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ASIEN/955: Pakistan - Notstand in Erdbebengebieten, Bausicherheit jahrelang missachtet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. Oktober 2015

Pakistan: Notstand in Erdbebengebieten - Bausicherheit jahrelang missachtet

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Bewohner der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die am schwersten von dem jüngsten Erdbeben getroffen wurde, inspizieren Gebäudeschäden
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

PESHAWAR (IPS/IRIN*) - "Meine Großmutter lief schnell in das Zimmer, um mich zu retten. Dann stürzte plötzlich das Dach ein, und sie war tot." Schockiert erzählt die zwölfjährige Mushtari Bibi aus der nordwestpakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa von dem heftigen Erdbeben, das am 26. Oktober Pakistan und mehrere Nachbarländer erschütterte. Mehr als 400 Menschen wurden getötet. Das Mädchen ist unter den etwa 1.950 Verletzten, die die Katastrophe überlebt haben.

"Unser Haus war aus Lehm und konnte den Erdstößen nicht standhalten", sagt Bibi. "Es war die Hölle. Später kam ich im Krankenhaus wieder zu mir."

In Khyber Pakhtunkhwa, die von vier pakistanischen Provinzen am schlimmsten von dem Beben betroffen wurde, starben etwa 200 Menschen. Die meisten Opfer kamen bei Erdrutschen in gebirgigen Gebieten ums Leben. Mushtaq Ahmed Ghani, der Informationsminister der Provinz, teilte mit, die Regierung habe den Notstand ausgerufen.

Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren hat sich in Pakistan ein starkes Erdbeben ereignet. 2005 waren bei einem verheerenden Beben in Kaschmir mindestens 70.000 Menschen getötet worden. Etwa drei Millionen Pakistaner wurden damals obdachlos.


Etwa 5.000 Häuser eingestürzt

Am vergangenen Montag wurden Erdstöße der Stärke 8,1 auf der Richter-Skala gemessen. Nachdem etwa 5.000 Gebäude zerstört worden sind, liegt das öffentliche Leben in den Städten weitgehend lahm.

"Wir verbringen die Nächte ohne Schlaf, weil wir befürchten, dass bei Nachbeben Hochhäuser einstürzen könnten", sagt der 44-jährige Muhammad Wali, dessen Sohn ums Leben kam. "Die Leute haben sehr große Angst vor weiteren Beben."

Viele Bewohner der gefährdeten Gebiete verbringen die Nächte seither im Freien. Laut dem Regierungschef von Khyber Pakhtunkhwa, Pervez Khattak, hat die Regierung in den Krankenhäusern den Notstand ausgerufen und mehrere Behörden beauftragt, Hilfe zu leisten. Im Fokus stehen die nördlichen Distrikte Chitral, Shanga und Lower Dir, die am schwersten getroffen worden sind. "Dort sind mehr als die Hälfte der Toten gezählt worden", sagt Khattak.

Der Leiter der Gesundheitsbehörde der Provinz, Pervez Kamal, sieht die medizinische Versorgung inzwischen unter Kontrolle. "Ärzte und medizinische Teams sind in die Gebiete der Provinz entsandt worden, die am schwersten vom Erdbeben getroffen wurden." Etwa 300 Menschen wurden laut Kamal mit Kopfverletzungen und Knochenbrüchen in Hospitäler eingeliefert. Vor allem Frauen und Kinder hätten Mehrfachverletzungen erlitten.

Muhammad Akram, ein Straßenhändler aus dem Distrikt Shangla, wurde als Notfallpatient zur Behandlung in die Provinzhauptstadt gebracht. Nie zuvor habe er eine derart schlimme Situation erlebt, berichtet er. "Alle Häuser fingen an zu schwanken. Die Kinder, die überlebt haben, stehen immer noch unter Schock."

Akram erzählt, sein Körper sei zur Hälfte unter Trümmerteilen begraben worden, als eine Mauer eingestürzt sei. "Die Leute hörten nicht auf zu schreien, als die Erde bebte", schildert er die dramatischen Minuten. "Kinder weinten, und die Frauen stürzten aus ihren Häusern ins Freie."


Pakistanische Armee leistet Hilfe

Viele Menschen kamen mit dem Leben davon, da sich die Katastrophe am Nachmittag ereignete, als die meisten bei der Arbeit waren. Der Stabschef der Armee, General Raheel Sharif, entsandte alle verfügbaren Truppen in die entlegensten Teile der Erdbebengebiete, um den Betroffenen die größtmögliche Hilfe zukommen zu lassen.

"Zuerst spürte ich eine schwache Vibration, der ein heftiger Erdstoß folgte", berichtet der Augenzeuge Sanaullah Shah, ein Student aus dem Distrikt Swat.

Aslam Khan, der an der Universität von Peshawar lehrt, hielt gerade ein Seminar ab, als das Beben begann. Verängstigte Studenten seien aus den Kursräumen gekommen und hätten Koran-Verse rezitiert, um Allah um Vergebung und Hilfe zu bitten, sagt er. Seit der Katastrophe sei die Angst so groß, dass bisher nur wenige Studenten wieder zum Unterricht erschienen seien.


Erdbebensichere Häuser für Arme nicht bezahlbar

Der ehemalige Kricket-Profi Imran Khan, dessen Partei Pakistan Tehreek Ansaf die Provinz regiert, besuchte Peshawar und andere Teile von Khyber Pakhtunkhwa, um die Rettungs- und Hilfseinsätze zu überwachen. Er kritisierte, dass die Auflagen für die Bausicherheit in der Provinz missachtet worden seien. "Es ist äußerst besorgniserregend, dass diese Regeln nicht befolgt werden und die Gebäude dann Erdbeben nicht standhalten." Für die Zukunft kündigte er striktere Maßnahmen an, mit denen die Einhaltung der Vorschriften sichergestellt werden soll.

Auch andere Experten monieren die mangelnde Beachtung der Sicherheitsauflagen, die im Jahr 2007 verschärft worden waren. Bisher gelten sie allerdings nur für gemauerte Gebäude und Stahlkonstruktionen, nicht aber für die landestypischen Häuser, deren Substanz aus einer Mischung aus Lehm, Gras, Blättern und Bambus besteht.

Wie aus dem jüngsten Fortschrittsbericht über Katastrophenschutz in Pakistan hervorgeht, ist die verbreitete Armut ein großes Hindernis auf dem Weg zu mehr Bausicherheit. Angehörige ärmerer Gesellschaftsschichten hätten nicht die finanziellen Mittel, um erdbebensichere Häuser zu bauen. (Ende/IPS/ck/29.10.2015)

*Irin ist ein Informationsdienst der Vereinten Nationen


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/10/pakistani-communities-reel-in-the-wake-of-massive-earthquake/

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IPS-Tagesdienst vom 29. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2015

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