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ASIEN/892: Indien vor dem Machtwechsel - Die größte Demokratie der Welt geht zur Wahl (FES)




Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Indien vor dem Machtwechsel
Die größte Demokratie der Welt geht zur Wahl

von Felix Schmidt
April 2014


• 815 Millionen Wahlberechtigte sind in Indien vom 7. April bis 12. Mai 2014 zur Wahl aufgerufen. Die indischen Parlamentswahlen sind die größten Wahlen der Welt - eine enorme Herausforderung, nicht zuletzt angesichts der sozialen, ethnischen und religiösen Vielfalt des Landes. Doch gerade am Wahltag zeigt sich die Stärke der indischen Demokratie. Seit der Unabhängigkeit 1947 wurde jeder Machtwechsel auf demokratische und friedliche Weise herbeigeführt.

• Wechselstimmung herrscht auch vor diesen Wahlen in Indien. Die regierende Koalition unter Führung der Kongresspartei (INC) wirkt nach zehn Jahren an der Macht müde. Ihr werden grassierende Korruption und die hohe Inflation angelastet. Die Bharatiya Janata Party (BJP), traditioneller Gegenspieler des INC, setzt im Wahlkampf auf Wirtschaftskompetenz und das Charisma ihres Spitzenkandidaten Narendra Modi. Der traditionelle Zweikampf zwischen INC und BJP könnte jedoch durch eine dritte Partei gestört werden: Mit der Aam Aadmi Party (AAP) ist eine neue Kraft im Kampf um die Macht aufgetaucht, die mit ihrem Leitthema, dem Kampf gegen die Korruption, viel Unterstützung bei den Wählern findet. Ihr Überraschungserfolg im Stadtstaat Delhi Ende 2013 hat das politische Establishment das Fürchten gelehrt.

• Für die Zeit nach den Wahlen zeichnen sich verschiedene Szenarien ab: Gelingt es der BJP, circa 200 der 545 Mandate des Unterhauses zu gewinnen, dürfte die Partei und das rechtskonservative Lager genug Sogwirkung entwickeln, um weitere Fraktionen, insbesondere aus den Reihen der Regionalparteien, für eine Koalition zu gewinnen und eine stabile Regierung zu bilden. Sollte die BJP jedoch nicht als eindeutig stärkste Fraktion aus den Wahlen hervorgehen, so sind im komplizierten Koalitionspoker auch Szenarien wie eine große Koalition zwischen INC und BJP oder eine Regierungsbeteiligung der AAP nicht auszuschließen. Solche Koalitionsvarianten würden allerdings politisch stets fragil bleiben. Entsprechend instabil wäre die Regierung. Forderungen nach Neuwahlen könnten in Indien dann bald wieder die Runde machen.

*

Vor den Parlamentswahlen in Indien weisen alle Zeichen auf einen Machtwechsel der Regierung hin. Im folgenden Beitrag werden die Rahmenbedingungen der Wahl vorgestellt, die antretenden Parteien und Spitzenkandidaten analysiert und darauf aufbauend verschiedene Szenarien für mögliche Macht- und Regierungsoptionen nach den Wahlen entwickelt.


Parlamentswahlen in Indien: Ein »Tanz der Demokratie«

Am Mittwoch, den 5. März 2014 verkündete der Vorsitzende der indischen Wahlkommission, V.S. Sampath, die Wahltermine für die kommenden Parlamentswahlen. Damit beginnt für die folgenden Wochen ein »Tanz der Demokratie«, wie es die führende indische Tageszeitung Times of India beschreibt. Mit 815 Millionen Wahlberechtigten sind die indischen Parlamentswahlen mit Abstand das größte demokratische Wahlverfahren weltweit. Die zweitgrößte Wahl - die Präsidentschaftswahl in den USA - hat nur etwa ein Viertel der Wähler (2012: 219 Millionen). Allein seit den letzten Parlamentswahlen von 2009 sind 97 Millionen neue Wähler hinzugekommen. Insgesamt stellen sich 543 Abgeordnete für das Lok Sabha (Unterhaus des Parlaments; wörtlich »Haus des Volkes«) zur Wahl. Sie werden in einem System der relativen Mehrheitswahl (»First-past-the-post«) bestimmt - ein System, das Indien aus der britischen Kolonialzeit geerbt hat. Neben den gewählten Abgeordneten werden zwei weitere Parlamentarier vom Präsidenten ernannt.

Das indische Wahlgesetz schreibt vor, dass kein Wähler mehr als 2 Kilometer von seinem Wohnort zum nächsten Wahllokal zurücklegen dürfe. Dies bedeutet, dass es insgesamt 930 Wahllokale geben wird. Insgesamt werden etwa 11 Millionen Personen mit der Durchführung der Wahl befasst sein.

Logistisch steht die Wahlkommission vor gewaltigen Herausforderungen. Sie muss dafür sorgen, dass die Wahlurnen in den einsamen Bergtälern des Himalayas genauso für die Wähler bereitstehen wie in den Wüsten Rajasthans. Auch in den Gebieten im Osten des Landes, die von den »Naxaliten«, einer Maoistischen Guerilla-Gruppe, beherrscht werden sowie der völkerrechtlich umstrittenen Kaschmir-Region, in der Terroranschläge alltäglich sind, muss eine Normalität hergestellt werden, die eine Durchführung von Wahlen ermöglicht.

Aufgrund der damit verbundenen Komplexität und der Größe des Landes wird die Wahl im Zeitraum vom 7. April bis zum 12. Mai in neun Phasen stattfinden (s. Box). Die Auszählung der Stimmen wird am 16. Mai für alle Wahlkreise gleichzeitig erfolgen. Da in Indien mithilfe elektronischer Wahlautomaten gewählt wird, kann mit der Bekanntgabe der Ergebnisse unmittelbar nach der Auszählung, vermutlich noch am gleichen Tag, gerechnet werden. Der Einsatz von elektronischen Geräten wird in Indien, im Gegensatz zu anderen Ländern, nicht hinterfragt. Die Wahlautomaten gelten als zuverlässig und nicht manipulierbar.[1]


Die Wahltermine in den einzelnen Bundesstaaten [1]
07.4. Assam, Tripura
09.4. Arunachal, Manipur, Meghalaya, Mizoram, Nagaland
10.4. Andamanen & Nikobaren, Bihar, Chandigar, Chhattisgarh, Haryana, Jammu & Kashmir, Jharkhand, Kerala, Lakshadweep, Madhya Pradesh, Maharashtra, Delhi, Odisha, Uttar Pradesh
12.4. Assam, Sikkim, Tripura
17.4. Bihar, Chhattisgarh, Goa, Jammu & Kashmir, Jharkhand, Karanataka, Madhya Pradesh, Maharashtra, Manipur, Odisha, Rajastan, Uttar Pradesh, Westbengalen
24.4. Assam, Bihar, Chhattisgarh, Jammu & Kashmir, Jharkhand, Madhya Pradesh, Maharashtra, Puducherry, Rajastan, Tamil Nadu, Uttar Pradesh, Westbengalen
30.4. Andhra Pradesh, Bihar, Dadra & Nagar, Haveli, Daman & Diu, Gujarat, Jammu & Kashmir, Punjab, Uttar Pradesh, Westbengalen
07.5. Andhra Pradesh, Bihar, Himachal, Jammu & Kashmir, Uttarakhand, Uttar Pradesh, Westbengalen
12.5. Bihar, Uttar Pradesh, Westbengalen

[1] Aufgrund der Größe, des unwägbaren Terrains bzw. der instabilen Sicherheitslage werden in manchen indischen Bundesstaaten mehrere Wahltage benötigt.


Für die gesamte Organisation, Vorbereitung und Durchführung der Wahl ist die Wahlkommission zuständig. Die Wahlkommission besitzt Verfassungsrang und ist vollständig unabhängig von der Regierung. Sie genießt einen außerordentlich guten Ruf in Indien, wird professionell geführt und gilt als unbestechlich. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1947 und den ersten Wahlen 1952 wurde weder eine Wahl noch ein erfolgter Machtwechsel - sowohl bei nationalen als auch bei bundesstaatlichen Wahlen - als gefälscht oder ungültig angefochten.

Nach Verkündung des Wahltermins bleibt für die heiße Phase des Wahlkampfes üblicherweise ein Zeitfenster von etwa 6 Wochen. Unmittelbar nach der Bekanntgabe besteht für die Wähler die Möglichkeit, die Wählerlisten einzusehen, um zu prüfen, ob man bereits registriert ist. Seit Öffnung der Wählerlisten ist ein großer Ansturm von Wählern zu verzeichnen, die sich entweder erstmalig registrieren lassen oder einfach überprüfen, ob ihre Eintragung richtig ist. Die Wählerlisten gelten trotz der großen Zahl der Wahlberechtigten und der Komplexität des Landes insgesamt als präzise und zuverlässig.

Zu Beginn der Wahlkampfphase nominieren die offiziell registrierten Parteien auch ihre Kandidaten. Dies kann entweder durch eine parteiinterne Urwahl erfolgen oder die Kandidaten werden von der Parteispitze ernannt. Anschließend überprüft die Wahlkommission, ob die eingereichten Kandidaten bzw. Kandidatenlisten zur Wahl zugelassen sind. Im Juli 2013 hatte das oberste Gericht Indiens in einem wegweisenden Urteil verfügt, dass jeder Kandidat oder Abgeordnete, der wegen einer Straftat verurteilt wurde, sich nicht zur Wahl stellen kann bzw. sein bestehendes Mandat verliert.

Mit der Wahlankündigung tritt automatisch der sogenannte »Model Code of Conduct« in Kraft. Dieser Verhaltenskodex gilt für Regierung, Parteien und Kandidaten gleichermaßen und soll eine illegitime Wahlbeeinflussung vermeiden. Unter diesem Kodex können zum Beispiel keine Gesetze verabschiedet werden, auch nicht auf dem Verordnungsweg. Die Versetzung von Staatsbeamten ist untersagt. Zudem haben die Parteien und Kandidaten alle Aktivitäten zu unterlassen, die zu Konflikten zwischen Volksgruppen, religiösen Glaubensgemeinschaften und Ähnlichem führen könnten.

Auch darf keine Partei für Wahlkampfzwecke auf die staatliche Infrastruktur (wie Fahrzeuge, Gebäude etc.) zurückgreifen. Ähnliche Regelungen gelten ebenso für den Umgang mit den Medien. Öffentliche Auftritte von Amtsträgern, die als Wahlkampfauftritt interpretiert werden könnten, sind verboten. Selbst die Grundsteinlegung für ein Bauprojekt, beispielsweise durch einen Minister, ist mit Inkrafttreten des »Code of Conduct« untersagt.

So steht der »politische Prozess« in der heißen Phase des Wahlkampfes auch in diesem Jahr still. Die Verwaltung trifft keine wichtigen Entscheidungen mehr, sodass unter anderem die seit langem diskutierte Veränderung der Regelung für private ausländische Direktinvestitionen, insbesondere im Bereich des Einzelhandels, auf Eis gelegt wurde. Infrastrukturprojekte, auch wenn sie dringend notwendig sind, werden nicht mehr begonnen. Die Antikorruptionsgesetzgebung, eines der wichtigsten Vorhaben der neuen Aam Aadmi Party (s.u., konnte weder auf nationaler noch auf Bundesstaatsebene verabschiedet werden. Nicht nur ausländische Investoren, sondern auch die nationale Wirtschaft fragt sich gespannt, bei welcher zukünftigen Regierungskonstellation wohl mit welcher Wirtschaftspolitik zu rechnen sei.

Die einzelnen Bundesstaaten Indiens unterscheiden sich in ihrer Größe und ihrer Einwohnerzahl erheblich. Mit über 200 Millionen Einwohnern leben die meisten Menschen in Uttar Pradesh. Der im Norden des Landes gelegene Bundesstaat stellt mit 80 Sitzen das größte Kontingent an Abgeordneten für das Unterhaus und ist entsprechend umkämpft. Die beiden kleinsten Bundesländer, Mizoram und Nagaland, im äußersten Nordosten gelegen, stellen jeweils nur einen Parlamentarier. Neben den 28 Bundesstaaten gibt es noch sieben sogenannte »Union Territories«, die ebenfalls Abgeordnete stellen, aber kein eigenes Landesparlament besitzen (Ausnahmen sind die Stadtstaaten Neu-Delhi und Pondicherry). Die Hauptstadt Neu-Delhi stellt mit ihren offiziell knapp 17 Millionen Einwohnern sieben Abgeordnete der Lok Sabha. Aber auch die Inselgruppe der Lakshadweep, die gerade einmal 45 Einwohner zählt, darf einen Abgeordneten in das Parlament entsenden. Die unterschiedliche Größe der Wahlkreise hat zur Folge, dass ein Abgeordneter in Uttar Pradesh durchschnittlich 2,5 Millionen Einwohner repräsentiert, etwa 55-mal so viel wie der Vertreter von Lakshadweep.

Erfahrungsgemäß werden die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien sowie den einzelnen Wahlkämpfern im Verlauf des Wahlkampfes immer rauer. Auch in Indien geraten die Kampagnen häufig zu Schlammschlachten, in denen der Ton mitunter sehr aggressiv werden kann. Dies überträgt sich häufig auf die jeweiligen Anhänger der verschiedenen Lager, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen kann, bei denen in der Vergangenheit sowohl Verletzte als auch Tote zu beklagen waren. Allerdings hat sich die demokratische Streitkultur in Indien nach zahlreichen nationalen und regionalen Wahlen mittlerweile so gefestigt, dass vereinzelte politische Gewaltakte nicht automatisch zu einem Flächenbrand führen. Seit der Einführung der Demokratie 1947 hat es häufige Machtwechsel gegeben, die allesamt ohne politische Verwerfungen erfolgten. Die Autorität der Wahlkommission ist so groß, dass die Wahlverlierer ihre Niederlage in aller Regel anerkennen.


Koalitionswirrungen: Wer gegen wen? Wer mit wem?

Die Wahlkommission in Indien hat aktuell über 1 Parteien registriert. Allerdings treten davon nur drei Parteien mit Kandidaten im ganzen Land an - der Indian National Congress (INC, auch Kongresspartei), die Bharatiya Janata Party (BJP) und neuerdings die Aam Aadmi Party (AAP). Daneben existieren noch ca. 60 Parteien, die aktiv am Wahlgeschehen teilnehmen und vor allem auf regionaler Ebene durchaus bedeutende Wählergruppen an sich binden können. Die restlichen Parteien spielen am Wahltag keine Rolle bzw. sind häufig nur Scheinparteien, die von anderen Parteien initiiert oder gekauft werden, um als Störfaktor das lokale Machtgefüge durcheinanderzubringen.

Seit geraumer Zeit stehen sich bei Bundeswahlen in Indien zwei große Lager gegenüber, der Indian National Congress des Nehrudhi-Clans und die nationalistisch-konservative BJP. Keine der beiden hat jedoch Aussichten, eine Alleinregierung zu bilden. Beide sind auf Koalitionen mit diversen kleineren, vor allem regionalen Parteien angewiesen. Entsprechend versuchen beide Parteien schon lange vor den Wahlen, Allianzen in ihrem jeweiligen politischen Lager zu formen. Das »linke« Lager unter der Führung der Kongresspartei bildet mit zwölf Parteien die United Progressive Alliance (UPA), die auch die derzeitige Regierungskoalition stellt. Im rechtskonservativen Lager besteht die National Democratic Alliance (NDA) aus neun Mitgliedern (Ende 2013), mit der BJP an der Spitze der Allianz.

Die Ära des traditionellen Zweikampfes zwischen INC und BJP sowie ihren jeweiligen Verbündeten könnte in diesem Jahr jedoch zu Ende gehen. Denn mit der AAP ist eine dritte Kraft im Parteienwettbewerb aufgetaucht, die sich zum Ziel gesetzt hat, INC und BJP die Macht auf nationaler Ebene streitig zu machen und das politische Establishment zu erschüttern. Die 2012 gegründete »Partei des kleinen Mannes« hat sich bislang vornehmlich als Anti-Korruptionspartei unter der Führung des charismatischen Staatsbeamten Arvind Kejriwal einen Namen gemacht. Obwohl sie erst im November 2012 offiziell gegründet wurde und zum ersten Mal an nationalen Wahlen teilnimmt, will sie in mindestens 400 der 543 Wahlkreise mit einem eigenen Kandidaten antreten.

Seit ihrem Überraschungserfolg bei den Wahlen im Stadtstaat Delhi werden große Hoffnungen in die AAP gesetzt. Vor allem unter den städtischen Mittelschichten, insbesondere in Neu-Delhi, besitzt die AAP ein substanzielles Wählerpotenzial. Im Gros des ländlichen Indiens dürfte die Partei hingegen kaum eine Rolle spielen. Aber auch wenn die AAP den Erfolg von Delhi auf nationaler Ebene sicher nicht wiederholen kann, könnte ihr bei den Regierungsverhandlungen eine bedeutende Rolle zukommen. Da die AAP ausgeschlossen hat, mit einer der etablierten Parteien eine Koalition einzugehen, könnte sie die Herausbildung einer stabilen Mehrheitskoalition hintertreiben.

Während die AAP sich Koalitionen verweigert, werden die beiden anderen Parteien voraussichtlich versuchen, Koalitionen auf der Basis ihrer bestehenden Allianzen zu schmieden, um an die Macht zu kommen. Allerdings stehen die Chancen für die Kongresspartei in diesem Wahlkampf äußerst schlecht; sie gilt in den Augen der Wähler als weitgehend verbraucht. Stattdessen ist eine ausgeprägte Wechselstimmung im Land spürbar. Da die Bildung von Koalitionen mit diversen kleinen Parteien, die oft ein sehr spezifisches lokales Interesse verfolgen, sehr kompliziert ist, wird mitunter die Bildung einer großen Koalition von Kongresspartei und BJP vorgeschlagen. Verfechter der Idee argumentieren, dass eine große Koalition am ehesten in der Lage sei, die großen Herausforderungen für die Zukunft des Landes zu meistern. Allerdings wird dieses Szenario vom Gros der Beobachter im indischen Kontext als völlig undenkbar zurückgewiesen. Zu sehr haben sich die großen Parteien im Wahlkampf aufeinander eingeschossen. Bei keiner Seite scheint die Bereitschaft vorhanden, die für eine große Koalition notwendigen politischen Kompromisse einzugehen.

Eine weitere Option auf der politischen Landkarte Indiens ist die sogenannte »dritte Front«, die regelmäßig vor bedeutenden Wahlen diskutiert wird. Meist besteht diese Option aus den noch existierenden linken marxistischen und maoistischen Parteien, die versuchen, zusammen mit einigermaßen erfolgreichen Regionalparteien, die in wichtigen Bundesstaaten die Regierungsmacht innehaben, eine Wahlalternative zu bilden. Auch in diesem Vorwahlkampf gab es Bemühungen, eine derartige Koalition zu schmieden. Bereits nach wenigen Tagen traten die Differenzen und Unvereinbarkeiten zwischen den unterschiedlichen Parteien jedoch so stark in den Vordergrund, dass die Front genauso schnell wieder zusammenbrach, wie sie aus der Taufe gehoben worden war.

Daneben macht im Wahlkampf noch ein »Dreigestirn« schillernder Politikerinnen von sich Reden. Zu ihm gehören die Ministerpräsidentin aus Westbengalen, Mamata Banerjee (»Didi«, All India Trinamool Congress), die frühere Bollywood-Schauspielerin und derzeitige Ministerpräsidentin von Tamil Nadu, J. Jayalalithaa (AIADMK), sowie die ehemalige Ministerpräsidentin aus Uttar Pradesh, Mayawati Kumari (BSP). Die von dieser »Frauenpower« vertretenen drei Bundesstaaten können immerhin 161 Abgeordnete in das Parlament entsenden. Eine direkte Machtoption dürfte das »Dreigestirn« nicht darstellen, dennoch könnten die drei Politikerinnen als Königsmacherinnen eine Rolle bei den Koalitionsverhandlungen spielen.

Voraussichtlich werden jedoch die beiden etablierten großen Parteien sowie zu einem kleineren Teil der Newcomer AAP die besten Aussichten haben und in einer noch auszuhandelnden Koalitionsregierung die entscheidenden Machtoptionen besitzen. Wie sehen nun die Stärken und Schwächen der leitenden Figuren in diesen drei Parteien aus?

Rahul Gandhi, der Sprössling aus der bedeutendsten Politiker-Dynastie Indiens, dem Nehrundhi-Clan, hat sich lange geziert, überhaupt eine tragende Rolle im politischen Geschehen Indiens zu übernehmen. Von seiner Familie sowie den entscheidenden Figuren der Kongresspartei wurde er jedoch so lange gedrängt, die Rolle des Spitzenkandidaten zu übernehmen, bis er schlussendlich einwilligte. Dies hat immerhin den Vorteil, dass ihm keine innerparteilichen Gegner das Leben schwer machen. Dennoch ist spürbar, dass ihm die politische Leidenschaft, das Feuer, fehlt und deshalb auch kein Funke auf das Wahlvolk überspringt. Belastend wirkt zudem, dass seine Partei wie ausgelaugt wirkt. Die 10 Jahre in der Regierungsverantwortung haben den INC ermüden lassen. Der Regierungspartei werden die hohe Inflation und grassierende Korruption angelastet. Noch ist nicht ausgemacht, ob die neue Konkurrenz AAP mehr Wähler aus dem linken oder dem rechten Lager abziehen wird. Die Kongresspartei dürfte durch ein Abwandern von Wählern zur AAP allerdings weniger geschwächt werden als die BJP, da der INC seine Führungsrolle leichter mit dem Schmieden von Koalitionen behaupten kann als die rechtskonservative BJP, die im breiten Spektrum der linken Parteien Indiens kaum Verbündete finden wird.

Im Gegensatz zu Rahul Gandhi musste sich Narendra Modi, der Spitzenkandidat der BJP, parteiintern erst gegen mächtige Gegner durchsetzen. Inzwischen ist seine Kandidatur allerdings unumstritten und es gelingt Modi bei seinen Wahlkampfauftritten, große Massen für sich zu begeistern. Führende Wirtschaftsvertreter, die zuvor eher die Kongresspartei stützten, wenden sich vermehrt Modi zu. Ihm wird eher zugetraut, einen wirtschaftsfreundlichen Kurs zu fahren. Zwar bestehen weiterhin enge Verflechtungen zwischen der Kongresspartei und vielen großen Wirtschaftskonglomeraten, aber Modi hat mit einer unternehmerfreundlichen Politik in seinem Heimatstaat Gujarat inzwischen mehr Vertrauen in dieser Klientel aufbauen können. Die Partei selbst führt er praktisch wie ein Wirtschaftsunternehmen. Dies birgt die Gefahr, dass er die einzelnen Gliederungen der Partei nicht vollständig hinter sich versammelt und jederzeit Flügelkämpfe ausbrechen können. Eine große Schwäche der BJP liegt auch darin, dass sie besonders in den südlichen Bundesstaaten schwach aufgestellt ist. Sie kann in diesen Regionen weder auf einen effizienten Parteiapparat zurückgreifen noch existiert dort eine fest an die BJP gebundene Wählerbasis.

Für Modi sind auch die gewaltsamen Ausschreitungen in Gujarat aus dem Jahre 2002 nach wie vor belastend, bei denen nach manchen Schätzungen bis zu 2 Muslime gewaltsam ums Leben kamen. Modi war zwar zu jener Zeit noch nicht lange als Ministerpräsident von Gujarat im Amt und wurde in mehreren anhänglichen Gerichtsverfahren nicht für die Mitverantwortung der Pogrome verurteilt. Dennoch wird ihm in der indischen Öffentlichkeit weiter vorgeworfen, die Ausschreitungen zumindest billigend in Kauf genommen und die Sicherheitskräfte zurückgehalten zu haben. Unter den Muslimen, die mit knapp 180 Millionen Gläubigen immerhin etwa 14 Prozent der Bevölkerung Indiens stellen, dürfte die große Mehrheit eher für die Kongresspartei stimmen. Der INC gilt noch am ehesten als Garant für einen säkularen Staat. Dafür kann Modi umso mehr mit den Stimmen der Hindu-Nationalisten rechnen. Die Shiv Sena, eine religiöse Partei aus Maharashtra, steht als sichere Verbündete an der Seite der BJP. Auch der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationaler Selbsthilfebund), eine hindu-religiöse paramilitärische »Kulturorganisation« mit rechtsradikalen nationalistischen Ansichten, sieht die BJP als ihren politischen Arm. Viele führende Politiker der BJP sind aus dem RSS hervorgegangen. Allerdings bestehen neuerdings Spannungen zwischen Shiv Sena und RSS, die sich auch negativ auf die BJP auswirken. Das Stigma, eine Partei zu führen, die sich dem »Kommunalismus« verschrieben hat, sprich dem ethnischen oder kastenorientierten Rassismus anhängt, bleibt an Modi wie ein Kaugummi kleben.

Der Neuling im nationalen politischen Geschäft, Arvind Kejriwal, und seine Partei AAP ist die große Unbekannte vor den Wahlen. Nachdem die Partei bei den Landtagswahlen in Delhi im Herbst 2013 zweitstärkste Kraft wurde und Kejriwal unter Duldung der Kongresspartei kurzzeitig sogar den Posten des Ministerpräsidenten innehatte, wird ihr auch auf nationaler Ebene einiges zugetraut. Allerdings währte die Regierung der AAP in Delhi nur kurz. Nach lediglich 49 Tagen im Amt trat Kejriwal als Ministerpräsident wieder ab, da es ihm nicht gelungen war, ein Anti-Korruptionsgesetz auf Landesebene durchzusetzen. Die kurze Regierungszeit der AAP in Delhi war zudem im Wesentlichen von populistischem Aktionismus geprägt und weniger von der Annahme von Regierungsverantwortung. Daher haftet Kejrival heute das Image an, zwar ein wichtiger Sozialaktivist zu sein, aber nicht fähig, politische Verantwortung zu übernehmen. Dennoch wird der AAP zugetraut, zumindest in Delhi und vielleicht auch in anderen urbanen Zentren des Landes, einige Sitze zu erringen. Auch wenn die AAP immer wieder erklärt, keine Koalitionen eingehen zu wollen, könnte die Partei eine wichtige Rolle bei den nach der Wahl anstehenden Regierungsverhandlungen einnehmen - und sei es nur durch die Verhinderung einer stabilen Mehrheitskoalition.

Die große Euphorie, die der AAP nach ihrem Wahlerfolg in Delhi entgegengebracht wurde, ist mittlerweile allerdings wieder abgeflaut. Die Partei startet ohne jede administrative Struktur in den Regionen. Sie besteht vor allem aus enthusiastischen Freiwilligen, die wenig politische Erfahrung mitbringen. Zudem mischen sich viele zwielichtige Gestalten unter die neuen Anhänger. In der Hektik des Wahlkampfes fällt es schwer, bei der Nominierung der offiziellen Kandidaten die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Kritik an fragwürdigen Methoden wie auch Personen in der AAP dürfte daher während des Wahlkampfes, vor allem aber nach den Wahlen, noch sehr laut werden. Eine weitere Schwäche ist das völlige Fehlen einer programmatischen Debatte innerhalb der Partei. Ähnlich wie bei den Grünen während ihrer Gründungsphase in Deutschland ist die AAP mit einer einzigen Forderung angetreten: die Korruption zu beseitigen. Allerdings kann sie nicht einmal in dieser »Kernkompetenz« ein schlüssiges politisches Konzept vorweisen. Bei anderen wichtigen Politikfeldern, wie der Wirtschaftspolitik, der Außenpolitik usw. besteht völlige Fehlanzeige. Kurz: Der Weg der Wandlung von einer zivilgesellschaftlichen Protestbewegung zu einer kompromissfähigen politischen Kraft ist noch nicht abgeschlossen.



Fazit und vier Szenarien

Vor dem Hintergrund der politischen Landschaft Indiens und der Charakteristika des aktuellen Wahlkampfes erscheinen vier Szenarien für die Zeit nach der Wahl denkbar:

  1. Die von der BJP geführte rechtskonservative Allianz NDA geht mit mehr als 230 Sitzen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Die BJP erringt davon alleine um die 200 Sitze. Dies erzeugt eine Sogwirkung für weitere wichtige Regionalparteien, der NDA beizutreten. Unter Führung der BJP kann eine stabile Regierung gebildet werden. Modi wird neuer Premierminister Indiens.
  2. Die BJP ist zwar stärkste Partei, ihr Wahlergebnis jedoch nicht so gut, dass sie die Koalitionsverhandlungen dominieren kann. Schließlich wird eine Koalition um die BJP herum gebildet, die jedoch weder über eine klare Führung noch über eine stabile Mehrheit im Parlament verfügt. Modi wird nicht zum Premierminister ernannt, sondern ein Kompromisskandidat einer anderen Partei, der weniger kontrovers für die Koalitionspartner ist. Eventuell wird eine starke Regionalpartei in die Koalition aufgenommen, die den Premierminister stellt (Mamata Banerjee oder Jayalalitha). Die Regierung ist allerdings so fragil, dass es zu vorgezogenen Neuwahlen in 2015 oder 2016 kommt.
  3. Die beiden großen Parteien INC und BJP besitzen zwar die parlamentarische Mehrheit, können aber beide nicht genügend Regionalparteien gewinnen, um eine Mehrheit im Parlament zu bilden. Nach längeren Verhandlungen kommt es zu einer großen Koalition, die jedoch von ständigen Querelen erschüttert wird. Die große Koalition ist von Beginn an instabil. Forderungen nach Neuwahlen werden bereits kurz nach der Regierungsbildung erhoben.
  4. Die AAP gibt ihre Weigerung auf, in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Sie wird Junior-Partner in einer Koalition um den INC und die von ihm geführte UPA-Allianz. Die AAP tritt jedoch nach kurzer Zeit aus der Koalition aus, da ihre politischen Forderungen zur Korruptionsbekämpfung nicht vollends umgesetzt werden. Die Regierung zerfällt, es kommt zu neuen Koalitionsverhandlungen oder vorgezogenen Neuwahlen.

Ungeachtet ihres Ausgangs wird von dieser Wahl bleiben, dass sie zu einer neuen Euphorie in der indischen Gesellschaft geführt hat. Dies ist vor allem das Verdienst des politischen Neulings Arvind Kejriwal und seiner AAP. Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, aus einer sozialen Protestbewegung heraus eine Partei zu gründen, die frischen Wind in das verstaubte politische Establishment bringen, die politische Szene aufwirbeln und Wähler neu motivieren kann. Dieses wiedererweckte Interesse am Politischen stabilisiert und legitimiert die »größte Demokratie der Welt«, insbesondere gegenüber dem großen Rivalen China im Nordosten, der als autoritäres, undemokratisches Regime mit seinen gewaltigen wirtschaftlichen Erfolgen bei manchem Inder in der Vergangenheit Zweifel aufkommen ließ, ob Demokratie die richtige Regierungsform für ein Entwicklungsland sei. Gut möglich, dass die Mobilisierung neuer Wählergruppen in der urbanen Mittelklasse durch die AAP erneut zu einem Rekord in der Wahlbeteiligung bei der indischen Parlamentswahl führen wird. In jedem Fall ist zu wünschen, dass Indiens »Tanz der Demokratie« ein Happy End nimmt und mit dem erfolgreichen Abschluss der Wahlen am 16. Mai zu einem Freudentanz wird.



Über den Autor

Dr. Felix Schmidt ist seit 2010 Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Neu-Delhi.



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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2014