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ASIEN/923: Zu Hintergründen des Konflikts zwischen der VR China und der SR Vietnam (Gerhard Feldbauer)


Zu Hintergründen des Konflikts zwischen der VR China und der SR Vietnam(1)

von Gerhard Feldbauer, 28. November 2014



Der im Mai 2014 zwischen der VR China und der SR Vietnam in bis dahin nicht bekanntem Ausmaß eskalierte territoriale Konflikt um die Paracel- und Spratly-Inseln schwelt seit Jahrzehnten und hat tiefe historische Wurzeln. Hanoi, das die Inselgruppe für sich beansprucht, hat das Gebiet zu seiner Wirtschaftszone erklärt. Peking behauptet, die Inseln gehörten schon immer zu China. Es handelt sich um ein Gebiet mit immensen Vorkommen an Gas und Öl und reichen Fischfanggründen, das auch große geostrategische Bedeutung hat. China macht rund drei Viertel des Vietnam vorgelagerten Meeresgebietes als "historisch" zu China gehörend geltend. Das ist mehr als fraglich, denn Vietnam war über 2000 Jahre Peking tributpflichtig bzw. eine chinesische Halbkolonie, wogegen sich das Land zwischen Rotem Fluss und Mekong immer wieder zur Wehr setzte. Seit der Erringung seiner nationalen Unabhängigkeit in der Augustrevolution 1945 und ihrer Verteidigung gegen die Intervention Frankreichs und der USA beansprucht Vietnam die Inselgruppe als sein Hoheitsgebiet. Vietnam verteidigt seine geltend gemachten Ansprüche nachdrücklich und friedlich. Das Vorgehen der VR China, insbesondere den letzten Schritt sieht es als eine Bedrohung.


Enkel Dschingis Khans vertrieben

Der Expansionsdrang aus dem Norden brachte einen noch heute lebendigen starken Unabhängigkeitsdrang hervor. Im 13. Jahrhundert wehrten die Könige der Tran-Dynastie dreimal erfolgreich die Angriffe der Mongolen ab, die in dieser Zeit in China herrschten. Darunter fiel der Sieg des noch heute in Vietnam verehrten Nationalhelden Tran Hung Dao, der 1284 ein unter dem Enkel Dschingis Khans eingefallenes Heer verjagte. Während des Bauernaufstandes der Tay Son,(2) der frühbürgerlichen Revolution in Vietnam, wurde 1789 in der Schlacht bei Hanoi ein in Vietnam zur Zerschlagung der revolutionären Erhebung eingefallenes Heer der Quing vernichtend geschlagen. Die Niederlage war so verheerend, dass der Hof in Peking Frieden schloss und die Tay Son anerkannte. Diese Traditionen muss man im Auge haben, wenn man die Empörung verstehen will, mit der die Vietnamesen gegen das chinesische Vorgehen protestierten.(3)

Es muss sicher beachtet werden, dass die Erweiterung des kapitalistischen Sektors in China die Gefahr eines Wiederauflebens des alten Han-Großmachtchauvinismus der Beherrschung Asiens in sich birgt. Nicht außer Acht lassen kann man auch den Einfall Chinas im Januar 1979 in Vietnam. Er war eine chinesische Reaktion auf den Sturz des von Peking ausgehaltenen blutigen Pot-Pot-Regimes in Kambodscha durch die Vietnamesische Volksarmee und wurde ganz offiziell "Strafaktion" genannt. In den Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts forderte Peking damals von Hanoi eine Erklärung über den Verzicht auf die Paracel- und Spratly-Inseln, was Vietnam ablehnte.

Bei der Bewertung der entschiedenen Haltung Hanois während der Ereignisse im Mai 2014 (4) ist auch einzubeziehen, dass Vietnam nach der Befreiung des Südens des Landes und dem Sieg über die größte westliche Militärmacht 1975 und seiner folgenden starken wirtschaftlichen Entwicklung in der Region als ein militärisches Schwergewicht gilt. Nach den Zusammenstößen im Mai brachte Vietnam den Konflikt auf einer Tagung der ASEAN in Myanmar zur Sprache und beantragte, das Vorgehen Chinas zu verurteilen, was jedoch keine Mehrheit fand. Besonders Kambodscha, das unter starkem Einfluss Chinas steht, blockierte eine gemeinsame Haltung. Singapur und Thailand, die selbst keine Ansprüche auf die Inselgruppe erheben, tragen jedoch wie andere Mitgliedsstaaten auch der wachsenden vor allem wirtschaftlichen Rolle Chinas Rechnung und wollen keinen Affront mit Peking.

China brachte seinen Konflikt mit Vietnam vor die Vereinten Nationen. Die UN-Vollversammlung sollte sich mit der Auseinandersetzung um die Bohrinsel befassen (Zeit-online, 10.06.2014). Wie beim Vorgehen Vietnams auf der ASEAN-Tagung wurde auch hier deutlich, dass zwei sozialistische Länder nicht in der Lage waren, Schritte zur Konfliktregelung über ihre staatlichen bzw. Parteibeziehungen zu unternehmen. Müssten doch im Vordergrund Schritte beider sozialistischer Staaten und ihrer kommunistischen Parteien stehen, wie diese Gebiete zuverlässig und perspektiv dem Zugriff des Imperialismus entzogen und zum gemeinsamen Nutzen erschlossen werden.


USA suchen Konflikt zu nutzen

Denn der Konflikt erhält Brisanz dadurch, dass ihn die USA im Rahmen ihres strategischen Konzepts des Ausbaus ihrer militärischen Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum gegen die Volksrepublik China zu nutzen suchen, um sich als Schutzmacht aufzuspielen und das den Anschein erweckt, Vietnam suche das in pragmatischer Weise zu nutzen. So empfing Vietnam 2010 einen Verband der US-Navy mit dem Flugzeugträger "George Washington" an der Spitze zu einem Flottenbesuch in der Hafenstadt Da Nang, was in westlichen Pressestimmen als Versuch gewertet wurde, dass die USA versuchten, den alten Kriegsgegner Vietnam als einen Verbündeten zu vereinnahmen. Hanoi wies das zurück und ordnete es in normale Militär-Beziehungen ein, die in der letzten Zeit allerdings weiterentwickelt wurden. Die Viet Nam News zitierten am 2. Juni 2014 den Ministerpräsidenten der SRV, Nguyen Tan Dung, der in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg u. a. sagte: "Die Vereinigten Staaten sind eine globale Macht und ebenfalls eine Macht in der Asien-Pazifik-Region. Wir hoffen, dass die USA stärkere, praktischere und effektivere Beiträge zum Frieden und der Stabilität in der Region leisten."

Im Mai-Konflikt hatte Washington eindeutig Partei für Vietnam ergriffen. Pentagon-Minister Charles Hagel beschuldigte China im April auf der Sicherheitskonferenz "Shangri-La-Dialog" in Singapur "destabilisierend und einseitig gehandelt" zu haben. Er rief Peking "zur Ordnung" und nannte dessen Vorgehen "Einschüchterung" und "Nötigung". Die Vereinigten Staaten würden nicht wegsehen, "wenn die fundamentalen Prinzipien der internationalen Ordnung herausgefordert werden", drohte Hagel. Der Vize-Chef des chinesischen Generalstabs, General Wang Guanzhong, konterte: "das ist eine freche Einmischung der USA". Nicht China, sondern die USA destabilisierten "mit Drohungen und Einschüchterungen" die Situation.


Russland zwischen den Fronten

Russland arbeitet sowohl mit Peking als auch Hanoi zusammen und vermeidet, sich auf eine Seite zu schlagen. Auf das aggressive Vorgehen der NATO im Rahmen des Konflikts um die Ukraine gegen Russland und den Konfrontationskurs der USA gegen China reagierten beide Seiten mit einer Verstärkung auch ihrer militärischen Zusammenarbeit: Davon zeugte, dass neben dem Abschluss des Milliarden schweren Abkommens über russische Gaslieferungen nach China, vom 20. bis 26. Mai 2014 ein gemeinsames Flottenmanöver im Ostchinesischen Meer stattfand, das Präsident Putin und sein Kollege Xi Jinping zwei Tage verfolgten. Die "Stimme Russlands" nannte das Manöver eine direkte Antwort auf das Vorgehen der USA gegen Russland in der Ukraine, um dort "das Potenzial der Nato auszugleichen und eine ausbilanzierte Gruppierung der Marinekräfte zu schaffen, die imstande ist, sich gegen die Nato zu behaupten."

Russland und China betonten jedoch, dass sie nicht nur auf militärische Stärke setzen. Sie vereinbarten, ihre Mitarbeit im Rahmen der Konferenz für Interaktion und Vertrauensbildung in Asien (CICA), einem Sicherheitsforum in der Asien-Pazifik-Region, abzusprechen und zu verstärken. Der Gruppe gehören 26 Staaten an, die USA und Japan sind nur als Beobachter vertreten.

Nachdem Moskau nach 1975 zunächst den Tiefseehafen Cam Ranh am Südchinesischen Meer als logistische Basis für seine Pazifikflotte nutzen konnte, ist in jüngster Zeit davon die Rede, dass es dort wieder einen Stützpunkt einrichten könnte. Cam Ranh war schon zur Zeit der Zarenherrschaft eine Basis der kaiserlichen Kriegsmarine. Könnte Moskaus Pazifikflotte dort vor Anker gehen würde das eine zusätzliche Stärkung der maritimen russisch-chinesischen Schlagkraft bedeuten und könnte obendrein Pekings Vorgehen gegen Hanoi Zügel anlegen. Das Vietnam "nicht abgeneigt" sei, Cam Ranh auch den USA als Stützpunkt für ihre Kriegsschiffe zu überlassen, wie die Badische Zeitung gerade schrieb (18. November 2014), halten Kenner Vietnams für wenig wahrscheinlich.

Den jüngsten Konflikt im Mai dieses Jahres legten Hanoi und Peking dann friedlich bei. Nach einem Treffen zwischen Handelsminister Gao Hucheng mit dem vietnamesischen Minister für Industrie und Handel, Vu Huy Hoang, wurde die Gewalt gegen chinesische Unternehmen in Vietnam beendet. Nguyen Tan Dung rief danach die Polizei auf, die Sicherheit ausländischer Unternehmen zu gewährleisten. Näheres wurde nicht bekannt. Es ist zu hoffen, dass beide Seiten auch in Zukunft Vernunft walten lassen. Das heutige Vorgehen Chinas steht in striktem Gegensatz zur einstigen "Normalisierungs"-Politik Deng Xiaopings Ende der 1970er Jahre, stelllte Günter Giesenfeld fest. Sie zielte damals darauf ab, nachbarschaftliche Auseinandersetzungen zu vermeiden und freundschaftliche Beziehungen mit allen Nachbarn aufzubauen. "Unsere Souveränität bekräftigen, die Konflikte beiseite legen, eine gemeinsame Entwicklung anstreben" hieß es damals. Noch im Jahre 2000 hatte der Außenminister diese Haltung betont.

Schließlich sind die Parteiführungen sowohl in Peking als auch in Hanoi mit einer Reihe gleicher Probleme konfrontiert: So führen der Einfluss des privatkapitalistischen Sektors und die Auswirkungen der Zusammenarbeit mit dem internationalen Kapital zum einen ideologisch zu nationalistischen Tendenzen und zum andern zu Korruptionserscheinungen, der auch führende Vertreter der kommunistischen Partei und des Staates verfallen.


Anmerkungen:

(1) Es handelt sich, schon aus Platzgründen, um keine umfassende Analyse der Probleme, sondern um die Darlegung einiger Aspekte. Es sei hier auf den Vietnam Kurier der Gesellschaft für die Freundschaft zwischen den Völkern in der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam verwiesen, der sich bereits mehrfach mit der Thematik befasste, zuletzt in seinem Heft 2/2014 gleich mit 12 fundierten Beiträgen, darunter fünf von Günter Giesenfeld, weitere von Norman Paech und Nguyen Thi Bing, während des Krieges Außenministerin der Provisorischen Revolutionären Regierung der Republik Südvietnam, später stellv. Präsidentin der RSV

(2) Benannt nach den Bergen im westlichen Zentralvietnam, wo der Aufstand ausbrach.

(3) Das Thema wird in mehreren Publikationen des Autors behandelt: darunter zusammen mit Irene Feldbauer, Sieg in Saigon. Erinnerungen an Vietnam, Pahl Rugenstein, Bonn 2005, Neuauflage 2006. Ferner Die nationale Befreiungsrevolution Vietnams. Zum Entstehen ihrer wesentlichen Bedingungen von 1925 bis 1945, Pahl Rugenstein, Bonn 2007, und Vietnamkrieg, Papyrossa, Köln 2013.

(4) Nachdem China versuchte, eine Ölplattform in dem umstrittenen Gebiet zu verankern, kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Kriegsschiffen beider Seiten, bei denen es, wie auch bei anschließenden Protesten gegen chinesische Betriebe in Saigon Tote und Verletzte gab.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2014