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ASIEN/914: China - Frühe Kindheit einer Öffentlichkeit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Frühe Kindheit einer Öffentlichkeit
China dürfte lange brauchen, bis sich Bürger frei ihres Verstandes bedienen

Von Kerry Brown



Kurz gefasst: Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um eine Öffentlichkeit hervorzubringen, wie sie Jürgen Habermas vor 50 Jahren beschrieben hat. Während dieser Epoche gab es in China kein Bürgertum, das als Fundament einer öffentlichen Sphäre hätte dienen können, in der Menschen öffentlich von ihrer Vernunft Gebrauch machen. Erst seit Kurzem ist die Volksrepublik auf dem Weg zur Ausbildung eines halbwegs öffentlichen Raumes - ein komplexer Prozess in einer Zeit beispielloser technischer Kommunikationsmöglichkeiten und ebenso weitreichender Möglichkeiten für den Staat, diese Kommunikation zu überwachen.


Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit der Veröffentlichung von Jürgen Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit vergangen. Doch seine Fragen zum öffentlichen Raum und der öffentlichen Meinung sind in Zeiten des World Wide Web noch verwirrender und komplexer geworden. Angesichts der heute verfügbaren technischen Ressourcen war der Widerstreit zwischen dem privaten Raum der Familie und des Persönlichen und den Angriffen der organisierenden und reglementierenden Tentakel des Staates vielleicht niemals größer. In seinem Klassiker gewordenen Buch liefert Habermas eine elegante Beschreibung der nahtlosen Verbindung zwischen der Geburt der Moderne und den Prozessen der Vermarktlichung und kapitalistischen Industrialisierung sowie der Vorstellung dessen, was eine Öffentlichkeit ausmacht und wie politisch bedeutsam sie werden sollte. Diese Beschreibung ist heute wieder höchst aktuell.

Habermas' Arbeit ist fest in Europa verwurzelt. Es ließe sich argumentieren, dass eine Öffentlichkeit in China bis vor wenigen Jahrzehnten kaum existierte. Im agrarisch geprägten Kaiserreich der Qing-Dynastie und den folgenden republikanischen und maoistischen Phasen gab es keine Öffentlichkeit, wie Habermas sie beschreibt. Es gab höchstens politische Machtkonstellationen aus Intellektuellen, Bürokraten, Gutsherren und Adeligen. Aber freie Medien und eine Kaffeehauswelt aus Debatten und Diskussionen, wie Habermas sie in seinem Buch beschreibt und wie sie im 18. Jahrhundert an Orten wie Paris oder London als Keimzelle einer öffentlichen Sphäre existierte, gab es in China nicht. Insbesondere der Maoismus wirkte jeglicher Artikulation öffentlicher Ziele, die nicht vom Staat diktiert waren, auf brutale Weise entgegen. Erst mit dem Fortschritt des Reform- und Öffnungsprozesses beginnen sich allmählich die Konturen dessen abzuzeichnen, was man als chinesische Öffentlichkeit bezeichnen könnte.

Habermas' Ausführungen über die Entstehung der öffentlichen Meinung in Europa sollten uns in Erinnerung rufen, wie schwer es war, eine zivilgesellschaftliche Sphäre für freie Meinungsäußerung und öffentliche Debatte zu schaffen, und warum der Kampf darum in China mit Sicherheit genauso hart wird. Von Habermas zitierte Philosophen wie John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville betrachteten die Vorstellung, dass sich die Politik an der öffentlichen Meinung orientiert, als intellektuell verwerfliche Kapitulation vor der Ignoranz der Massen. Aus ihrer Sicht musste die Orientierung sachkundig sein - daher ihr Plädoyer für die repräsentative Demokratie.

Die Idee der Orientierung - wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang - ist dem chinesischen Staat äußerst wichtig. Die politische Elite in Peking bittet die Öffentlichkeit vornehm um Unterstützung und ist stets darauf bedacht zu betonen, dass es das Volk und seine massenhafte Unterstützung sind, die das legitimatorische Fundament der "Demokratie chinesischer Prägung" ausmachen. Aber wie genau das chinesische Führungspersonal, ob nun auf lokaler oder nationaler Ebene, wirklich wissen und darlegen kann, was die Öffentlichkeit möchte, bleibt ein Geheimnis. Mao konnte einfach dekretieren. Vor dem Aufkommen des World Wide Web konnten Deng Xiaoping und Jiang Zemin großspurig erklären: "Alle Chinesen sind der Ansicht, dass ..." und den Satz dann nach Belieben zu Ende führen. Aber heutzutage kann selbst ein Anfänger mithilfe der Suchmaschine Baidu in zwei Minuten herausfinden, dass es in der chinesischen Öffentlichkeit gärt und sich die öffentliche Meinung in China oft als höchst gespalten zeigt.

Dies wird an ganz unterschiedlichen Themen deutlich: von den wild gemischten öffentlichen Reaktionen auf den chinesischen Tennisstar Li Na und ihre Weigerung, nach ihrem Grand-Slam-Sieg in diesem Jahr bei den Australian Open der chinesischen Regierung zu danken (die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua kommentierte bissig, sie hätte ohne staatliche Unterstützung niemals eine solche Karriere gemacht), bis hin zur einhelligen Empörung über die Großrazzia im Rotlichtmilieu der Stadt Dongguan im Februar 2014. Die Öffentlichkeit in China ist sich nur einig in ihrer Uneinigkeit. Die staatliche Antwort darauf besteht darin, dieser Öffentlichkeit einen begrenzten Aktionsradius vorzuschreiben, weite Teile der chinesischen Welt, in denen der Staat zuvor stark involviert war, fallen zu lassen, und insgesamt diese beiden Bereiche - den offiziellen und den zivilgesellschaftlich-persönlichen - in Paralleluniversen nebeneinander herlaufen zu lassen.

Habermas' Arbeit schärft unser Bewusstsein für den engen Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und staatlicher Macht - und generell jeder Form von Macht. Die bürgerliche Öffentlichkeit könne verstanden werden als Sphäre, in der Einzelne als Öffentlichkeit zusammenkommen. Im Kern war dies eine politische Frage, denn zur Öffentlichkeit gehörte der "öffentliche Gebrauch der Vernunft". Dies führte seit dem 18. Jahrhundert zu tiefgreifenden institutionellen Veränderungen und neuen Einrichtungen, während das Konzept einer Öffentlichkeit mit öffentlichen Interessen und einer öffentlichen Sphäre sich entfaltete und die Bürger nach anderen Formen der Willensbekundung und des Stimmrechts verlangten, anstatt weiterhin passive Untertanen zu sein.

In gewissem Sinne ist der chinesische Staat aller hochtrabenden Modernisierungsrhetorik zum Trotz zutiefst altmodisch und konservativ, mit einem ausgeprägten Sinn für seine eigene Bedeutsamkeit und sein Prestige und zutiefst beunruhigt angesichts der Anzeichen von Widerstand seitens der Zivilgesellschaft und anderer alternativer Machtzentren. Eine der heftigsten Auseinandersetzungen, die die moderne Welt zu bieten hat, ist daher die schmerzhafte, komplexe und oft sehr langsame Herausbildung einer öffentlichen Sphäre in der Volksrepublik China - einer Sphäre, die häufig von einem Staat infrage gestellt und bekämpft wird. Dessen Einflussbereich schrumpft zwar in mancher Hinsicht, verfügt aber gleichzeitig über die technischen Möglichkeiten, seine Bürger mehr denn je zu überwachen und auszuspionieren. In den nächsten Jahren werden wir diesen Prozess daher genau beobachten müssen und zum ersten Mal in der Geschichte die Geburt einer authentischen chinesischen Öffentlichkeit erleben.


Kerry Brown ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Zentrums für Chinastudien an der Universität von Sydney, einem der internationalen Kooperationspartner des WZB. Außerdem ist er der Teamleiter des von der EU geförderten Europe China Research and Advice Network (ECRAN) und Associate Fellow im Asia Programme at Chatham House. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere der Elitenpolitik der Kommunistischen Partei Chinas.
kerry.brown01@googlemail.com


LITERATUR

  • Brown, Kerry: Ballot Box China, London: Zed Books 2011.
  • Brown, Kerry: The New Emperors: Power and the Princelings in China. London and New York: I. B. Tauris 2014.
  • Brady, Anne-Marie: Marketing Dictatorship: Propaganda and Thought Work in Contemporary China. Lanham, Rowman and Littlefield: Boulder (Colorado) 2008.
  • Stockmann, Daniela: Media Commercialization and Authoritarian Rule in China. Cambridge University Press: Cambridge 2012.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 16-17
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2014