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EUROPA/809: Deutungshoheit auf Schwedisch (spw)


spw - Ausgabe 5/2010 - Heft 180
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Deutungshoheit auf Schwedisch

Von Christian Kellermann


Die Wahlen in Schweden waren dreierlei: Ein Zeichen der Kontinuität für eine bürgerliche Regierungsallianz, der Durchbruch für die rechtspopulistische und fremdenfeindliche Partei der "Schwedendemokraten" und das schlechteste Ergebnis für die Sozialdemokraten seit beinahe 100 Jahren. Dennoch sind die Sozialdemokraten nach wie vor die stärkste Partei mit knapp über 30 Prozent - wenn auch nur hauchdünn vor der zweitgrößten Partei, den Moderaten von Regierungschef Fredrik Reinfeldt. Zur Wahl vor vier Jahren sind das nochmal fast fünf Prozent weniger für die schwedischen Sozialdemokraten. Das mitte-linke Wahlbündnis zusammen mit der Umweltpartei und der Linkspartei erlangte weniger Stimmen als die vier Parteien des bürgerlichen Lagers. Aber auch die bürgerliche "Allianz" hat keine eigene Mehrheit der Sitze im Reichstag. Die Pattsituation zwischen den beiden "Blöcken" ist insofern delikat, weil die "Schwedendemokraten" einziger Mehrheitsbeschaffer jenseits der Blöcke sind. Wackliger Bündnispartner der Opposition ist die Umweltpartei, die nicht nur ein Gewinner der Wahl ist, sondern auch gewisse Schnittmengen mit der Regierungsallianz hat.

Damit die Niederlage der Sozialdemokraten nicht den eigenen Niedergang einläutet oder fortführt, müssen neben der üblichen "Manöverkritik" des Wahlkampfes einige tiefergehende Fragen gestellt und auch beantwortet werden. Diese bewegen sich im Spannungsfeld der Gabrielschen Deutungshoheit und der sozialdemokratischen symbiotischen Beziehung zum Kapitalismus vom Typ "Finanzkapitalismus". Letzteres ist logischerweise vorgelagert und meint konkret die Entwicklung einer tiefenscharfen Vorstellung einer Arbeitsmarktpolitik, die Export-, Wohlfahrts- und Integrationsmodell unter einen Hut bekommt. Dass der leisen, aber wirkungsvollen Demontage des schwedischen Modells der Reinfeldt-Regierung kein sozialdemokratischer Gesellschaftsentwurf mehrheitsfähig gegenübersteht, hängt nicht nur mit der häufig kritisierten einseitigen veröffentlichen Meinung in Schweden zusammen. Das Problem liegt tiefer und ist in der eigenen Kultur der Sozialdemokratie zu suchen. Der Partei, die das Land in Minderheitenregierungen über Jahrzehnte regiert hat, fällt es sichtlich schwer, mit dem Machtverlust so umzugehen, dass daraus positive Energie und neue Antworten und - ja, auch - eine unterscheidbare Gesellschaftsvorstellung entstehen würden.

Mona Sahlin, die Vorsitzende der schwedischen Sozialdemokratie, veröffentlichte vor der Wahl ein Buch mit dem Titel "Land der Möglichkeiten", worin sie ihre "Vision für Schweden" ausführte. Darin beschreibt sie eine Gesellschaft, in der der Nutzen des Einzelnen auch der Nutzen der Gemeinschaft ist. Diese Vorstellung ist verbunden mit dem Anspruch an eine gerechte Gesellschaft mit einem hohen Grad an sozialer Mobilität. Sie argumentiert allerdings stark im Muster der herrschenden Effizienzlogik, mit der sie eine egalitär(er)e Gesellschaft in Verbindung bringt. Sie entwarf auch einen klaren Anspruch zur Schaffung von 100.000 neuen Arbeitsplätzen, es fehlte aber letztendlich an der Überzeugungskraft für ein solches sozialdemokratisches "Land der Möglichkeiten" und weckte Erinnerungen an die Dilemmata der "Dritten Wege", auch wenn sie sich rhetorisch davon stets distanzierte. Dem Entwurf einer sozialdemokratischen Gesellschaftsvorstellunggegeneinezumindest medial "sozialdemokratisierte" bürgerliche Regierung innerhalb einer nur halbherzig kritisierten neoliberalen Denkweise fehlt unweigerlich die Deutungshoheit, weil ihm die eigenen Begriffe fehlen. Er bleibt kleinteilig, verwechselbar und sprachlos. Dem sozialdemokratischen Jobprogramm steht eine Arbeitsmarktpolitik der Regierungsallianz gegenüber, die auf Niedriglohn statt Arbeitslosigkeit setzt und damit letztlich glaubwürdiger gegen beinahe neun Prozent Arbeitslosigkeit und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit argumentierte. Es gelang der Regierungspartei auf diese Weise sogar in das Ur-Terrain der Sozialdemokratie einzudringen und als Retter des schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodells zu erscheinen.

Das schwedische Modell ist Ausdruck einer spannungsreichen Ungleichzeitigkeit, an der sich insbesondere die Sozialdemokraten die Zähne ausbeißen. Während das Modell als Bild und Anspruch an die eigene Gesellschaft in der Bevölkerung beinahe unhinterfragt ist, sind durch die geschaffenen Zwänge des Exportismus nur entsprechend globalisierungskonforme Lösungsvorschläge gebräuchlich. Alles andere wirkt verstaubt und altmodisch. Die Sozialdemokratie (wie auch die Linkspartei) litt nicht zuletzt deshalb unter diesem Image. Die "Rettungsversuche" des schwedischen Modells durch die bürgerliche Regierungsallianz in den zurückliegenden vier Jahren waren eine Art "Dritter Weg" von rechts. Substanzielle Steuersenkungen, Privatisierungsbestrebungen im Gesundheitsbereich, Abbau öffentlicher Beschäftigung und das Sägen am hohen Ast der Gewerkschaften kennzeichneten das politische Muster der Reinfeldt-Regierung. Letzteres verlief über das Arbeitslosenversicherungssystem, das einige Besonderheiten hat. Ein Teil der Arbeitslosenversicherung in Schweden (sogenannte A-Kassa) ist zum einen freiwillig und zum anderen im System der Gewerkschaften angesiedelt. Aus dieser besonderen Verbindung beziehen die schwedischen Gewerkschaften einen Großteil ihrer Macht, weil Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft lange Zeit Hand in Hand gingen. Die bürgerliche Allianz entflechtete dieses System ein Stück weit, indem die Steuerabzugsfähigkeit und die staatliche Subvention dieses Modells reduziert wurde mit der Folge, dass seitdem viele Tausende die Kassa aber auch die Arbeiter-Gewerkschaft LO verlassen haben. Die eng mit dem Dachverband LO verquickte sozialdemokratische Partei tat sich sichtlich schwer, mit entsprechender Kritik und Protest politisch zu mobilisieren. Das wiederum muss im Lichte eines tiefgehenden Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft in Schweden betrachtet werden, was sich auch darin zeigt, dass die Angestellten- und Akademikergewerkschaften in der gleichen Zeit ihre Mitgliedschaft ausbauen konnten, aber eher zum bürgerlichen Lager tendierten.

Die Regierungsparteien, allen voran die "Neuen Moderaten", machten den Sozialdemokraten insofern auf zwei Ebenen erdrückende Konkurrenz: Sie positionierten sich als Partei der Arbeitenden im recht einfach zu vermittelnden Wechselspiel aus Wettbewerb, Diszplin und Eigenverantwortung. Und sie entzauberten den modellimmanenten Glauben an Staat und Bürokratie, der quasi gleichbedeutend mit der Sozialdemokratie ist, deren Rolle in Schweden lange staatstragend war und heute als Erbe eher lähmend als erleuchtend wirkt. Das Wahlbündnis mit der Umweltpartei und der Linkspartei erschwerte den Anspruch, nach wie vor die staatstragende Partei mit gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu sein. Oder klarer formuliert: der Anspuch wurde damit unmöglich gemacht, weil es primär auch ein Eingeständnis war, dass es alleine nicht mehr geht. Dies wurde medial als Schwäche und nicht als strategische Stärke zelebriert.

Das Bild der bürgerlichen "Rettung des Wohlfahrtsstaates" wurde potenziert durch eine EU Ratspräsidentschaft, in welche die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags fiel sowie durch die Regierungsperformance während der Finanzkrise. Gerade das Handeln während der Krise brachte dem Regierungschef und seinem Finanzminister Anders Borg viele Pluspunkte ein. Die Fragilität des schwedischen Bankensystems, dessen Risiken insbesondere in der Immobilienblase des Baltikums lagen, wurde geschickt über den IMF und die EU abgefedert. Man muss sagen: Trotz erheblich geschwächter "automatischer Stabilisatoren", also sozialer Sicherung, konnten durch eine "Greenspansche" Zinspolitik (Schweden ist kein Euroland) und eine entsprechende Befeuerung des eigenen Immobilienmarktes stabile Einkommenserwartungen und somit ein solider Binnenkonsum aufrechterhalten werden. Wachstumszahlen von bis zu vier Prozent wurden in den Wochen vor der Krise voll dem Regierungshandeln angerechnet. Und all' das zusammen führte dazu, dass das Bild des Musterlandes nach der Krise noch glänzender war als vor der Krise (einziger Makel waren und sind die verhältnismäßig hohen Arbeitslosenzahlen).

Gegen diese "Neuen Moderaten" konnte dann auch ein zunehmend kämpferischer und antagonistischer Wahlkampf der letzten zwei Wochen vor der Wahl nichts mehr ausrichten, auch wenn dadurch sicherlich noch ein paar Stimmen gerettet werden konnten. Die für kurze Zeit wiedergewonnene Sprache der Sozialdemokratie passte nicht so recht zum Wahlprogramm des rot-rot-grünen Blocks. Auf der einen Seite kritisierte man die riesige Steuersenkung der Regierungsallianz seit 2006, andererseits fanden sich im eigenen Wahlprogramm nur recht bescheidene Steueranhebungsbeträge, um der Mittelschicht keine allzu große Furcht vor einem möglichen Regierungswechsel zu machen. Insofern sorgte die kämpferische Rhetorik im Endspurt des Wahlkampfes bisweilen eher für Verwunderung als für Begeisterung. Die Mobilisierung der eigenen Wählerschaft in den unteren und mittleren Schichten blieb entsprechend dürftig.

Sprachlosigkeit kennzeichnet auch den momentanen Stand in und um die schwedische Sozialdemokratie. Ein erster Schritt nach der Wahl war die Einrichtung von Krisenkommissionen, die auf programmatischer aber auch organisatorischer Ebene neue Impulse für einen Sonderparteitag im nächsten Jahr erarbeiten sollen. Der Erarbeitung von Deutungshoheit in der gesellschaftlichen Mitte wird dabei eine große Rolle einnehmen und in diesem Kontext die Frage, ob und wie das rot-rot-grüne Bündnis fortgeführt werden kann und soll. Die eigene Sprachlosigkeit überwinden muss der erste Schritt zur Rückgewinnung von "Tolkningsföreträde" sein - das heißt Deutungshoheit auf Schwedisch.


Dr. Christian Kellermann arbeitet für die Friedrich Ebert Stiftung in den Nordischen Ländern.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2010, Heft 180, Seite 57-59
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010