Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

ASIEN/918: Wie Chinas Forscher Amerikas Führungsrolle wahrnehmen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wechselnde Bilder vom Hegemon
Wie Chinas Forscher Amerikas Führungsrolle wahrnehmen

Von Louis W. Pauly



Im heutigen China blüht das Forschungsfeld der Internationalen Politischen Ökonomie. Seine Entwicklung wurde stark durch das Nachdenken über die Stellung der USA innerhalb des gegenwärtigen globalen Systems geprägt. Im Zentrum der momentanen Debatte steht die Unterscheidung zwischen Hegemonie und Führungsrolle sowie die Zukunft der Institutionen, in denen Chinas Rolle wachsen könnte.


Der Versuch, das Weltbild künftiger politischer Entscheidungsträger in China zu verstehen, ist nach wie vor eine Aufgabe, die selbst Chinesisch sprechende Beobachter entmutigen kann. Wir anderen können möglicherweise etwas lernen, wenn wir uns anschauen, was die Professoren heute der jungen Generation beibringen. Diese Überlegung stand 2013 hinter der Veröffentlichung einer Reihe von politikwissenschaftlichen Studien, die maßgebliche Teilgebiete der Internationalen Beziehungen und der Global Governance in den Blick nahmen. Bei jeder Studie wurde einem jungen chinesischen Wissenschaftler ein nicht-chinesischer Experte aus dem jeweiligen Feld zugeordnet. Ich nahm an diesem Projekt teil und arbeitete mit Professor Wang Yong zusammen, dem Leiter des Center for International Political Economy Research der School of International Studies an der Universität Peking. Unsere Aufgabe war es, zu untersuchen, wie chinesische Wissenschaftler im Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie die Führungsrolle Amerikas in der Weltwirtschaft heute beurteilen.

Die Internationale Politische Ökonomie (International Political Economy, IPE) hat sich seit den frühen 1970er Jahren als Teilgebiet der Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft herausgebildet. Chinesische Wissenschaftler waren an diesem Entstehungsprozess bis zur Ära der Wirtschaftsreformen und der "Öffnung" nicht unmittelbar beteiligt. In den 1980er Jahren stieg die Zahl der chinesischen Doktoranden an jenen führenden westlichen Universitäten, die sich dem aufstrebenden Feld der Internationalen Politischen Ökonomie widmeten. In China selbst sollte es bis Ende der 1990er Jahre dauern, bis dieses Forschungsgebiet sich zu etablieren begann - nachdem die Zentralregierung eine umfassende Umgestaltung des Hochschulsystems ankündigt hatte.

Wie auch in anderen Ländern hat sich seither die Debatte unter chinesischen IPE-Experten oft auf die Frage nach dem Wesen und der wandelnden Wahrnehmung der amerikanischen Rolle in diesem System konzentriert. Die Hintergrundfolie bilden die grundlegenden Ungereimtheiten, um die ein Großteil der IPE-Forschung kreist. Wie kam es, dass die Hoffnungen des frühen 20. Jahrhunderts, die sich zum Teil auf die zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtung stützten, auf den Schlachtfeldern Belgiens und Frankreichs zerstört wurden? Warum folgte auf die Beilegung des Ersten Weltkriegs so bald ein weiterer Flächenbrand, der noch verhängnisvoller war und nun wirklich die ganze Welt betraf? Warum war demgegenüber die zwischen 1945 und dem Ende des Korea-Kriegs geschlossene Einigung dauerhafter - warum hielt sie also zumindest so lange, bis sich in der Gegenwart eine komplexere wirtschaftliche und politische Interdependenz abzeichnete? Und wie stabil oder anfällig ist unsere gegenwärtige Weltordnung?

Für die Gründer der IPE waren auf jeden Fall die Prinzipien, Institutionen und Praktiken, die nach dem Krieg den Kern der Wirtschafts- und Sozialsysteme bildeten und stark von den USA geprägt waren, zentrale Forschungsbereiche. Zunächst war das Fach inspiriert von der Vorstellung einer zugrunde liegenden "hegemonischen Stabilität", die der US-amerikanische Ökonom Charles Kindleberger beschrieben hat. In diesem Sinne befassten sich die Pioniere des Fachs intensiv mit der Bedeutung und den Implikationen einer "abnehmenden Hegemonie". Viele unterschieden zwar, wie Kindleberger selbst, zwischen Hegemonie (hegemony) und Führungsrolle (leadership); aber die Diskussion über amerikanische Hegemonie etablierte sich, nicht zuletzt in China.

Chinesische IPE-Wissenschaftler befassen sich wie ihre Kollegen weltweit ausführlich mit den unausgereiften Militärinterventionen der Vereinigten Staaten und den zahlreichen Krisen, die dadurch bedingt sind, dass der Dollar im Zentrum des globalen Finanzsystems steht. Dies spielt sich auf dem Hintergrund der tief verwurzelten Vorstellung von einem amerikanischen Hegemonismus ab. Bei dieser Idee schwingt die typisch marxistisch-leninistische Idee von einer Weltmacht mit, die bestrebt ist, die Uhren auf die Zeit vor 1949 zurückzudrehen und China eines Tages zu umzingeln. In den letzten Jahren haben die chinesischen Forscher jedoch mehr Zugang zur Arbeit ihrer amerikanischen Kollegen. So setzen sich zunehmend differenziertere Betrachtungsweisen durch. Für einige jüngere Wissenschaftler impliziert der Hegemoniebegriff eine internationale Machtstruktur, bei der eine einzelne Macht eine Vorrangstellung innehat. Daraus können sich im Prinzip positive Nebenwirkungen für die anderen ergeben, wenn jene Macht auf offene Märkte und multilaterale Institutionen verpflichtet ist. In diesem Zusammenhang werden die frühen Schriften von Realisten wie Kenneth Waltz, Robert Gilpin und Stephen Krasner, von Liberalen wie Robert Keohane und Joseph Nye und von Konstruktivisten wie Ernst Haas und John Ruggie nach wie vor stark rezipiert.

Internationale Politische Ökonomen in China interessieren sich besonders für Keohanes ursprüngliche These: Auch wenn gängige Machtparameter darauf hindeuten, dass die strukturelle Macht der USA abnimmt, stabilisierten Institutionen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit errichtet wurden, noch eine Zeit lang die globale Ökonomie die Weltwirtschaft. Davon hat wiederum China nach seiner Öffnung profitiert. Vor diesem Hintergrund begannen also chinesische Wissenschaftler, in ihrer Arbeit eigene Unterscheidungen zwischen Dominanz, Vorrangstellung und Führungsrolle einzuführen. Auch wenn der Einfluss der USA weiterhin stark ist, sind viele Wissenschaftler mittlerweile der Ansicht, dass die USA in jüngster Zeit ihrer Rolle als unparteiische und effektive Führungsmacht nicht gerecht geworden sind.

Wie in Europa, Kanada oder sogar in den USA selbst ist auch in China eine solche Skepsis weit verbreitet. Dabei werten aber die IPE-Wissenschaftler in China nun eingehend die Zunahme gemeinsamer Interessen zwischen China und den USA auf verschiedenen ökonomischen Gebieten aus. Damit reagieren sie auf zwei Entwicklungen: auf den Wandel in der Wahrnehmung chinesischer Führungsfiguren, der sich momentan zu vollziehen scheint, und auf Chinas tatsächliche Stellung in der Weltwirtschaft, die sich tiefgehend wandelt. Einer weitverbreiteten Beschreibung der gegenwärtigen Situation zufolge hat sich China von dem Revolutionär, der es in der Nachkriegsordnung war, zu einem Teilnehmer und Hauptnutznießer eines komplexeren strukturellen Stabilisierungsprozesses gewandelt, in dessen Zentrum jedoch immer noch die USA stehen.

Diese Ansichten passen zu den Reformen, die China auf seinem Binnenmarkt vollzog; die Basis dafür wurde von Untersuchungen aus den späten 1980ern geschaffen, die die Marktmechanismen in den USA und der Faktoren untersuchten, die zu deren langfristigem Erfolg beitrugen. Da China in der Folge ähnliche Mechanismen entwickelte, setzte sich weitgehend die Erwartung durch, eines Tages würde sich ein multipolares System herauskristallisieren, das nicht notwendigerweise instabil sein musste. Die tragischen Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens im Sommer 1989 und der Zusammenbruch der Sowjetunion zwei Jahre später führten dazu, dass derartige Ansichten vorerst keine große Rolle spielten.

Unmittelbar vor der Jahrtausendwende waren die chinesischen IPE-Experten dann wieder zuversichtlicher, dass ihr Land bei der Stabilisierung eines im Wandel begriffenen Systems mitwirken könnte. Diese Haltung schien durch den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 untermauert zu werden. Das war ein Wendepunkt, der die Möglichkeit andeutete, man könnte die Handelsmacht Chinas und Amerikas möglicherweise zum beidseitigen Vorteil steuern. Zwar wurden während der Finanzkrise in Asien Ende der 1990er Jahren Zweifel laut, doch die Tatsache, dass China aus dieser Krise verhältnismäßig ungeschoren hervorging, war bezeichnend. Es wurde zu einem allseits anerkannten Ziel der chinesischen Politik, die vorhandenen internationalen Rahmenbedingungen nicht zu beeinträchtigen, und IPE-Experten wiesen auf die große Bedeutung der Devisenreserven hin. Man könne damit die eigene Wirtschaft im Falle systemischer Erschütterungen schützen und international beim Krisenmanagement mitwirken.

Während der letzten zehn Jahre haben viele Diskussionen zwischen chinesischen IPE-Wissenschaftlern der liberalen, der marxistischen, der nationalistischen oder sogar der neo-konfuzianistischen Denkrichtung stattgefunden. Oft wurde der Neoliberalismus kritisiert, was nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit auf Widerhall stieß. Der sogenannte Washingtoner Konsens wurde mit Argumenten kritisiert, die denen von Gelehrten wie Joseph Stiglitz, Robert Wade, Noam Chomsky und Chang Hajoon ähnelten: Diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen bedeuteten übermäßige Risiken für Entwicklungsländer in einer zunehmend instabilen Weltlage. Manche argumentierten, China müsse sich besser für eine ungewisse Zukunft rüsten, indem es eine soziale Marktwirtschaft ähnlich dem deutschen Modell der 1950er Jahre - so wie sie es sahen - aufbaue.

Genauso, wie die durch den Beitritt zur WTO in Aussicht gestellten Vorteile einst die liberal gesinnten chinesischen Wissenschaftler begeistert hatten, belebte die Weltwirtschaftskrise von 2008 die Kritik von Akademikern und Bürgern an der amerikanischen Vorherrschaft. Andererseits sehen die chinesischen Wissenschaftler nun, nach der Krise, klarer, welche Zwänge die enge Verflochtenheit mit sich bringt: Da die USA der größte Exportmarkt Chinas bleiben und der bedeutendste Teil der chinesischen Devisen von dort stammen, kann der Niedergang der führenden Wirtschaftsmacht kurz- oder mittelfristig keine Vorteile bringen.

Wenige haben deshalb Zweifel an der Strategie der chinesischen Regierung angemeldet, mit einem umfangreichen monetären und fiskalischen Förderpaket die chinesische Wirtschaft während der Krise anzukurbeln und dadurch ein immer noch vom Dollar dominiertes globales Finanzsystem zu unterstützen. Wie lange diese Unterstützung gewährt werden sollte, bleibt jedoch umstritten. Das vom amerikanischen Finanzminister so bezeichnete "Gleichgewicht des finanziellen Schreckens", das China und die USA 2008 aneinander band, hat kein klares Vermächtnis hinterlassen.

Um einer künftigen systemischen Finanzkrise vorzubeugen, wäre es eine rationale Antwort Chinas, die Etablierung kooperativer Grundlagen für ein neues und weniger asymmetrisches multilaterales System zu unterstützen. Eine andere bestünde darin, die chinesische Wirtschaft etwas weniger stark in Richtung der amerikanischen Märkte auszurichten und das Wertpapiervermögen, das die Reserven des Landes umfasst, auch künftig zu erweitern und zu diversifizieren. Die breite Masse der IPE-Wissenschaftler spricht sich diesbezüglich für eine bessere Balance zwischen der Errichtung kooperativer Institutionen und der eher defensiven Errichtung eines internen Schutzwalls aus, während sie gleichzeitig die Vorzüge des chinesischen Modells propagieren.

Die Arbeitsprogramme von Chinas IPE-Wissenschaftlern auf diesem Gebiet werden heute von Maßnahmen verkompliziert, mit denen die USA auf die Krise reagiert. Die vieldiskutierte Wende der amerikanischen Außenpolitik in Richtung Pazifik scheint auf eine stärker wettbewerbsorientierte und weniger kooperative Zukunft hinzudeuten. Kurz nach seinem Regierungsantritt forderte dagegen Staatspräsident Xi Jinping ein "neues Modell für das Verhältnis zwischen den Großmächten", das sich auf gemeinsame Interessen und eine Stärkung von Netzwerken der Interdependenz stützen sollte. Die fortgesetzte Aufstockung des Militärs und die Truppenverlegungen seitens der USA und Chinas aber lassen nicht etwa ein neues, sondern ein sehr altes Modell erwarten. Innerhalb der Internationalen Politischen Ökonomie wird die Erforschung dieses Aspektes durch die Anzahl der Akteure erschwert, die heutzutage an den Kernmärkten beteiligt sind. Hinzu kommen die Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen privaten und öffentlichen Sektoren und die beabsichtigten wie unbeabsichtigten Folgen der dynamischen technologischen Entwicklung.

Mein Koautor Wang Yong und ich haben seit der Erstveröffentlichung unseres Artikels den Kontakt zueinander gehalten. Meine persönliche Einschätzung der gegenwärtigen Situation lautet: In China neigen viele IPE-Wissenschaftler nach wie vor zu der Vorstellung, dass China in einem zwar komplexeren, aber immer noch zusammenhängenden System Respekt, nicht aber Hegemonie anstrebt. So wie in Europa in den aufregenden Anfangszeiten der Währungsunion, so träumen einige von einer Erneuerung hierarchischer Verhältnisse mit China als anerkanntem Mitglied der Führungsgruppe. Derweil beobachten die meisten ganz genau die außenpolitischen Folgen eines Politikwandels in den USA. So wie ihre Kollegen in anderen Ländern müssen jedoch auch diese chinesischen Forscher erkennen, dass die Autorität und das Leistungsvermögen eines einzelnen Landes nicht ausreicht, um die ernsten strukturellen Herausforderungen zu bewältigen, denen China, die USA und der Rest der Welt gegenüberstehen.


Louis Pauly ist während des akademischen Jahres 2013/2014 Karl W. Deutsch Gastprofessor am WZB und arbeitet eng mit der Abteilung Global Governance zusammen. Er ist Professor für Politische Wissenschaft an der University of Toronto, wo er den Canada Forschungslehrstuhl innehat.
louis.pauly@utoronto.ca


LITERATUR

Callahan, William A.: "Chinese Visions of World Order: Post-hegemonic or a New Hegemony?". In: International Studies Review, 2008, Vol. 10, pp. 749-761.

Chin, Gregory/Yong, Wang: "Debating the International Currency System". In: China Security, 2010, Vol. 6, No. 1, pp. 3-20.

Yong, Wang: "A Balanced Approach on Global Economic Rebalancing". In: Oxford Review of Economic Policy, 2012, Vol. 28, No. 3, pp. 569-586.

Yong, Wang/Pauly, Louis: "Chinese IPE Debates on (American) Hegemony". In: Review of International Political Economy, 2013, Vol. 20, No. 6, pp. 1165-1188.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 22-25
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
(März, Juni, September, Dezember)
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2014