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ASIEN/678: Indien - Regierung schickt Unterhändler nach Kaschmir (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. November 2010

Indien: Regierung schickt Unterhändler nach Kaschmir - Separatisten gegen "Hinhaltetaktik"

Von Athar Pavaiz


Shrinagar, Indien, 3. November (IPS) - Shabnam Khan aus Shrinagar hat derzeit nur einen Wunsch: In der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir sollten Schulen und Geschäfte ihren seit mehr als vier Monaten andauernden Streik einen Tag lang aussetzen. Ihre Tochter würde gern versuchen, sich in einer noblen Schule anzumelden.

Der in dem von Indien beanspruchten Teil Kaschmirs im Sommer erneut aufgeflammte Widerstand gegen die Zentralregierung beherrscht seit Monaten wieder den Alltag in der unruhigen Himalaja-Region. Separatisten verlangen die Abtrennung des Bundesstaates, dessen über zehn Millionen Einwohner überwiegend Muslime sind. Bei den jüngsten Unruhen kamen mehr als hundert Zivilisten ums Leben, die meisten starben durch Polizeikugeln.

Besonders Shrinagars Bildungsbetrieb und die Geschäftswelt bekommen die ständigen Streiks und die von Schülern und Studenten unterstützten Protestaktionen zu spüren. In den vergangenen 140 Tagen blieben die Schultore meistens geschlossen. Nur knapp drei Wochen lang wurde unterrichtet. Ebenso lang konnten Händler ihre Läden öffnen. "Hoffentlich führen diese Unruhen zu einem positiven Ergebnis, wir haben schon zuviel leiden müssen", seufzt Sultan Mir, der in Shrinagar einen Großhandel betreibt.

Doch danach sieht es vorläufig nicht aus, auch wenn die Regierung in Neu-Delhi einen Weg aus der politischen Sackgasse sucht. Ende Oktober beauftragte sie ein dreiköpfiges Expertenteam, in Kaschmir mit allen Kreisen der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Doch Kaschmirs führende Separatisten ließen keinen Zweifel daran, dass Streiks und Proteste nur dann ausgesetzt werden, wenn die Regierung in Neu-Delhi den ersten Schritt tut und sich ernsthaft um eine Lösung des Konflikts bemüht. Der prominente Separatistenführer Syed Ali Shah Geelani erklärte: "Delhi muss zunächst positiv auf unsere fünf Forderungen reagieren."

Danach soll die indische Zentralregierung das Thema Kaschmir formell als ungelösten Konflikt akzeptieren, alle politischen Gefangenen freilassen, die indischen Truppen aus der Region abziehen, das umstrittene militärische Sondergesetz (AFSPA), das den Ausnahmezustand zulässt, aufheben und die für den Tod von 111 Kashmiris Verantwortlichen bestrafen.

Die drei Unterhändler, der Journalist Dileep Padgaonkar, die Konfliktforscherin Radha Kumar, Direktorin des 'Nelson Mandela Centre for Peace and Conflict Resolution' der Jamia Millia Islamia-Universität in Neu-Delhi und der Regierungsbeamte M. M. Ansari begannen ihre schwierige Mission im Zentralgefängnis von Shrinagar, wo sie mit etlichen dort einsitzenden militanten Separatisten sprachen. Diese betonten, es werde keine Lösung des Kaschmir-Konflikts geben, wenn Pakistan nicht an den Gesprächen beteiligt werde.

Der seit 1947 andauernde Kaschmir-Konflikt ist eine Folge der Unabhängigkeit Indiens und der Gründung eines unabhängigen Staates Pakistan mit muslimischer Bevölkerung. Die Himalaja-Region Kaschmir, in der überwiegend Muslime leben, wurde auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates 1949 durch eine Waffenstillstandslinie vorläufig in ein von Indien und ein von Pakistan verwaltetes Gebiet geteilt. Die Bewohner sollten später selbst entscheiden, ob sie zu Indien oder zu Pakistan gehören oder sich für die Unabhängigkeit entscheiden wollten. Heute werden etwa zwei Drittel Kaschmirs von Pakistan verwaltet, der übrige Teil von Indien. Indien und Pakistan haben bereits zwei Kriege um Kaschmir geführt.


"UN-Resolution endlich umsetzen!"

Der 81-jährige Separatistenführer Geelani und andere auf Autonomie bestehende Politiker werfen der indischen Zentralregierung vor, das Gebiet gewaltsam dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir zugeschlagen zu haben, "obgleich die Vereinten Nationen seit 1947 von einem umstrittenen Gebiet sprechen, dessen Bewohner das Recht haben, über ihre Selbstbestimmung zu entscheiden", erklärte Geelani.

Die indische Regierung beharrt auf ihrer Position, Kaschmir sei ein Teil Indiens. Deshalb müsse nach einer Lösung des Konflikts gesucht werden, die Indiens Souveränitätsanspruch über den Bundesstaat nicht aufgibt. Diese Haltung ist auch in Indien selbst umstritten.

"Das Kaschmir-Problem hat nicht nur eine internationale Dimension, sondern auch den historisch begründeten Hintergrund eines langen Entfremdungsprozesses der Bevölkerung des Kaschmir-Tals von Indien", schrieb der angesehene Journalist Praful Bidwai in der in Shrinagar erscheinenden, englischsprachigen 'Kashmir Times'.

Die Separatistenführer Geelani und Mirwaiz Umar Farooq weigerten sich, die von Delhi entsandten 'Gesprächspartner' zu treffen. "Sie haben keinerlei Auftrag und wurden lediglich geschickt, um eine Resolution über Kaschmir weiter hinauszuschieben", kritisierten sie.

Der politische Kommentator Mohammad Sayeed Malik schloss sich dieser Kritik an. "Sie sind keine Politiker und nicht qualifiziert, ein so komplexes, schwieriges Problem zu verstehen. Mit ihnen macht man den Bock zum Gärtner", meinte er.

Auf einem Seminar des Anwaltsverbandes von Kaschmir erklärte der Rechtswissenschaftler Sidiq Wahid: "Die Unterhändler müssen ihren Bericht dem indischen Innenminister vorlegen. Damit wird die Kaschmirkrise auf ein Law-and-order-Problem reduziert." Dagegen versicherte Teamleiter Padgaonkar, man habe den Auftrag, in Kaschmir "großherzig" mit allen Bevölkerungskreisen zu sprechen.


Separatisten appellieren an Obama

Unterdessen setzten Kaschmirs Separatistenführer ihre Hoffnung auf Barack Obama. Sie wollen dem US-Präsidenten während seines geplanten Staatsbesuchs vom 8. bis 11. November eine Petition überreichen, in der Washington um Vermittlung zwischen Indien und Pakistan und um die Entsendung eines Sonderberichterstatters gebeten wird. Mirwaiz Umar Farooq lässt bereits Unterschriften für die Petition sammeln.

Geelani betonte: "Wenn Obama es ernst meint mit einer Lösung des Kaschmir-Konflikts, sollte er Indien dazu drängen, die UN-Resolution umzusetzen, die den Menschen in Kaschmir Selbstbestimmung garantiert." (Ende/IPS/mp/2010)


Links:
http://www.kashmirprocess.org
http://www.boell.de/.../internationale-politik-2242.html
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=53416


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 3. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2010