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ASIEN/675: Beobachtungen in Afghanistan (inamo)


inamo Heft 63 - Berichte & Analysen - Herbst 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Beobachtungen in Afghanistan

Von Matin Baraki


Der derzeitige US-Beauftragte für Afghanistan und Pakistan (AfPak), Richard Holbrooke, hat die südliche afghanische Provinz Helmand besucht, wo die NATO unter US-Armeeführung in den Bezirken Mardjah und Nade Ali einen Krieg der verbrannten Erde führen. Holbrooke verkündete seine volle Zufriedenheit mit den Ergebnissen der Kampfhandlungen.

Unser Autor Matin Baraki hielt sich zum gleichen Zeitpunkt in Afghanistan auf (Mitte Februar bis Ende März 2010). Seine Erfahrungen dürften sich kaum mit denen Holbrookes decken.


Die Tageszeitung "Wahdat" berichtete am 5. März 2010, dass zu Beginn des Krieges (11. Februar) mehr als 3000 Familien flüchteten, zum Teil kamen sie barfuß in Laschkargah, der Hauptstadt der Provinz Helmand an und hofften auf Hilfe. Die Flüchtlinge berichteten von einem gnadenlosen Krieg in Mardjah und Nade Ali, wo Straße für Straße und Haus für Haus durchkämmt würden. Sie sprachen vom Einsatz aller Waffengattungen, darunter Kampfhubschrauber und -jets, Artillerie und Panzer, auch vom massiven Einsatz unbemannter Drohnen.


NATO-Offensive Muschtarak

In nur einer Woche wurden 14 Drohneneinsätze registriert. Im ganzen Jahr 2009 waren es 200 gewesen, meldete Khybar-TV aus Peschawar. Die US-Armee setzt massiv Drohnen ein, um ihre Soldaten nicht zu gefährden. Trotzdem wurden am 19. Februar 2010 sechs von ihnen durch Widerständler getötet. Am 21. Februar 2010 waren es schon 16, während 120 Widerstandskämpfer fielen. Am neunten Tag der NATO-Offensive Muschtarak (Gemeinsam) in den südlichen Bezirken der Provinz Helmand, Mardjah und Nade Ali, die seit Jahren von den Taliban kontrolliert werden, haben US-Flugzeuge im Bezirk Kajan der Provinz Daikhondi 33 Zivilisten ermordet und 12 verletzt. Sie waren ausschließlich Flüchtlinge aus Helmand und zum großen Teil Frauen und Kinder. Bis zum 23. Februar 2010 waren 45 und am nächsten Tag schon 73 Zivilisten Opfer der NATO-Offensive geworden. Meine Prophezeiung, dass 2010 das blutigste Jahr der afghanischen Geschichte werden könnte, wurde von allen meinen afghanischen Gesprächspartnern bestätigt. Trotz massiven Kampfeinsatzes der NATO sind die Beobachter in Kabul nicht von einem Sieg der westlichen Kriegsallianz überzeugt. Die Kabuler Tageszeitung "Aschte Subh" schätzte in ihrer Ausgabe vom 28. Februar 2010, dass mit dem Inferno der NATO in Mardjah der Widerstand keinesfalls am Ende sein werde. Die pakistanische Khybar-News-TV aus Peschawar strahlte Bilder von Mardjah aus, wo NATO-Einheiten mit schweren Waffen zu sehen waren. Am 13. Tag des Krieges, am 26. Februar 2010, zeigten die afghanischen Fernsehsender, wie der Gouverneur von Helmand, Gulab Mangal, unter US-Bajonetten die Flagge des Kabuler Regimes vor dem Verwaltungsgebäude des Bezirkes von Mardjah gehisst hat. Diese Schau sollte suggerieren, dass Mardjah eingenommen und besetzt worden ist. Der Krieg gegen Mardjah ging aber Anfang März noch immer weiter.

Der zweite Stellvertreter von Karzai, Warlord Mohammad Karim Khalili, hat nach Agenturmeldungen das zerstörte Mardjah besucht, wo er der Bevölkerung angeblich Hilfe versprochen hätte. Die Fernsehsender zeigten jedoch Khalili nur in einer extra für ihn arrangierten Versammlung von geladenen Gästen, wo er den Widerstand zur Aufgabe des Kampfes aufrief. Den über fünf Wochen andauernden NATO-Krieg bezeichnete er im gleichen Atemzug als etwas Positives, was natürlich, wie die Faust aufs Auge passte. Da hatte man den Elefanten in den Porzellanladen geschickt. Die Krönung der Demokratisierungspolitik der NATO war erreicht, als die US-Besatzer den Afghanen Abdul Zaher, der 1998 am Landgericht Darmstadt zu vier Jahren und neun Monaten Haft wegen versuchten Totschlages verurteilt worden und im Butzbacher Gefängnis inhaftiert war, als Kreisvorsteher von Mardjah installierten. Darüber berichten am 6. März Tolo-TV und am 19. März die FAZ.

Die Entlassung von General Stanley McChrystal durch Präsident Obama am 24. Juni 2010, die der General bewusst provoziert hatte, ist eine deutliche Bestätigung für das Scheitern der US-Kriegsstrategie.(1) Der Krieg in Afghanistan läuft nicht so, wie die US-Generäle McChrystal und David Petraeus es sich gedacht hatten. Die Frühjahrsoffensive 2010 gegen die Bezirke Mardjah und Nade Ali in der Provinz Heimand ist gescheitert. Die Taliban sind schon nach kurzer Zeit zurückgekehrt.

McChrystal selbst nannte Mardjah "ein blutendes Geschwür".(2) Mit dieser US-Strategie wird die Wunde weiter bluten, denn nach der Vertreibung der Aufständischen aus den Ortschaften rückten gemäß der US-Strategie afghanische Militärs und Polizei nach. "Dann wird das Dorf geplündert: Geld, Lebensmittel, aber auch Fernseher. Die Soldaten gehen durch und nehmen, was die brauchen können, und gehen dann schnell wieder raus."(3) Sogar die geplante anschließende Großoffensive gegen Qandahar, der Hochburg der Taliban, mußte vorerst verschoben werden.(4)

Was für eine Zerstörung die NATO in Mardjah angerichtet hat, wurde von keiner Agentur gezeigt. Es herrscht in ganz Afghanistan eine totale Informationssperre über diesen Vernichtungskrieg. Selbst dem relativ offeneren Tolo-TV sind die Zähne gezogen worden. Von den inzwischen auf 30 TV-Stationen angestiegenen privaten Fernsehanstalten traut sich keine mehr objektiv zu berichten. Der allgegenwärtige Geheimdienstapparat ist immer zur Stelle, wenn etwas passiert und hindert die Journalisten daran, Bilder oder Filmaufnahmen zu machen. Laufende Sendungen werden spätestens dann gestoppt, wenn etwas Kritisches über die Sender geht. Der Kabuler Statthalter Karzai persönlich ordnete die Verhaftung und Verurteilung kritischer Journalisten der Zeitung "Payam" an. Die Zeitung gilt als eine der seriösesten und bestinformierten Tageszeitungen des Landes.


Pakistan und die Taliban

Pakistanische Sicherheitskräfte haben seit Anfang des Jahres 2010 bis zum fünften März 20 hochrangige Talibanfunktionäre inhaftiert. Darunter Mawlawi Abdul Karim, Gouverneur der Taliban für die nordafghanischen Provinzen Baglahn und Kunduz sowie Mullah Abdul Ghani Beradar, Nr. 2 in der Rangfolge der Talibanfunktionäre und Motasem Aqa, angeblich Schwiegersohn des Taubanführers Mullah Mohammad Omar und Nr. 7 in der Hierarchie der Taliban. Der pakistanische Publizist Mohammad Hassan Haqyar bestreitet, dass Motasem Aqa Schwiegersohn von Omar ist. Nach Angaben der Peschawarer Tageszeitung Wahdat (5. März 2010), die sich auf die Presseagentur Pajwak bezog, war Motasem Aqa Leiter des Sonderbüros von Mullah Omar und später Finanzminister der Taliban. Haqyar meint, dass die pakistanische Seite mit solchen Festnahmen den USA einen Gefallen tun will, um von ihnen mehr Geld zu bekommen. Die Festgenommenen gehören zu den Talibanfunktionären, die dem Kabuler Regime Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. Beobachter in Kabul wundern sich, warum die pakistanischen Behörden ausgerechnet diese und nicht die Kompromisslosen festgenommen haben. Pakistan will damit den Eindruck erwecken, gegen die Taliban vorzugehen, trifft jedoch die Falschen. Nach einer Meldung von Tolo-TV vom 17. März 2010 gab ein namentlich nicht genannter Sprecher von Karzai an, dass der Kabuler Präsident sehr wütend sei wegen der Verhaftung von Mullah Beradar. Denn es gab schon Gespräche des Kabuler Regimes mit ihm. Kai Eide, der bisherige Bevollmächtige des UN-Generalsekretärs für Afghanistan pflegte seit einem Jahr geheime Kontakte zu den Taliban. Die Treffen fanden in Dubai und an anderen geheimen Orten statt. Zuvor hatte Eide solche Gespräche immer bestritten. Sein Nachfolger wird diese Geheimdiplomatie fortsetzen. So wollen es die USA und die NATO.

In diesen Zusammenhang gehört die Nachricht, dass Mullah Abdul Qaium, der von Guantánamo in das vom Kabuler Verteidigungsministerium kontrollierte Gefängnis Pulitscharchi bei Kabulgebracht und ohne Angabe von Gründen von der Kabuler Regierung freigelassen wurde, jetzt Kommandant der Taliban und Nachfolger von Mullah Beradar geworden ist.

Zwei hochrangige pakistanische Politiker äußerten sich zum NATO-Krieg gegen Afghanistan. Während General Ehsanulhaq bei einer Konferenz in Belgien am 21. Februar 2010 den heiligen Krieg (Jihad) als Kampfmittel gegen Unterdrückung bezeichnete, prophezeite der Ministerpräsident (Wasireala) der Nordwest Front Provinz (NWFP) Pakistans, Mohammad Akram Dorani, bei einer Versammlung in den Stammesgebieten, in "Banu", den USA in diesem Jahr eine Niederlage. Sie werden außer, dass sie viele Särge nach Hause tragen, keine anderen Erfolge erringen können, meldete am 22. Februar 2010, die in Peschawar erscheinende Zeitung "Shahadat". Am 17. März 2010 legitimierte Mawlana Shah Abdul Aziz, ein hoher pakistanischer Geistlicher, die Selbstmordanschläge in einem Gespräch mit Khybar-News-TV. Die Ursache für die Anschläge sieht er in der US-Kriegspolitik in der Region. Er forderte: "Hände weg von Pakistan". Der einflußreichste pakistanische Geistliche, Mawlana Fazel Rahman, von seinen Anhängern als Amir (Befehlshaber) bezeichnet, rief bei einer Versammlung im Stammesgebiet "Dehrae Ismaelkhan" zur Unterstützung der Taliban auf, berichtete die in Peschawar erscheinende urdusprachige Tageszeitung Aaj am 6. März 2010. Außerdem forderte der Eisenbahnminister der Nordwest Grenzprovinz und einer der Führungspersönlichkeiten der National Awami Party (NAP), Haji Ghulam Ahmad Bilour, die Taliban dazu auf, ihren Jihad in Afghanistan und nicht in Pakistan zu führen. Auch die Gruppe "Ghazi-Fauj", die Märtyrerarmee, hat ihre Unterstützung für die in Bedrängnis geratenen Taliban angekündigt. Je gnadenloser der US- und NATO-Krieg gegen Afghanistan geführt wird, desto lauter werden die Stimmen in und um Afghanistan gegen die Besatzer.


Alte Verbindungen

Der Neocon-Politiker aus der Bush-Ära, Zalmay Khalilzad, hielt sieh seit Mitte Februar 2010 in Kabul auf. Seine Vorarbeit begünstigte möglicherweise die Bedingungen für die bezeichnenderweise aus den USA eingereiste fünfköpfige Delegation der "Hezbe Islami" von Gulbudin Hekmatyar. Dieser hatte schon seit Anfang der 1980er Jahre eng mit der CIA zusammengearbeitet. Hier wird deutlich, dass die Hezbe Islami immer noch ihre alten Verbindungen zu US-Stellen aufrecht erhält. Am 22. März 2010 führte die Delegation in Kabul Gespräche mit Vertretern der Kabuler Administration. Sie stellte keinerlei Vorbedingungen und akzeptierte die Anwesenheit der NATO in Afghanistan, wie Tolo-TV am 22. März 2010 berichtete.


Aus jeder paschtunischen Familie kommt mindestens ein Taliban-Mitglied (Holbrooke)

Am 9. März 2010 verbreitete der TV-Sender Khybar aus Peschawar die Aussage des US-Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan Richard Holbrooke, dass in jeder paschtunischen Familie in Afghanistan mindestens ein Mitglied den Taliban angehöre. Die inzwischen gleichgeschalteten Kabuler Medien hüllten sich in Schweigen. Erst als sich das afghanische Parlament damit befasste, und die US-Botschaft in Kabul sich um Schadensbegrenzung bemühte, erwachten sie aus ihrem Tiefschlaf. Während der Kabuler Präsident eisern dazu schwieg, stuften zahlreiche Abgeordnete die Aussage Holbrookes als sehr schädlich ein für einen Vielvölkerstaat wie Afghanistan. Sie beschädige die nationale Einheit des Landes. In einer Parlamentsresolution wurde die Aussage Holbrookes scharf verurteilt. Er wurde aufgefordert sich bei den Afghanen zu entschuldigen.


Schulbesuch

Der NATO-Krieg gegen Afghanistan wird unter anderem damit gerechtfertigt, dass jetzt 6 Mio. Kinder zur Schule gehen können. Präsident Karzai musste nun zugeben, dass 5 Mio. Kinder keine Möglichkeit haben eine Schule zu besuchen. Kinder sprachen am 7. März 2010 mit dem Tolo-TV-Reporter über ihre Armut und, dass sie hungern müssen: "Wir haben kein Öl, kein Mehl, keine Heizung. Wir sind nur durch die Hilfe der Nachbarschaft am Leben geblieben". Ein anderes Mädchen: "Ich möchte auch gerne zur Schule gehen wie die anderen Kinder, aber das kann ich mir nicht leisten. Es fahren keine Busse von hier in die Kabuler Stadtmitte, ein Taxi können wir uns nicht leisten". Die staatlichen Busse befördern entweder die Angestellten oder sind verpachtet. Die Pächter fahren nur die lukrativen Strecken. Gholam Hazrat, Präsident der nationalen Busunternehmen, gab an, dass für die 5 Mio. Einwohner von Kabul nur 400 Busse zur Verfügung stünden.

Zum einem können es sich viele Eltern nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken und zum andern gibt es vielerorts weder eine Schule noch qualifizierte Lehrer. Zahlreiche Lehranstalten, die als Schule deklariert sind, haben gar keine Gebäude. Der Kabuler Erziehungsminister gab an, dass nur knapp 27 % der Lehrer eine entsprechende Ausbildung hätten (Tolo-TV vom 6. März 2010).


Frauenrechte

Eine weitere Legitimation des NATO-Krieges war die Verteidigung der Frauenrechte. Dr. Zima Zamar, Präsidentin der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Afghanistans, gab anläßlich des internationalen Frauentages an, dass im Jahre 2009 mehr als 2265 Fälle von eklatanter Verletzung der Frauenrechte registriert wurden. Die Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, da viele Frauen entweder nicht die Möglichkeit zur Meldung haben oder sich nicht an die Öffentlichkeit trauen. Im afghanischen Kalenderjahr 1388 (2009/10) haben 119 Frauen Selbstmord begangen. Fälle von Selbstverbrennung, vor allem im westlichen Teil des Landes haben dramatisch zugenommen.

Einige Frauen, die Minihandwerksbetriebe führen, werden von staatlicher Seite nicht unterstützt und beklagen: "Wir haben Talent, jedoch keinerlei Unterstützung". Das Handelsministerium hat keine Ahnung, wie viele Frauen in Afghanistan handwerklich tätig sind. Ihre Produkte sind sowohl im In- als auch im Ausland gefragt, jedoch fehlt es ihnen an Vermarktungsmöglichkeiten.

Bei der offiziellen Veranstaltung zum Internationalen Frauentag am 8. März 2010 war Präsident Karzai nicht anwesend. Ansonsten nutzt er jede Gelegenheit für seine Propaganda. Seine Abwesenheit wurde von vielen Frauen als Missachtung der Frauen eingestuft. Sein zweiter Stellvertreter hat die Veranstaltung eröffnet und darauf hingewiesen, dass weder Polizei noch die Staatsanwälte noch die Exekutivorgane gegen die Verletzer der Frauenrechte vorgehen, hieß es in Fernsehberichten. Als Präsident Karzai am 20. Februar 2010 nach der Winterpause die Sitzung des afghanischen Parlamentes in Anwesenheit seines obersten Chefs, des US-Generals Stanley McChrystal, eröffnete, lobte er das Parlament für die Verabschiedung vieler nützlicher Gesetze im letzten Jahr. Unerwähnt blieb jedoch das Gesetz, das speziell für Hazara-Frauen mit Karzais Zustimmung verabschiedet worden war. Dadurch wurden diese Frauen verpflichtet, in der Woche mehrmals mit ihren Männern zu schlafen.


In Kabul um Kabul und um Kabul herum

Bürgermeister Mohammad Junos Nauandesch hat am 28. Februar 2010 vor der Presse auf die 800 gesetzwidrig errichteten Hochhäuser in Kabul hingewiesen, die mit dem Generalplan der Stadt nicht übereinstimmen. Die Häuser gehören den "Sorgeus", das ist eine Umschreibung für Warlords, Kriegsgewinnler, Drogenbarone und ehemalige islamistische Kommandanten, teilweise in Personalunion. Diese Leute annektieren seit 1992 staatliche Ländereien, bauen darauf Hoch- und Luxushäuser und haben damit ihre Gelder aus dem Drogenhandel und der Korruption weiß gewaschen. Der Kabuler Luxus-Stadtteil "Scher Pur" wird seitdem als "Scher Tschur", d.h. von den Löwen geplündert, bezeichnet.

In Kabul sprachen die Menschen mir gegenüber ganz offen von der Boden-Mafia. Als eines von vielen Beispielen nannten sie einen Bruder von Karzai. Ahmad Wali Karzai hat für das riesige Gelände "Tschamand Sadrasam" (das Sumpf- bzw. Weidegebiet gehörte in der Zeit der Monarchie dem Ministerpräsidenten) in Bagrami bei Kabul der Kabuler Stadtverwaltung 2 Mio. $ Bestechungsgelder für eine Baugenehmigung gezahlt. Nun verkauft er das Land und kassiert für je 300 qm 30.000 $. Nach Meinung der Anwohner wird das ein riesiges Geschäft werden.

Am 18. Februar 2010 demonstrierten in Kabul zahlreiche Mitarbeiter der staatlichen Commerz-Bank (Paschtane Tejarati-Bank), weil der neue Finanzminister Hasrat Omar Sakhelwal, ein Kanada-Afghane, den amtierenden Präsidenten der Bank, Haji Hayatullah Diani, fristlos entlassen hatte. Einige Demonstrantinnen weinten vor laufender Kamera und gaben an, dass private Banken hinter der Entlassung ihres Präsidenten stecken. Die Paschtane Tejarati-Bank stand vor drei Jahren kurz vor dem Zusammenbruch und sollte an private Banken verkauft werden. Diani ist es zu verdanken, dass die Bank noch existiert. Er verzichtete auf teuere ausländische Berater, die 40.000 Dollar pro Monat kassieren, engagierte fähige einheimische Fachkräfte und gab auf Fragen von Journalisten an, dass er "nur seinem Land dienen wollte". Unter dem Karzai-Regime sind patriotisch gesinnte Kräfte jedoch unerwünscht. Die Bankpolitik Dianis passt den inzwischen in Afghanistan sehr einflussreichen privaten Banken auch nicht ins Konzept. Sie sind ausschließlich Ableger großer westlicher Banken. Durch die Politik der "offenen Tür", die die Karzai-Administration seit 2002 betreibt, ist das Land am Hindukusch zum Operationsfeld des internationalen Kapitals geworden. Der staatliche Sektor ist vogelfrei. Die Privatbanken sprießen wie Pilze aus dem Boden. Möglicherweise wird sich Kabul zu einem Finanzzentrum entwickeln. Dies wird neben dem Baugeschäft zu einer weiteren Geldwaschanlage für Drogen- und Korruptions-Dollars.

Esmarai Baschari, Sprecher des Innenministers, gab auf einer Pressekonferenz am 9. März 2010 in Kabul den Beschluss Karzais bekannt, dass innerhalb von vier Wochen alle PKW mit dunklen Fensterscheiben ihre Autofenster von den dunklen Folien befreien müssen, und diejenigen Fahrzeughalter, die immer noch ohne Nummerschilder fahren, sich entsprechende Kennzeichen besorgen müssten. Ansonsten würden nach vier Wochen Strafmaßnahmen gegen sie verhängt werden. Da die Besitzer solcher Fahrzeuge fast ausschließlich Warlords, Mojahedin-Kommandanten und Drogenbarone sind, wurde die Anordnung von Karzai in Kabul als Sensationbezeichnet. Doch kaum einer glaubt daran, dass sie umgesetzt werden könne, und wenn überhaupt, dann nur mit einem koordinierten Einsatz von Polizei, Armee und Staatssicherheit, ergab eine ad-hoc-Umfrage, die von Khybar-TV in Peschawar am 12. März 2010 ausgestrahlt wurde.

Am 11. März 2010 meldete Tolo-TV, dass fünfzehn hochrangige Politiker u.a. Gouverneure, Botschafter, Generalkommandanten der Polizei und zum Teil Mitglieder des jetzigen Kabinetts von Karzai, darunter: Mohammad Sediq Tschakari, Minister für Pilgerfahrt und religiöse Angelegenheiten, Mohammad Rafi Atasch, Generalpräsident für Luftfahrt, Wahidullah Schahrani, Minister für Transportwesen und Mir Mohammad Amin Farhang, Wirtschaftsminister wegen Korruption zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Dies bestätigte sowohl der Justizminister Habibullah Ghaleb vor dem Parlament in Kabul als auch Faqir Ahmad Faqiryar, Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes, am 13. März 2010 auf einer Pressekonferenz. Farhang soll 4 Mio. $ aus dem Haushalt seines Ministeriums auf sein Schweizer Konto transferiert haben. Dies bestätigte der Generalstaatsanwalt Mohammad Ishaq Aloko in Kabul. Nach anderen Quellen soll Farhang gar 19 Mio. $ unterschlagen haben. Da Farhang einen deutschen Paß besitzt, ist er in die Bundesrepublik zu seiner Familie zurückgekehrt, die er prophylaktisch hier gelassen hatte. Da die BRD ihre Bürger an einen anderen Staat nicht ausliefert, wird der angekündigte Auslieferungsantrag des afghanischen Generalstaatsanwalts ins Leere laufen.

Außerdem meldete Tolo-TV, dass Drogenhändler nicht nur von der afghanischen sondern auch von ausländischer Seite in Schutz genommen werden, ohne die Schutzherren beim Namen zu nennen. Beobachter vor Ort gehen jedoch davon aus, dass damit u.a. ein Bruder von Karzai, Ahmad Wali Karzai gemeint sei, der jährlich über 20 Mio. $ Schutzgelder von den Drogenhändlern kassiert. Er arbeitet mindestens seit 2001 für den US-Geheimdienst CIA. Als Präsident Karzai auf einer Pressekonferenz darauf angesprochen wurde, dementierte er es nicht einmal.

Am 18. März 2010 hat Karzai, wie Khybar-News meldete, ein Präsidialdekret zur Bekämpfung der Korruption (Fesade Adari) in Kraft gesetzt. Nach einem Bericht von Tolo-TV vom 20. März 2010 behindert Ahmad Wali Karzai als einer der mächtigsten Männer in der Provinz Qandahar, die dortige Korruptionsbekämpfung. Die US-Besatzer haben ihrem Kabuler Statthalter sechs Monate Zeit gegeben, um die Angelegenheit seines Bruders zu regeln. Karzai nimmt ihn aber immer noch in Schutz, wenn Vorwürfe des Drogenhandels, der CIA-Agententätigkeit oder vieler anderer Machenschaften, wie sie der Journalist Hamed Haudari für Tolo-TV aufgelistet hat, gegen ihn erhoben werden.


Afghanistan-Politik der Obama-Administration

Die Strategie der neuen US-Administration besteht aus folgenden Komponenten, die auf eine Irakisierung des Krieges hinauslaufen: Eskalation und Intensivierung des Krieges und seine Ausdehnung auf die pakistanischen Stammesgebiete; völlige militärische Besetzung der vom afghanischen Widerstand befreiten Regionen, d.h. NATO-Soldaten sollen "faktisch mitten unter ihnen [den Bewohnern] leben"(5); massive Aufstockung, Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Nationalarmee (ANA) und der Polizei, der Stammesmilizen sowie der privaten Söldner der Warlords; (letztere hätten eigentlich auf der Grundlage des Petersberger Abkommens entwaffnet und demobilisiert werden müssen); faktischer Kauf der Stammesführer, um die Rückzugsgebiete des Widerstandes zu verringern; Übertragung des Krieges auf die afghanischen Sicherheitskräfte; massiver Wiederaufbau in den gesamten eingenommenen, d.h. von Widerstand "gesäuberten" Gebieten. Ein Erfolg dieser Strategie, die wie alle anderen "allein in Washington geschrieben wurde",(6) wird von fast allen Beobachtern in Zweifel gezogen.

Afghanistan ist zweimal so groß wie die BRD. Um das ganze Land militärisch zu besetzen, reichen die derzeitigen 150.000 NATO-Soldaten nicht aus, dafür bräuchte man mindestens eine Million Soldaten. Dadurch würde aber die Eskalation des Krieges eine nie dagewesene Zerstörung des Landes und zahllose Menschenopfer zur Folge haben. Hinzu kämen die Kosten des Krieges, die noch astronomischere Summen erreichen dürften.

Für die internationale Gemeinschaft könnte die Ausweitung des US-Krieges auf Pakistan zum Albtraum werden. Das Land wird seit über zwei Jahren von unbemannten US-Drohnen bombardiert, wobei mehr Zivilisten als Islamisten getötet werden. Pakistan steht schon jetzt am Rande eines Bürgerkrieges. Die Fortsetzung des Krieges würde die gesamte Region, vor allem die Atommacht Pakistan, weiter destabilisieren. Eine Machtübernahme der Islamisten dort, gar ein Auseinanderbrechen des Landes, kann nicht ausgeschlossen werden. Das könnte dann zu weiteren Kriegen führen, zumindest zwischen den beiden verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan, mit katastrophalen Folgen für die Region und für den Weltfrieden. Der Konflikt in Afghanistan müsste dann beinahe als harmlos erscheinen.


Matin Baraki, lehrt internationale Politik an der Universität Marburg


Anmerkungen

1) Vgl. zum Rapport, in: FAZ, 23.6.2010, S. 8. Der degradierte General, in: SZ, 23.6.2010, S. 4. Buchsteiner, Jochen: Der Krieg des Stanley McChrystal, in: FAZ. 24.6.2010, S. 2. Buchsteiner, Jochen: Karzais Entkrampfungsübungen, FAZ, 30.6.2010, S. 6.

2) Ammann, Beat: Fehltritt eines US-Generals, NZZ, 24.6.2010, S. 7.

3) Löwenstein, Stephan: Verbunden im, Kampf, FAZ, 21.4.2010, S. 4.

4) Vgl. McChrystal: Kandahar-Offensive langsamer angehen, FAZ, 11.6.210, S. 5. Schwennicke, Christoph: Die Qual der alten Krieger, in: Der Spiegel, Nr. 24/2010, 14.6.2010, S. 91. Winter, Martin: Die Nato in Gefahr, in: SZ, 23.7.2010, S. 4.

5) Rüb, Matthias: Hannibals Alpenüberquerung war nichts dagegen. FAZ, 31.5.2010, S. 5.

6) Winter, Martin: Die Nato in Gefahr, SZ, 23.7.2010, S. 4.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 63, Herbst 2010

Gastkommentar
- Der Gerechte hält Einrede, von Esther Dischereit

Iran
Nach dem Protest ist vor dem Protest, von Bahman Nirumand
In Erwartung des Mahdi ... Machtspiele und Selbstzerstörungstendenzen im fundamentalistischen Lager, von Asghar Schirazi
Die 'Grüne Bewegung' wartet auf die unsichtbare Hand, von Mohammad Maljoo
Die "Geographie" der Opposition - Utopia oder klassenbewusster Kommunitarismus? von Arshin Adib-Moghaddam
Wahlverwandtschaften zwischen der Frauenrechtsbewegung und der 'Grünen Bewegung', von Elham Gheytanchi
Ethnischer Nationalismus und Grüne Bewegung, von Asghar Schirazi
Das große Scheitern: Nationalökonomie der Islamischen Republik, von Fereydoon Khavand
Sanktionsregime gegen den Iran: Entstehung und Auswirkungen, von Ali Fathollah-Nejad

Afghanistan
- Beobachtungen in Afghanistan, von Matin Baraki
- Warum WikiLeaks den Krieg nicht stoppen wird, von Noam Chomsky

Libanon
Hizbullahs Disneyland?
Die Tourismuspolitik der Hizbullah, von Manuel Samir Sakmani und Manja Riebe

Palästina/Israel
Überfall auf die Free Gaza Flottille, Völkerrechtliches Gutachten, von Norman Paech
Palästina neu erfinden: Das Friedenskino von Jenin, von Irit Neidhardt

Afrika
- "Land Grabbing" in Afrika, von John Vidal

Wirtschaftskommentar
- Hawala und anderer Bargeldtransfer, von Mathew Rosenberg

Zeitensprung
- Juli bis September 2006 in Gaza, von Norbert Mattes

Ex Mediis
Tahar Ben Jelloun: Zurückkehren, von Barbara Dietrich
Paul-Éric Blanrue: Sarkozy, Israel et les Juifs /
Régis Debray: Á un ami israélien, avec une réponse d'Élie Barnavi, von Malcolm Sylvers
Lamya Kaddor: Muslimisch - weiblich - deutsch
Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam, von Birgit Rommelspacher

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Quelle:
INAMO Nr. 63, Jahrgang 16, Herbst 2010, Seite 40 - 45
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010