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ASIEN/974: Stagnation und Repression? - Über Chinas aktuelle Entwicklung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2017

Stagnation und Repression?
Über Chinas aktuelle Entwicklung

von Thomas Heberer


Seit 2014 mehren sich die Medienberichte hierzulande, dass die politische Entwicklung in China unter Xi Jinping zunehmend repressivere Züge annehme. Wissenschaftler würden stärker gegängelt und inhaltlich eingeengt, internationale Organisationen und NGOs in China durch ein neues Gesetz in ihren Tätigkeiten eingeschränkt, Kritiker abgestraft oder inhaftiert, ideologisch die Schrauben angezogen, überhaupt kehre Xi Jinping zu Methoden der Mao-Ära zurück. Es wird in der Tat stärker zentralisiert, reglementiert und institutionalisiert. Dies hängt in erster Linie mit einem Beschluss der politischen Führung von Ende 2013 zusammen, ein neues Entwicklungs- und Wachstumsmodell in China durchzusetzen. Das alte Modell war gekennzeichnet durch die Konzentration auf reines (quantitatives statt qualitatives) Wirtschaftswachstum, Investitionen in industrielle Überkapazitäten (Stahl, Zement etc.) und Exportsektoren; wachsende Einkommensdisparitäten und Ungleichheit, ein weitverbreitetes Ökologiedesaster und einen schwachen Binnenkonsum. Dieses Modell entsprach nicht mehr den Anforderungen an eine sich kontinuierlich entwickelnde Modernisierung. Die politische Führung beschloss daher im November 2013 ein neues Wachstums- und Entwicklungsmodell, das bis 2020 realisiert werden soll. Es wird als "Fünfte Modernisierung" bezeichnet und zielt auf die Modernisierung der Regierungsführung ab. Drei Kernpunkte umfasst das neue Programm:

Modernisierung der Regierungsführung des Staates, d. h. Umwandlung des Staates in eine Dienstleistungseinrichtung sowie umfangreiche Reformen des Finanz-, Fiskal-, Steuer- und Bodensystems. Ferner soll das neue Modell den Kriterien von "Nachhaltigkeit" im Sinne einer umweltfreundlichen und ökologischen Entwicklung entsprechen und die Funktionalität des Rechts gestärkt werden. Gegenwärtig ist (noch) nicht an die Herausbildung eines Rechtsstaats gedacht, sondern an die Auskleidung des Rechtssystems im Sinne von "Regieren mit Hilfe des Rechts". Als Voraussetzung für das Funktionieren eines Rechtsstaats muss Recht erst einmal gesellschaftlich und politisch durchgesetzt werden, sich zudem ein Rechtsbewusstsein unter der Bevölkerung (und auch unter der Beamtenschaft und Funktionärsschicht) entwickeln.

Weiterer Ausbau marktwirtschaftlicher Strukturen, wobei der Staat den Umbau zur Marktwirtschaft kontrolliert zu fördern und negative Auswirkungen des Marktes einzugrenzen versucht, um das Entstehen einer regellosen Marktgesellschaft zu verhindern. Dem Staat wird also weiterhin eine regulierende Rolle zugeschrieben. Der Privatsektor, ohnehin der Motor der Wirtschaftsentwicklung, soll weiter ausgebaut und gefördert werden, vor allem im Hinblick auf die Höherwertigkeit der Industrieproduktion, die Effizienz der Unternehmen und ein effektiveres Unternehmensmanagement, zugleich auch im Hinblick auf technische Innovationen und Investitionen im Ausland (Erwerb von Grundlagen-, Hochtechnologie- und zukunftsorientierten Unternehmen in Europa und Nordamerika). Überdies wird eine Reform der Staatsbetriebe angestrebt. Diese sollen sich nicht nur im marktwirtschaftlichen Wettbewerb behaupten, sie sollen auch zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden. Staatliche Monopolsektoren wie Erdöl, Erdgas, Elektrizität, Eisenbahn, Telekommunikation, Ressourcenentwicklung und öffentliche Dienstleistungen sollen nun auch für nichtstaatliches Kapital geöffnet werden. Zugleich werden staatseigene Unternehmen ermutigt, Anteile an privaten Unternehmen zu erwerben. Durch den Aufbau eines gemischten Eigentumssystems sollen die Kapitalallokation und die betriebliche Effizienz der staatseigenen Unternehmen verbessert werden.

Reorganisation der Gesellschaft: Städtische und ländliche Räume sollen stärker miteinander verbunden, soziale Sicherungssysteme für alle Chinesen geschaffen, das seit den 50er Jahren bestehende Wohn- und Aufenthaltsrecht (Hukou-System) reformiert werden.

Funktionalität von Politik: der Staat als Entwicklungsagentur

Im Mittelpunkt der chinesischen Entwicklung stehen der Staat und dessen Funktion. Ohne dessen Funktionalität mitzudenken, ist es schwierig, eine einigermaßen fundierte Einschätzung der chinesischen Entwicklung zu gewinnen. Ich kennzeichne diesen Staat als "Entwicklungsstaat". "Entwicklungsstaaten" unterscheiden sich vom Terminus "Entwicklungsland". Bei den ersteren handelt es sich um Staaten, die bewusst und zielgerichtet die Entwicklung eines Landes betreiben und zwar über alle gesellschaftlichen und politischen Widerstände hinweg. Dieses Entwicklungsstreben vollzieht sich erfolgreich und beinhaltet nicht nur eine Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung, sondern auch eine spürbare Reduzierung von Armut und eine signifikante Verbesserung der Lebensbedingungen und des Lebensstandards der Bevölkerung. Der Begriff des "Entwicklungsstaates" wurde ursprünglich auf die Analyse der Entwicklung in Japan angewandt, später auf Südkorea, Taiwan, Singapur und Malaysia. In all diesen Gesellschaften spielte der Staat eine signifikante Rolle als Entwicklungsagentur, wobei er die Entwicklung bzw. Modernisierung mit Hilfe von Steuerungsplänen plante und steuerte. Genau diese Entwicklung finden wir im gegenwärtigen China.

Es handelte sich in allen Fällen von "Entwicklungsstaaten" zunächst um autoritäre Gebilde, in denen einzelne Parteien (Singapur, Taiwan, China) oder das Militär (Japan, Südkorea) die Macht ergriffen hatten, einerseits repressiv herrschten, andererseits aber erfolgreich die Entwicklung des Landes forcierten. Zugleich griffen bzw. greifen sie zu repressiven Mitteln, wenn die innenpolitische Opposition gegen ihre Entwicklungsziele und -politik zunimmt.

In allen Fällen stützten sich Entwicklungsstaaten und heute auch China auf eine effektive Bürokratie, die die jeweilige Politik in die Tat umsetzte. Der chinesische Staat greift nicht nur regulierend in die Markt- und Unternehmensentwicklung ein, sondern übernimmt zugleich eine makroökonomische und politische Steuerungs- und Regulierungsfunktion. Überdies versucht er eine bestimmte Ferne von Interessengruppen (Staatsbetriebe, Banken, Privatunternehmer, militärisch-industrieller Komplex, Streitkräfte) zu wahren, um eine von Sonderinteressen relativ unabhängige Entwicklung des Landes betreiben zu können.

Gegen das neue Entwicklungsmodell von 2013, verbunden mit einer großangelegten Antikorruptionskampagne (seit 2014) - der größten, die jemals in China stattgefunden hat -, gibt es massiven Widerstand verschiedenster Interessengruppen (Staatsbetriebe, lokale Funktionäre, Banken etc.). Die Antikorruptionsbekämpfung ist ein spezifischer Mechanismus, um diesen Widerstand zu brechen. Korruption wurde niemals nur an sich bekämpft, sondern besaß über das Moment der Abschreckung hinaus stets auch eine politische Funktion (Ausschaltung der Gegner einer spezifischen Politik, heute der Opponenten der Politik des Umbaus des Entwicklungsmodells). Sie dient zudem der Wiedergewinnung zentraler Kontrolle und ist im Interesse der Konsolidierung und der Schaffung neuen Vertrauens in die Partei.

In solchen Neuordnungsphasen reagiert der Staat im Interesse der Stabilisierung des Systems stets mit stark repressiven Maßnahmen. Die große Bevölkerungsmehrheit begrüßt ein solches Vorgehen, denn die Antikorruptionskampagne richtet sich nicht gegen die normale Bevölkerung, sondern gegen die Funktionäre. Und der Umbau zu einem neuen Entwicklungsmodell entspricht den Zielen einer modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung. Er wird von der Bevölkerungsmehrheit befürwortet, wenn er keine nachhaltig negativen Folgen mit sich bringt, etwa im Hinblick auf Beschäftigung, Sozialversorgung oder Eigentumssicherheit.

Chinas Problemflut

China steht gegenwärtig vor einer Vielzahl ökonomischer, sozialer und politischer Probleme: Ökonomisch stellt sich die Frage der "Falle der mittleren Einkommen". Gemeint ist, dass sich mit steigenden Einkommen und höherem Lebensstandard die Pro-Kopf-Einkommen auf international mittlerem Niveau einpendeln. Mittlerweile stagniert das Wachstum, die Produktionskosten steigen und die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verringert sich. Denn dort konkurriert China einerseits mit Billiglohnländern, andererseits kann es mit der Qualität der Produkte der entwickelten Länder noch nicht mithalten. Ökonomen in und außerhalb Chinas warnen, das Land könne in diese Falle geraten, mit negativen Folgen für dessen Stabilität.

Gesellschaftlich gehören die wachsende Einkommensungleichheit, Probleme der Urbanisierung und. der Integration von städtischen und ländlichen Räumen, die Entwurzelung der Landbevölkerung, die Notwendigkeit des Umbaus des Bildungswesens zu einem für Kreativität und Innovation förderlichen System, die Überalterung der Gesellschaft, gewaltige Umweltprobleme, der moralische Verfall der Gesellschaft sowie die Erosion des traditionellen Wertesystems, ethnische Spannungen und das Anwachsen des Nationalismus zu den Kernproblemen.

Politisch gesehen ist kurz- und mittelfristig kein Regimewandel zu erwarten. Auch mit "großen Reformen" wie der Etablierung eines unabhängigen Rechtssystems oder von Gewaltenteilung ist nicht zu rechnen. Allerdings sind weitere Reformen abzusehen, etwa im Hinblick auf die genannte Transformation des ökonomischen Modells, politische Institutionalisierung und Verbesserung der Regierungsführung. Politische Reformen im Sinne tiefgehenden politischen Wandels sind nicht in Aussicht. Zu groß ist die Befürchtung der politischen Führung, eine zeitgleiche Parallelität von grundlegenden Wirtschafts- und politischen Reformen könne zu Instabilität führen und das gesamte politische System ins Wanken bringen. Erst für die Zeit nach der Schaffung einer stabilen Wirtschaftsbasis sind politische Reformen vorgesehen. Ob die Befürchtungen, das Ausbleiben politischer Reformen werde sich letztlich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung auswirken, zur Realität werden, bleibt abzuwarten.

Damit ein politisches Gebilde stabil bleibt, müssen spezifische Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehören neben zivilgesellschaftlichen Strukturen größere Freiheiten für Medien und NGOs, die Herausbildung von Bürgersinn und Bürgerpflichten, ein funktionierendes Rechtssystem, das die Bürger vor staatlicher Willkür schützt, ein Rechtsbewusstsein - sowohl der Bürger als auch der Beamtenschaft - und zivile Formen von Konfliktlösung. Zivilgesellschaftliche Strukturen, ein Bürgerbewusstsein und ein funktionierendes Rechtssystem befinden sich noch in einer frühen Entwicklungsphase. Allerdings fungiert der chinesische Staat heute als politischer Unternehmer und politischer Architekt, der funktionierende Strukturen schaffen und das Land entwickeln will. Es bleibt abzuwarten, inwieweit es der gegenwärtigen Führung gelingen wird, die genannten Probleme effektiv zu lösen.


(Die Studie Chinas gesellschaftliche Transformation: Entwicklungen, Trends und Grenzen von Thomas Heberer und Armin Müller für die Friedrich-Ebert-Stiftung kann online abgerufen werden:
http://library.fes.de/pdf-files/iez/13075.pdf )


Thomas Heberer ist Professor für Politikwissenschaft und Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Zuletzt erschien bei Springer VS: Die Politischen Systeme Ostasiens (zus. mit Claudia Derichs).
thomas.heberer@uni-duisburg-essen.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2017, S. 17 - 20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2017

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