne (NRK News 26.8.13).

Dass die konservative Høyre sich ähnlich den schwedischen Moderaten zum norwegischen Wohlfahrtsstaat bekennt, soll den WählerInnen die Lust am demokratischen Wechsel noch weiter versüßen. In dieses Bild passt, dass sich Civita - der »liberale think tank«, der hauptsächlich vom Arbeitgeberverband des Landes unterstützt wird, intensiv darum bemüht, auf die liberalen und konservativen Wurzeln des Wohlfahrtsstaates in Europa zu verweisen und das sozialdemokratische Monopol in Frage zu stellen (http://www.civita.no). Wie die konservative Regierung Schwedens, möchten sie im Namen kundenfreundlicher Auswahlmöglichkeiten mehr private Anbieter bei den öffentlichen Diensten ins Spiel bringen. Dies würde auch die Kontrollwut der AP in Schulen und Krankenhäusern eindämmen und LehrerInnen und ÄrztInnen von überbordenden administrativen Pflichten entlasten. Der Titel der Wahlplattform von Høyre ist dazu passend: »new ideas, better solutions« (der link zur englischen Übersetzung:
http://publikasjoner.hoyre.no/hoyre/163/).

Besonders aus der Kritik am Gesundheitswesen möchte sie Kapital schlagen. Vor allem die langen Wartelisten für Spezialoperationen sind ihr ein Dorn im Auge. Seine Trümpfe spielt das norwegische System bei der flächendeckenden Grundversorgung und in akuten Fällen aus. Mit Blick auf die Engpässe bei der Behandlung von chronischen Beschwerden oder bei teuren Spezialuntersuchungen möchte die konservative Partei das System für private Leistungsanbieter öffnen.

Für die AP wäre dies der Einstieg in den Abschied vom bisherigen Gesundheitswesen. Im OECD-Vergleich steht das Land durchaus solide da. Laut OECD gibt das Land 9,3 % seines BSP für das Gesundheitswesen aus und liegt damit knapp über dem OECD-Durchschnitt (USA: 17,7, D: 11,3, Sw: 9,5 %)(6) Nimmt man die Pro-Kopf Ausgaben oder den hohen Beschäftigungsstand in diesem Bereich, schneidet das Land sogar noch besser ab. Dem Anspruch allen Bevölkerungsteilen unabhängig vom Status oder Einkommen den gleichen Zugang zu hochwertiger medizinischer Betreuung zukommen zu lassen, kommt auch in seiner Organisationsstrukturen zum Ausdruck: fast ausschließlich aus Steuermitteln finanziert, setzt der Zentralstaat zwar den Rahmen, die fünf Gesundheitsregionen und mehr noch die 431 Gemeinden spielen bei der konkreten Ausgestaltung und Steuerung jedoch eine zentrale Rolle. Dieser bevölkerungsnahe und partizipatorische Ansatz wird in einschlägigen Berichten wie etwa vom European Observatory on Health System gewürdigt.(7) Dennoch müsse auch in Zukunft die Suche nach einer optimalen Steuerungsbalance weitergehen.


Spendierfreudige und islamkritische Rechtspopulisten

»Morna, Jens!« - Mit dem Wahlslogan »Tschüs dann, Jens« will Siv Jensen, die 40-jährige Frau an der FrP-Spitze, als erste Rechtspopulistin in Westeuropa den Posten der Regierungschefin erobern oder doch zumindest mit auf der Regierungsbank Platz nehmen. Unermüdlich hämmert Jensen auf Dorfplätzen und in Fernsehstudios den Zuhörern die Botschaft ein, dass nur die FrP Garant sei für niedrigere Steuern, für bessere Altenpflege, für einen härteren Kurs gegen Kriminelle und für eine schärfere Asylpolitik.

Diese Botschaften aus sozialen Versprechungen und Angstmache haben die Populisten in den letzten Jahren groß gemacht.(8) Zeitweise waren sie gar die führende Kraft im Lager der rechten Mitte. Doch die schrille Tonart stößt selbst Teile jene Partner ab, die Jensen braucht, um sich den Traum vom Regieren zu erfüllen. Seitdem Høyre das konservative Lage wieder anführt, nahm die Kooperation mit der Fortschrittspartei jedoch konkretere Formen an. Für eine bürgerliche Mehrheit aber sind auch die Stimmen von Liberalen und Christdemokraten nötig, und viele wollen mit der äußersten Rechten nichts zu tun haben. Schwierige Koalitionsverhandlungen stehen bevor, selbst wenn die bürgerlichen Parteien als erste durchs Ziel gehen.

Nicht nur die Asylpolitik spaltet das bürgerliche Lager. Auch die FrP-Wirtschaftspolitik gilt allen anderen Parteien als verantwortungslos. Teure Reformen und Steuersenkungen hat Siv Jensen in ihr Programm geschrieben. Wie das finanziert werden soll? Sie plädiert dafür, dass der staatliche Pensionsfonds stärker angezapft werden soll. Die bislang geltende Vier-Prozent-Marge soll geknackt werden. Die AP ist strikt dagegen und Høyre schwankt.

Ihr Dilemma bei so viel populistischen Druck: Wie erklärt man den WählerInnen, dass es trotz des Reichtums noch arme Familien, baufällige Schulen, Wartelisten in Krankenhäusern und miserable Straßen gibt?



Wie geht's weiter?

1. Norwegens AP im Konzert der (nordischen) Sozialdemokratien:

Stärker noch als in den anderen nordischen Ländern trägt die Geschichte des Wohlfahrtsstaates im einstigen Wikingerland eine klare sozialdemokratische Handschrift. Von 1930 bis hinein in die achtziger Jahre hat die AP die Geschicke des Landes nahezu hegemonial gelenkt. Zunächst mit absoluten Mehrheiten, später mit relativer Mehrheit als immer noch stärkste Partei im Parlament im Zuge von Minderheitsregierungen. Die Uneinigkeit im bürgerlichen Oppositionslager hatte ihnen dabei mit in die Hände gespielt. Treten die Mitte-Rechts Parteien indes als einiger Block auf, werden die Sozialdemokraten nicht nur in Norwegen aus dem Amt verdrängt. Auch die AP braucht deshalb in Zukunft feste Regierungspartner. Entgegen 2005 und 2009 treten die Koalitionäre diesmal jedoch ohne gemeinsame Wahlplattform an. Jede der drei Regierungsgruppierungen führt damit ihren eigenen Wahlkampf, wenn auch mit klarer Koalitionsaussage.

Gepaart mit den Ölmilliarden könnte man aus der Perspektive der sozialen Demokratie also meinen, dass das, was die sozialdemokratische AP in Norwegen nicht umsetzen kann, sich anderswo ohnehin nicht von sozialdemokratischen Regierungen bewerkstelligen ließe. Norwegen also als sozialdemokratisches Vorzeigemodell, als Ideenlaboratorium unter günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies gilt mehr noch für die schwedische SAP, die nach zwei Wahlniederlagen im September nächsten Jahres beweisen möchte, dass das schwedische Modell nach wie vor ein sozialdemokratisches Projekt ist. Dass die zwei Wahlniederlagen also eher ein Unfall und Ausrutscher der Geschichte seien, statt Teil eines strukturellen Niedergangs der einstmals stolzen parteipolitischen Führungsmacht im Norden Europas. In diesem Sinne bereiten die norwegischen Wahlen den Weg für den Ausgang in Schweden, der wiederum Symbolwert für die ganze sozialdemokratische Bewegung in Europa hat.



2. Ende der rotgrünen Koalition besiegelt:

Gemessen an den Wahl- und Regierungsprogramm der rotgrünen Regierung hat der Premier alle seine Hausaufgaben gemacht und die Versprechungen abgearbeitet. Schon bei den letzten Wahlen hing die Zukunft als AP als führende Regierungspartei jedoch an einem seidenen Faden und war die Wechselstimmung stark gewesen. Seine Art, das Land erfolgreich durch die weltweite Finanzkrise zu steuern, hatte ihm dann aber doch entgegen aller Vorhersagen zu einer zweiten Amtszeit verholfen.

Diesmal scheint die Wechselstimmung indes zu stark zu sein, obwohl der erfolgreiche Endspurt im Wahlkampf die AP wieder zur stärksten Partei machen könnte. Insgesamt werden die Verluste auch der beiden anderen, kleineren Regierungsparteien jedoch zu stark sein, sodass alle Beobachter damit rechnen, dass die rotgrüne Koalition auf jeden Fall abgewählt wird.


3. Koalitionskonstellationen bei den vier Mitte-Rechts-Parteien unklar:

Eine Woche vor den Wahlen wird Erna Solberg, die Parteivorsitzende von Høyre, als neue Ministerpräsidentin gehandelt. Unklar ist jedoch in welcher Regierungskonstellation. Selbst wenn die AP die größte Fraktion stellt, könnte Høyre den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen, wenn rechnerisch eine Mehrheit Rechts der Mitte bestünde. Bei den Liberalen und der christlichen Volkspartei ist unsicher, ob und mit welcher Zahl von Abgeordneten sie ins Storting einziehen werden. Zudem haben sie im Wahlkampf bislang immer wieder die politischen Differenzen mit der Fortschrittspartei unterstrichen.

Für die konservative Partei und die Rechtspopulisten allein dürfte es jedoch auch nicht reichen. Denkbar wäre ebenfalls eine Minderheitsregierung von Høyre, falls die anderen Parteien nicht in eine formale Koalition eintreten mögen. Eine Koalition der beiden größten Parteien kann man ausschließen, sie entspricht nicht den politischen Traditionen des Landes.

Zum Königsmacher könnten die Grünen (MDG) avancieren. Für viele überraschend, robben sie sich langsam an die vier Prozent heran. Würden sie diese Hürde überspringen, könnten sie mit einigen Sitzen im Storting vertreten sein. Zu ihren Kooperations- oder gar Koalitionspräferenzen haben sie sich bislang jedoch noch nicht geäußert.



4. Was sich ändern könnte

An den Grundfesten des Wohlfahrtsstaats wird auch die neue bürgerliche Regierung nicht rütteln. Dazu ist der Konsens über das norwegische Modell zu tief bis hinein in die Wählerschichten der bürgerlichen Parteien verankert. Denkbar sind indes Korrekturen in folgenden Politikbereichen:

Familienpolitik: Bislang können Väter ihren Anteil an der Elternzeit nehmen. Sie müssen nicht - indes verfällt er dann. Die konservative Partei möchte hier Wahlfreiheit schaffen, so dass die anteilige Zeit auch von den Müttern genommen werden können. Die AP lehnt dies zu Recht ab: Nur über diesen Anreiz ließen sich die Männer dazu bewegen, ihren Teil auch in Anspruch zu nehmen. Ansonsten würde sich bald wieder die alte Arbeitsteilung in den Familien etablieren.

Bildung und Gesundheit: Høyre verspricht, beide Sektoren mit mehr privatwirtschaftlich organisierten Angeboten zu dynamisieren. Zwischen den bürgerlichen Parteien ist indes umstritten, ob etwa schon in den unteren Klassen mehr Leistungskontrollen und Zensuren eingeführt werden sollen oder ob es richtig ist, die Wartelisten im Gesundheitswesen mit mehr privatärztlichen Leistungen abbauen zu wollen. Kritiker bemängeln, dass Høyres Pläne unausgegoren seien und es letztlich in erster Linie um Bereitstellung von mehr (finanziellen) Ressourcen gehe, um die Engpässe abzubauen - dann könne man auch gleich mehr Steuermittel in das bestehende System hineinfließen lassen.

Immigration: Schon die jetzige AP geführte Regierungen hatten in den zurückliegenden Jahren insbesondere die Regeln für den Familiennachzug eingeschränkt. Dies weiter zu verschärfen, dürften sich die Rechtspopulisten als Preis für eine Regierungsbeteiligung auf keinen Fall nehmen lassen.

Finanzpolitik: Beide große Parteien stehen letztlich zu einem vorsichtigen Umgang mit den Öleinnahmen und möchten an der bisherigen Vier-Prozent-Regel der jährlichen Entnahme aus dem Staatsfonds festhalten. Treibende Kraft für einen großzügigeren Umgang ist allein die Fortschrittspartei. Da auch alle kleineren Parteien zu dieser Anlagepolitik stehen, ist es nur schwer vorstellbar, dass ein entsprechendes Gesetz die parlamentarischen Hürden nehmen könnte.



5. AP bleibt im Wartestand:

Sollte die AP erneut stärkste Partei werden, kann sie mittelfristig sogar damit rechnen, vorzeitig wieder ans Regierungsruder zu gelangen.

Und zwar dann, wenn sich bewahrheiten sollte, dass Høyre nicht in der Lage ist, eine stabile Allianz im bürgerlichen Lager herzustellen. In diesem Fall darf sie sich Hoffnungen machen, die bürgerliche Regierung vorzeitig abzulösen und mit der Legitimation als größte Fraktion eine Minderheitsregierung zu bilden, die sich fallweise ihre politischen Mehrheiten sucht.



Anmerkungen

(1) Economic Survey of Norway 2012, Paris May 2013.

(2) Zur Anwendung gelangt eine sogenannte »modifizierte« Fassung des Sainte-Laguë-Sitzzuteilungsverfahrens. Eine kurze Beschreibung des norwegischen Wahlsystems findet sich unter:
http://www.stortinget.no/en/In-English/About-the-Storting/Elections/.

(3) Eine ausführliche Analyse der Wahlen 2009 liefert das statistische Amt des Landes: http://www.ssb.no/en/valg/statistikker/stortingsvalg.

(4) Francis Sejersted, Age of Social Democracy: Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011, S. 11

(5) Ein eindrucksvolle Lagebeschreibung der Debatte liefert eine Radioreportage des Deutschlandfunks vom 14.5.13 unter dem Titel »Fisch, Erdöl und die Hoffnung auf neue Jobs« (www.dradio.de)

(6) OECD Health Data 2013, How does Norway compare
(www.oecd.org/heath/healthdata).

(7) siehe in deren Reihe »Health Systems in Transition« die Analyse über Norwegen aus dem Jahr 2006 (WHO Regional Office for Europe Copenhagen): »Health care policy has been a political priority in Norway and the organizational structure of the health system allows inhabitants to be involved in the political-making process. This commitment is demonstrated by recent reforms ...« (S. 158).

(8) Wer sich über den Werdegang der Rechtspopulisten informieren möchte: Anniken Hagelund, A matter of decency? The Progress Party in Norwegian immigration politics, Journal of Ethnic and Migration Studies, 2003, 29/1, 47-65.



Über den Autor

Dr. Gero Maass; Leiter FES Büro Stockholm für die nordischen Länder.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Jens Stoltenberg möchte ein drittes Regierungsmandat für die AP
- Wolf im Schafspelz? Siv Jensen von der rechtspopulistischen Fortschrittspartei
- Beliebteste Politikerin des Landes: Erna Solberg möchte Høyre zurück an die Macht bringen

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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2013