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ASIEN/993: Die Milliardäre werden mehr, die Armen auch (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 146, 4/18

Die Milliardäre werden mehr, die Armen auch
Asien wird trotz Wirtschaftswachstum die meisten SDGs nicht umsetzen

von Astrid Lipinsky


Der Großteil der Weltbevölkerung - und der Frauen - lebt in Asien. "Asien" umfasst - mit einem Drittel der Erdoberfläche - den größten Teil der Erde. Seit etwa zwei Jahrzehnten bestaunen wir die jährlichen Wachstumsraten der chinesischen (und indischen) Wirtschaft. Und wir denken uns: Wenn China die Mehrzahl der Milliardäre weltweit stellt, dann müssten doch gerade hier die SDGs eine Chance auf ihre Verwirklichung haben.


Die UN-ESCAP, die regionale Vertretung der Vereinten Nationen für Asien, vertritt 53 Staaten und weitere neun Gebiete. 2018 hat sie eine Evaluation über den Fortschritt der Umsetzung der SDGs bis 2030 veröffentlicht. Diese fällt überraschend kritisch bis negativ aus. Generell kommt sie zu dem Schluss, dass Asien nur wenige der SDGs erfüllen wird und für die Berücksichtigung von weiteren inzwischen die Zeit nicht reicht.


Die Ungleichheit nimmt zu

Eines der größten Hindernisse bei der Umsetzung ist die steigende Ungleichheit in Asien - ganz entgegen SDG 10, das die Reduzierung von Ungleichheiten vorsieht(1). UN-ESCAP stellt seit 2000 eine Zunahme der Ungleichheit zwischen Staaten und innerhalb von Staaten fest: Die Region riskiert eine weiterhin steigende Ungleichheit, vor allem hinsichtlich von Gender-Gleichberechtigung, Einkommensunterschieden und dem Ressourcenzugang, was die Verletzlichkeit von vielen erhöhen wird und dazu führen könnte, dass Klima- und Armutsflüchtlinge in der Region zur Norm werden.

Gleichzeitig fehlen in Asien viele Zahlen für eine statistische Bewertung der Umsetzung der SDGs. Von der Zunahme von Armut und dem Verlust der Lebensgrundlagen sind Frauen in Asien, wie überall auf der Welt, überproportional betroffen.


Wo Menschen hungern, ist die Mehrzahl weiblich

Zwar hat zwischen 2002 und 2013 die Gesamtzahl der von extremer Armut Betroffenen in Asien um zwei Drittel abgenommen - aber unter den Working Poor sind regelmäßig mehr Frauen als Männer. Wären die Ungleichheiten in den bevölkerungsreichsten Ländern China, Indonesien, Bangladesch und Indien, wo 70% der Asiat_innen leben, nicht so massiv angestiegen, hätten innerhalb der vergangenen zehn Jahre knapp 153 Mio. Menschen mehr aus der Armut befreit werden können. Mehr Frauen hätten die Möglichkeit bekommen, die Mittelschule abzuschließen. In vielen ärmeren ländlichen Gebieten Asiens können das derzeit nur fünf von 100 Mädchen.


Boomende Weltregion und Feminisierung der Lohnarbeit

Asien wächst weiter. Es ist der Kontinent mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt und besitzt die Mehrzahl der Produzent_innen und Konsument_innen; und auch den höchsten Zuwachs an Millionär_innen und Milliardär_innen (inklusive einiger Frauen) pro Jahr. Nur: Der globale wirtschaftliche Zyklus von Boom und Krise bewahrheitet sich leider, wie sich jetzt zeigt, auch in Asien. Die deutsche Stiftung Asienhaus hat 2017 einen Blick auf den Schlagschatten des asiatischen Wirtschaftswunders geworfen und zeigt die Negativfolgen mit Beispielen vorwiegend aus den kleineren asiatischen Ländern, die weniger vom Wachstum profitieren, als sie den Preis des Wachstums bezahlen(2).

"Das Risiko tragen letztlich die Schwächsten, nämlich die Frauen. Bei dem Einsturz des Rana Plaza Fabrikgebäudes 2013 kamen 1.126 Arbeiterinnen ums Leben, mehr als 2.500 kamen nur schwer verletzt aus den Trümmern", so Christa Wichterich im Asienhaus-Bericht. "Wachstum" bedeute, dass Industrien entstehen, die bevorzugt Frauen vom Land, weil besonders billig und "gefügig", ausbeuten, ohne adäquate Kompensation (Weiterbildung, Garantie langfristiger Beschäftigung, soziale Versicherung einschließlich der Familienangehörigen). Das findet in der Textil- und Elektronikindustrie statt und geht bis zum globalen Export von Frauen als Pflegekräfte.


Tod durch vergiftete Umwelt

Fast die Hälfte der Asiat_innen nutzt heute immer noch umweltschädliche traditionelle Methoden zum Kochen und Heizen, und nur 40% von ihnen haben Zugang zu Gesundheitsversorgung, bemängelt UN-ESCAP in ihrer Evaluation. Mehr als die Hälfte der jährlich über vier Millionen Toten weltweit, die an Luftverschmutzung in Innenräumen sterben, werden allein in China und Indien verzeichnet. Unnötig zu betonen, dass vorwiegend Frauen giftige Küchendämpfe einatmen und dass sie die ersten sind, die auf den Arzt verzichten.

Zwar betreffen SDG 14 (Bewahrung der Ozeane) und SDG 15 (Schutz der Ressourcen von Land und Wald) Frauen nicht direkt, aber ihre Nichteinhaltung schädigt sie als das schwächere Geschlecht ebenfalls überproportional. Von einer geschädigten Umwelt und Umweltgiften sind die Frauen als Köchinnen der Familie und Verantwortliche für die gesunde Ernährung der Kinder als erste betroffen. Vorwiegend Frauen bleiben auf dem Land zurück, wenn Männer in die Städte migrieren, und sind dann abhängig von den natürlichen - bedrohten - Ressourcen.

Frauen leiden also stark unter Umweltverschmutzung und dem Verlust von Biodiversität, der ganz Asien betrifft. Lokale Regierungen jedoch berücksichtigen z. B. Anliegen von Frauen, verschmutzte Flüsse zu reinigen, nicht, sondern befürworten den kurzfristigen Profit durch die Ansiedlung von umweltschädlichen Betrieben. Staatsregierungen messen ihren Erfolg am Wirtschaftswachstum ohne Einberechnung der Umweltbelange.


SDG 4: Schulbildung für alle Mädchen

ESCAP gibt Asien für die SDG 1 (Hunger) und SDG 3 (Gesundheit) gute Fortschrittsnoten. Gleichzeitig beklagt ESCAP, dass Asien nur SDG 4 (Bildung) - und dieses auch nur in einigen Regionen - erreichen wird.

Das Center for Global Education der US-amerikanisch-asiatischen NPO Asia Society legt seinen Fokus auf die Förderung der Jugend für das 21. Jahrhundert und analysiert und vergleicht regelmäßig die Bildungssysteme von Hongkong, Japan, Korea, Singapur und Taiwan. Auch die SDGs nehmen einen wichtigen Stellenwert in der Arbeit der Asia Society ein. Speziell die für Frauen und Mädchen besonders relevanten Ziele Nummer 4 (Bildung) und 5 (Geschlechtergleichheit) stehen heuer im Mittelpunkt.

2018 hat die Asia Society den Bericht Investing in Knowledge Sharing to Advance SDG 4(3) vorgelegt - inklusive der Forderung nach globaler Zusammenarbeit in der Bildung für alle. Diese Forderung hat die Asia Society bereits 2016 im Bericht The Learning Generation(4) erhoben, wo gleich auf Seite 2 den asiatischen Erfolgen (mehr als 80% Oberschulabsolvent_innen in Japan, Korea und Taiwan) jene in Afrika mit weniger als 5% Oberschulzugang für Jugendliche gegenübergestellt wurden.

Heißt das, SDG 4 ist in Asien eine Erfolgsgeschichte? Ja und nein. Die Studie der Asia Society repräsentiert einerseits nur den am weitesten entwickelten Teil von Asien und betrifft nicht die Mehrheit der Asiat_innen. Die Studie behauptet andererseits, dass die gemeinsame kulturelle Basis auch weitere Teile Asiens - vor allem China - betrifft. Die Teile der ehemaligen Sinosphäre haben jedoch traditionell auf Grundlage des Konfuzianismus der Bildung einen hohen Stellenwert eingeräumt. Bildung qualifizierte für das politische Amt, auch wenn Mädchen von der außerfamiliären Schulbildung und den staatlichen Examina ausgeschlossen waren.


Das Beispiel Taiwan

Das formale Schulsystem in Taiwan mit seiner zwölfjährigen Schulpflicht (seit 2014) und der Definition von "Basisbildung" bis hin zum Abschluss eines Masterstudiums wirkt sich zugunsten von Mädchen und Frauen aus. Das zeigen ihre besseren Schulnoten und Prüfungsergebnisse beim Universitätszugang. Dass Mädchen und Frauen traditionell Fächer wie Pädagogin oder Kinderärztin bevorzugen, hat sich jedoch nicht geändert.

Die hohe Bildung änderte überdies auch kaum etwas am Ausscheiden der Frauen aus dem Beruf bei Heirat und Mutterschaft. Nach wie vor lehnen Arbeitgeber die Beschäftigung von Frauen aufgrund ihrer (potentiellen) familiären Verantwortung ab. Das gilt auch im sozialistischen China, wo es erst seit 1986 eine neunjährige Schulpflicht gibt. Gute Bildungssysteme und hohe Bildungsabschlüsse von Frauen führen also nicht automatisch zu mehr Gleichberechtigung.


Agenda 2030 - Frauen und die SDGs in Asien

Die SDGs sind vor allem bekannt für ihr Versprechen "to leave no one behind" (niemanden zurückzulassen). Wirtschaftswachstum wird positiv gesehen als "die steigende Flut, die alle Boote anhebt". Es hat sich aber gezeigt, dass das Frauenboot im Schlamm stecken bleibt und eben nicht von der Wachstumsflut profitiert.

Das Versprechen, alle mitzunehmen, haben die SDGs noch nicht erfüllt. Trotz der geschilderten Fortschritte in der Bildung steigt die Zahl der Asiatinnen, die die positive Entwicklung nicht erreicht. Ihr Ausschluss bedroht die soziale Stabilität und die Kooperationsbereitschaft zwischen den Staaten Asiens, gemeinsam gegen Umweltzerstörung und Klimawandel sowie bei der Umsetzung der übrigen SDGs vorzugehen.


ANMERKUNGEN:

(1) www.unescap.org/sites/default/files/publications/ThemeStudyOnInequality.pdf

(2) www.asienhaus.de/uploads/tx_news/2017_Windschatten-des-Wachstums__web.pdf

(3) https://asiasociety.org/education/investing-knowledge-sharing-advance-sdg-4

(4) https://report.educationcommission.org/report/


LESETIPP:
UN Women (2018): Gender Equality and the Sustainable Development Goals in Asia and the Pacific,
http://asiapacific.unwomen.org/en/digital-library/publications/2018/10/apsdg

ZUR AUTORIN:
Astrid Lipinsky lehrt am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien und leitet seit 2009 das dortige Wiener Zentrum für Taiwanstudien. Ihre Texte finden sich auf ihrer Homepage:
www.sinojus-feminae.eu

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 146, 4/2018, S. 11-13
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Astrid Lipinsky
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2019

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