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EUROPA/791: Spanien - El Ejido, 10 Jahre danach, Teil 2 (Archipel)


Archipel Nr. 181 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - April 2010

El Ejido, 10 Jahre danach
2. Teil

Von Nicholas Bell (EBF, Frankreich)


Um das heutige Leben der ImmigrantInnen im Plastikmeer besser zu verstehen, haben wir Cherif, einen jungen Senegalesen, der hier am Aus- und Weiterbildungsprogramm der SOC teilnimmt, im Lokal "Ascen Uriarte" in Nijar getroffen. Wir sprachen auch mit einer Gruppe rumänischer Leute, die in Tabernas, 40 km in Richtung der Berge, Opfer von mehrfachem arbeitsrechtlichem Missbrauch durch ihren Chef geworden waren.


Cherif: «Ich bin 2008 angekommen, als gerade Leyman Brothers in Konkurs gingen. Die Leute hatten Angst, weil sie von der Krise betroffen waren. Im Baugewerbe gab es keine Arbeit mehr, alle Spanier und Immigranten, die in diesem Sektor beschäftigt waren, haben sich auf die Landarbeit gestürzt. Ich habe unvorstellbare Arbeitsbedingungen vorgefunden: Die Gewächshäuser sind Arbeitsstätten des Schweisses, oder auch des Bluts. Es gibt in dieser Region zwischen Nijar und El Ejido nichts anderes. Für die Immigranten ohne Papiere befindet sich die einzige Perspektive, ihren Lebenserhalt zu sichern, in den Gewächshäusern.»


Die Frage der Unterkunft

«Was man hier vorfindet ist miserabel, ich zögere noch zwischen miserabel und unmenschlich. Es gibt letztendlich beides. Diejenigen, die keine Arbeit finden, können keine Wohnung anmieten. Also weichen sie auf Plastik aus, sie leben in Chabolas, Hütten aus Plastik, oder sie ziehen in Cortijos, verlassene und verfallene Häuser auf dem Feld, deren Besitzer weggezogen sind. Es sind Wohnungen ohne fließendes Wasser, Strom, ohne Toilette. Jedes Mal, wenn man etwas sieht, sagt man sich: Das ist schlimm, aber beim nächsten Mal sieht man etwas noch Schlimmeres. Für mich sind wir hier bereits ganz unten angekommen, aber anstatt etwas zu verbessern, bleibt man dort und bohrt noch etwas tiefer. Die andere Seite ist die Explosion der Mietpreise, die auf Immigranten zukommen. Für eine Wohnung würde man normalerweise zwischen 400 und 500 Euro bezahlen, aber das Minimum, das von einem Migranten erwartet wird, liegt bei 700. Sie nehmen eine Garage: Anstatt Autos unter zu stellen, stellen die Besitzer Betten im Abstand von einigen Zentimetern hin und vermieten jedes für 100 bis 150 Euro im Monat. Sie sind Weltmeister darin, den Raum so gut es geht auszunutzen, das ist noch einträglicher als die Landwirtschaft!»


Arbeitsbedingungen und Anstellungsverhältnisse

«Die Bandbreite der Löhne liegt zwischen 20 und 35 Euro am Tag. Die Arbeitgeber beschäftigen einige MigrantInnen mit Papieren, aber das ist Augenauswischerei. Man nimmt ein oder zwei MigrantInnen mit Papieren und mischt sie mit zehn, dreizehn anderen ohne Papiere. Der Lohnunterschied beträgt zwei Euro. Das dient dazu, öffentlichen Stellen gegenüber sagen zu können, dass man Leute mit Papieren beschäftigt. Was in Wirklichkeit interessiert, sind die Papierlosen, die gefügig sind, Abgaben entrichten, die gehorchen und denen man Tag für Tag für ein einfaches Ja oder Nein etwas abpressen kann. Die Patrons pfeifen auf die hygienischen Bedingungen oder minimale Sicherheitsstandards für die Arbeiter. In den Pausen kommt es vor, dass Leute, die mit Pestiziden gearbeitet haben, ihr Mittagspausenbrot mit ihren Händen essen, die noch schmutzig von den Chemikalien sind. Jeder muss sich selbst informieren. Es gibt keine Kontrolle der Arbeits- und Sicherheitszustände. Wenn die Inspektoren kommen, und sie kommen sehr selten, geht es nur darum, die Papiere der Arbeiter zu kontrollieren. Beim Umgang mit Pestiziden in den Gewächshäusern hat der Arbeiter eine kleine Atemschutzmaske auf der Nase, und die Hände und der Rest des Körpers sind ungeschützt. Die Maske verhindert den Geruch der Pestizide nicht. Ich habe Leute kennengelernt, die direkt bei der Arbeit mit den Pestiziden ohnmächtig geworden sind und andere, die ständig darunter leiden. Der Patron stellt sicher, dass der Arbeiter im Krankenhaus nicht sagt, was ihm passiert ist: 'Sag nicht, dass Du dabei umgekippt bist, sondern dass Du einfach so gefallen bist'. Ohne Vertrag, ohne Bindung, ohne Verpflichtung entlässt der Patron im Falle eines Arbeitsunfalls den Arbeiter, der sich dann woanders Arbeit suchen muss. Wer im Gewächshaus ohnmächtig wird, hat sozusagen seinen Arbeitsplatz verloren.»


Bei den rumänischen Arbeiterinnen

Die Gruppe der 18 Rumäninnen, die wir in Tabernas getroffen haben, und von denen ein Großteil Frauen sind, bestätigen uns die extreme Verachtung, mit der sie ihr Chef behandelt. Sie haben drei Monate gearbeitet, von Oktober bis Anfang Januar, ohne ihren Lohn zu erhalten. Als sie protestierten, wurden sie gefeuert.

Sie durften sich nicht waschen oder ihre Pausenmahlzeit einnehmen, es gab kein fließendes Wasser. Nach der Arbeit mit Pestiziden mussten sie sich mit dem Wasser waschen, das sie selbst mitgebracht hatten. Dabei handelt es sich um einen Arbeitgeber, der 40 Gewächshäuser in El Ejido und 15 in Tabernas besitzt. Laura und Abdelkader von der SOC haben mit den zwei spanischen Vorarbeitern gesprochen, die, so die rumänische Gruppe, die ArbeiterInnen permanent übel beleidigt haben.

Laura, die juristische Expertin der Gewerkschaft, hat anschließend den Patron in El Ejido angerufen und zudem veranlasst, dass die ArbeiterInnen eine Anzeige erstatten, um ihre Löhne zu erhalten und ihrem Recht Geltung zu verschaffen. Leider hat die Gruppe der Rumäninnen zu spät mit der SOC geredet, um rechtzeitig gegen ihre Kündigung vorzugehen und die Frist von 20 Tagen überschritten.

Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie viele der ausländischen ArbeiterInnen, in Gruppen oder einzeln, diesen Arbeitsrechtsverletzungen unterworfen sind, ohne von der Existenz der Gewerkschaft zu wissen.


Eine Gewerkschaft

Cherif: «Das Kapital, eine Gewerkschaft zu haben, einen Ort, wo man sich wiederfindet und frei von sich reden kann, von seinen Rechten reden kann. Die Gewerkschaft ist sehr wichtig, aber es ist hier extrem schwierig, gute Ergebnisse zu erzielen. Man kann das Meer nicht mit den Händen aufhalten. Jeden Tag kommen die Leute her, um die Gewerkschaft um Hilfe zu bitten. Sie sagen, dass sie den ganzen Monat gearbeitet haben und ihr Chef sie nicht bezahlen will. Andere verlieren gerade ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht bezahlen können. Manchmal kennt der Arbeiter nicht einmal den Namen seines Arbeitgebers, gerade mal, dass er Juan oder Paco heißt. Die Mehrzahl derer, die aus den subsaharischen Ländern kommen, sind Analphabeten. Sie können die Adresse ihres Chefs nicht angeben. Die Gewerkschaft versucht dennoch ihr Bestes, um den Arbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen. »

Hafid: «Derzeit muss man anerkennen, dass die SOC die einzige Gewerkschaft ist, die mit MigrantInnen arbeitet. Es ist die einzige Gewerkschaft, die Fort- und Weiterbildung und gewerkschaftliche Aktivitäten anbietet. Sie ist der einzige Anlaufpunkt für die Migranten in dieser Zone. Es gibt keine massenhafte Beteiligung, aber es ist der einzige Ort, wo man sich treffen, debattieren und sich über seine Rechte informieren kann.

Die Situation der MigrantInnen hier ist sehr schlimm. Ich unterstütze die Arbeit der SOC in dieser Gegend und hoffe, dass man in naher Zukunft Aktivitäten unternimmt, die es uns allen erlauben, aktiv am gesellschaftlichen Leben hier vor Ort und an der spanischen Gesellschaft allgemein teil zu nehmen. Ich hoffe dass es uns gelingt, die Situation der Arbeiter in der Region zu verbessern.»


Ein neuer Gewaltausbruch

Aber die Perspektiven sind eher düster. Bei einem Treffen in der Universität von Almeria wies Francisco Checa, Professor für Anthropologie und Direktor des Instituts für Migrationsforschung, das jüngst gegründet wurde, darauf hin, dass ein neuer Gewaltausbruch in der Region, am ehesten in der Nähe von Nijar, durchaus möglich sei.

Cherif: «Nach meiner Auffassung sind alle Zutaten dafür vorhanden, dass das in Nijar explodiert. Nehmen wir die explosionsartige Ausbreitung der Chabolas, der Plastikhütten; damit verbunden die Anzahl der Immigranten ohne Papiere und ohne Arbeit, ein rechtsgerichteter Bürgermeister, der in bestimmter Hinsicht das Verhalten der Unternehmer willkommen heißt, die die Immigranten arbeiten lassen, ohne sie zu bezahlen. Mit all dem ist eine Explosion von zwei Seiten aus möglich. Die Chabolas sind nicht mehr so weit von den Ortschaften entfernt. Was die schönen Häuser und die schönen Autos von ihnen trennt, sind 50 oder 100 Meter. Die Grenze ist schnell überschritten - von einer Seite oder von der anderen.»

Es ist schwer, unter diesen Umständen Optimist zu sein.

Cherif: «Ich denke lieber daran, dass es nach dem Regen schönes Wetter geben wird - aber leider muss man sich etwas anderes vorstellen. Das was in El Ejido geschehen ist, zum Beispiel. Es muss festgestellt werden, dass die Voraussetzungen für Gewalt gegeben sind - dass davor gewarnt werden und dass es verhindert werden muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ganze lokale Bevölkerung rassistisch ist, der Ausgrenzung und der Apartheid das Wort redet. Ich glaube, dass es hier auch gute Leute gibt, mit denen man reden und denen man die Situation erklären muss. Das wird weder schnell gehen noch einfach sein, aber das ist, was im Bereich des Möglichen übrig bleibt.»


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 181, April 2010, S. 2-3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2010