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ASIEN/693: Konfliktforscher geißeln US-Afghanistan-Pläne (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. Dezember 2010

Afghanistan:
Rechnung geht nicht auf - Konfliktforscher geißeln US-Afghanistan-Pläne

Von Jaya Ramachandran


Brüssel, 1. Dezember (IPS/IDN(*)) - In Afghanistan sterben immer mehr Zivilisten, und die halbherzige Bekämpfung der Aufständischen ist erfolglos geblieben. Die Taliban sind aktiver denn je und dürfen sich in Pakistan auch weiterhin in Sicherheit wiegen. Diese niederschmetternde Bilanz ziehen die Konfliktforscher der renommierten 'International Crisis Group' (ICG), die auch den neuen Afghanistan-Plänen keine Erfolgschancen einräumen.

Die US-amerikanischen Militäroperationen in Afghanistan gehen ins zehnte Jahr, und Washington sucht nach Möglichkeiten, sich aus dem zentralasiatischen Bürgerkriegsland zu verabschieden. Die ICG mit Sitz in Brüssel hält den anvisierten vollständigen Truppenabzug bis 2014 jedoch für einen schweren Fehler, der den Zusammenbruch der Regierung in Kabul zur Folge hätte.

"Ohne Hilfe von außen wird die Regierung von (Hamid) Karsai untergehen. Die Taliban würden dann einen großen Teil des Landes kontrollieren, der Binnenkonflikt würde sich verschärfen und die Aussichten auf eine Wiederkehr des zerstörerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre erhöhen", warnt die Denkfabrik in einer neuen Studie.

Schon ein partieller Sieg der Taliban würde ausreichen, um den pakistanischen Dschihadisten-Gruppen beizuspringen und ihnen einen sicheren Hafen zu bieten. Dies wiederum hätte mehr Gewalt in Pakistan und Anschläge auf Indien zur Folge, warnt der Bericht. Eine solche Entwicklung würde dann weitere Länder involvieren. Der Konflikt, der wie das Heer von Flüchtlingen, Dschihadisten und anderen Problemen immer größer werden würde, ließe sich dann kaum mit einigen Drohneneinsätzen beheben.

Wie die Friedensforscher monieren, machen die USA ihre Erfolge gegen die Aufständischen an der Zahl der toten Taliban fest. Das jedoch sei eindeutig zu kurz gegriffen, zumal nicht erkennbar sei, ob die Taliban an Stärke eingebüßt und mehr Stabilität erreicht werden konnte.


Märchen vom großen Erfolg

Die US-Armee nimmt derzeit für sich in Anspruch, im Umfeld von Kandahar, dem Schauplatz der jüngsten Kämpfe der internationalen Schutztruppe ISAF, Erfolge erzielt zu haben. Und Staatspräsident Karsai hat einen Friedensrat eingerichtet, um Verhandlungen mit den Aufständischen zu ermöglichen. Darüber hinaus soll die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte - Polizei und Militär - ernsthaft vorangebracht werden. Denn die USA und ISAF haben nur noch wenige Monate Zeit, bis sie offiziell etliche Bezirke als sicher für den Übergang erklären wollen.

Derzeit werde das Märchen einer erfolgreichen Kampagne gegen die Aufständischen erzählt, so der Bericht. Doch die Eile, die Abkommen mit den Aufständischen zu zementieren, helfe weder den Afghanen, noch könne sie die realen regionalen und globalen Sicherheitsgefahren bannen, die mit einem Zusammenbruch des afghanischen Staates einhergehen würden, warnt Samina Ahmed von der ICG.

Damit die Aufständischen wirksam bekämpft und Bedingungen für eine inklusive und nachhaltige politische Lösung geschaffen werden können, müssten Sicherheit, Gerichtsbarkeit und Regierungsführung verbessert werden, so Ahmed. Doch bisher begnüge man sich mit einigen schnellen Reparaturen in diesen drei Bereichen.

"Die Vernachlässigung der Regierung, ein anämisches Rechtssystem und eine schwache Rechtsstaatlichkeit sind die Wurzeln des Übels. Zu wenig wurde sich darum bemüht, die politischen Institutionen, Lokalregierungen und ein funktionierendes Rechtssystem zu entwickeln. Man habe Rebellen und kriminellen Elementen erlaubt, das Vakuum zu füllen, das der schwache Staat hinterlassen habe.

Auch die Gewalt nimmt immer weiter zu. Mit Afghanistans Nationalen Sicherheitskräften haben die Taliban ein leichtes Spiel. Auch auf Seiten der Armee und ISAF mehren sich die Todesfälle. Afghanistan mangelt es nach Ansicht der ICG nach wie vor an einer soliden Sicherheitsstrategie.


Taliban auf den Vormarsch

Trotz schwerer Verluste auf dem Schlachtfeld gelingt den Taliban-Kämpfern - von den pakistanischen Grenzgebieten von Khyber Pakhtunkhwa bis zu den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) und Balutschistan - die Rekrutierung neuer Kämpfer. Auch nutzen sie die Region, um sich mit aktiver Unterstützung der Al-Kaida, den pakistanischen Dschihad-Gruppen und dem pakistanischen Militär neu zu gruppieren, zu reorganisieren und zu bewaffnen. "Dieser strategische Vorteil erlaubt den Aufständischen, in alle Winkel des Landes vorzudringen", warnt die ICG. Anders, als die US-Rhetorik Glauben machen wolle, seien Dutzende Bezirke nun fest in Taliban-Hand.

Der düstere ICG-Bericht 'Afghanistan: Exit vs. Engagement' erschien eine Woche nach dem Gipfel der 28 Mitglieder zählenden NATO vom 19. bis 20. November in Lissabon. Dort hatten sich die Teilnehmer auf den graduellen Rückzug ihrer Truppen verständigt. Ende 2014 soll Afghanistan dann selbst für die Sicherheit des Landes verantwortlich sein. Beschlossen wurde ferner, mehr Geld für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bereitzustellen.

"Die Exit-Strategie klingt ziemlich simpel: Setzt die Taliban unter Druck, verschafft euch Rückhalt (in der Bevölkerung) durch den Schutz der Zivilisten, lockt desillusionierte Taliban auf die Seite der Regierung und bildet schlagkräftige Sicherheitskräfte aus", sagte die ICG-Afghanistan-Analystin Candace Rondeaux. "Das Problem ist nur, dass nichts davon funktioniert."

Die ICG-Konfliktforscher wiesen darauf hin, dass nach dem fast zehnjährigen US-Engagement die Aufständischen auch weiterhin die parallel existierenden Rechtssysteme und Sicherheitsorgane in vielen wenn nicht gar den meisten Regionen des Landes kontrollieren. Kabuls kleptokratischen Eliten wiederum hielten die Bestechungsmaschinerie in Gang.


In Kriminelle investiert

Das ICG-Dokument unterstreicht ferner, dass die Milliarden US-Dollar, die in das Land geflossen sind, der Zusammenarbeit zwischen korrupten Mitgliedern der afghanischen Regierung und gewalttätigen lokalen Chiefs förderlich waren.

Dem Papier zufolge sind die sukzessiven US-Regierungen gleichermaßen für den schlechten Zustand des Landes verantwortlich. "Von Anfang an waren die Maßnahmen unhaltbar. Gewalttätige und korrupte Personen des Landes auszuwählen, sie mit Koffern voller Geld und dem Versprechen auszustatten, dass es noch mehr geben werde, und sie dann in öffentliche Ämter einzusetzen, habe sich noch nie als ein Rezept für Stabilität herausgestellt, so die ICG sarkastisch. (Ende/IPS/kb/2010)


(*) Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte Informations- und Analysendienst IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland.

Links:
http://www.crisisgroup.org/en.aspx
http://www.indepthnews.net/news/news.php?key1=2010-11-29%2021:34:54&key2=1

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2010