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AFRIKA/991: Die tunesische Revolution (inamo)


inamo spezial - Sonderheft - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die tunesische Revolution

Von Werner Ruf


Als sich am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der Diplom-Informatiker Mohamed Bouazizi mit Benzin übergoss und verbrannte, hätte niemand gedacht, dass der verzweifelte Protest dieses jungen Mannes, der seinen Lebensunterhalt als ambulanter Händler durch den Verkauf von Obst und Gemüse fristete, der Zündfunke für eine Revolution sein würde. Bouazizi hatte nicht das Geld, um eine Lizenz zu bezahlen, die Polizisten erpressten ihn, um ein Zubrot zu verdienen, eine Polizistin ohrfeigte ihn. Das war der Gipfel der Schmach und Demütigung. Die Selbstverbrennung löste in der Stadt Proteste aus. Die Polizei schoss auf die Demonstranten, es gab Tote. In dem kleinen Land, das in den westlichen Medien stets als Vorbild für wirtschaftliches Wachstum und vor allem als Anker der Stabilität gegolten hatte, dessen brutaler Herrscher als Freund des Westens hofiert wurde, weitete sich der Protest auf die ganze Region aus. Protest und Gegengewalt erreichte schließlich die Hauptstadt. Am 14. Januar 2011 floh der Despot.


Es dürfte nur wenige Gesellschaften geben, in denen Bildung ein so hohes Gut ist wie in Tunesien: Schon bevor Frankreich im Jahr 1881 sein Protektorat errichtete, hatten die damaligen Herrscher Staat und Gesellschaft modernisiert: Bey Ahmed (1837-1855) verbot die Sklaverei, emanzipierte die Juden und erklärte, er wolle eine "Pilgerfahrt in die europäische Zivilisation" antreten (Hadj Frandj). Sein Nachfolger, Bey Mohammed (1855-1859) erließ einen "Fundamentalpakt des Königreichs Tunis", der der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution nachempfunden war und die Gleichheit Aller vor Steuer und Gesetz festlegte. Im Jahr 1861 erließ Bey Mohamed es-Sadok eine liberale Verfassung.(1)

Bildung als zentrales Gut.
1875 wurde das Collège Sadiqi gegründet, ein franko-arabisches bilinguales Gymnasium, das Verwaltungskader für das ganze Land ausbilden sollte und Schüler aus dem ganzen Maghreb anzog. Nach der Kolonisation (1881) wurde dieser Schultyp von Frankreich als école franco-arabe in den ganzen Nahen Osten exportiert.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Anfänge der Kolonisation von den bürgerlichen Eliten des Landes als Chance gefeiert wurden, hofften sie doch, in Zusammenarbeit mit Frankreich ihre Gesellschaften in die Moderne zu führen "im Einklang mit den Grundsätzen der französischen Revolution, die die Grundsätze des Korans sind."(2) Doch erfuhren die Tunesier - wie die Völker des Nahen Ostens - recht bald, dass die Kolonialmächte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zwar für sich beanspruchten, jedoch nicht daran dachten, diese auch den Kolonisierten zu gewähren. In der Rückbesinnung auf das Eigene reklamierten die frühen tunesischen Nationalisten die Wiederherstellung ihrer in der Verfassung von 1861 niedergeschriebenen Rechte. Deshalb nannte sich ihre Bewegung: dustur (Verfassung). Es war die die Neo-Destour-Partei, hizb al-dustur, die mit ihrem Generalsekretär Habib Burgiha 1956 die Unabhängigkeit Tunesiens erkämpfte. Die Verfassung als Ausdruck der Volkssouveränität findet sich auch in der Nationalhymne, die um 1930 während der Protektoratszeit geschrieben wurde. Sie war zunächst die Hymne der Neo-Destour-Partei. Dort heißt es:

"Sei Herr deines Schicksals, mein Land, und sei glücklich!
Denn es gibt kein Leben für den, der seiner Souveränität beraubt ist...
Wenn das Volk das Leben will, muss das Schicksal antworten,
muss die Dunkelheit verjagen und die Ketten brechen."

Diese Hymne, begleitet von unzähligen tunesischen Fahnen, wurde wieder und wieder von den Demonstranten angestimmt, die den Tyrannen am 14. Januar 2011 aus dem Land verjagten. Ben Ali, im Volksmund verächtlich "Präsident Abitur minus drei"(3) genannt, floh nach Saudi-Arabien, nachdem Frankreich wohl im letzten Augenblick seine Zusage zurückgezogen hatte, dem abgehalfterten Präsidenten Asyl zu gewähren. Das gebildetste Volk der arabischen Welt hatte endlich, 55 Jahre nach der Unabhängigkeit von Frankreich, seine Souveränität erkämpft. Habib Burgiba, Führer der Unabhängigkeitsbewegung, der sich später zum Präsidenten auf Lebenszeit wählen ließ, hatte das Land mittels der später in Sozialistische Destour-(Verfassungs-)Partei umbenannten Einheitspartei einem autoritären und repressiven System unterworfen, in dem von bürgerlichen Freiheiten nicht die Rede sein konnte. Jedoch: Abgesehen vom Hang zum Bau prächtiger Paläste und einem unerträglichen Personenkult hatte Burgiba ein Projekt: Bildung für alle, Emanzipation der Frauen, Modernisierung nach westlichem Vorbild.

Die Machtergreifung Ben Alis.
Am 7. November 1987 führte der damalige Innenminister Zin Abdin Ben Ali mit Hilfe des Militärs einen "medizinischen Staatsstreich" durch: Der vergreiste Präsident auf Lebenszeit, Habib Burgiba, wurde unter Verweis auf ein bestelltes ärztliches Gutachten wegen "Regierungsunfähigkeit" abgesetzt. Der Machtwechsel hatte in der Bevölkerung große Hoffnungen geweckt. Zu Ende schienen die Zeiten der politischen Sklerose, vorbei jene (den täglichen Gebetspflichten nachempfundenen) fünfmaligen Erscheinungen des vergreisten "obersten Kämpfers" (al-mujahid al-akbar) im Staatsfernsehen, wo der mit weißem Schal und dicker Sonnenbrille vermummte Burgiba wie von Geisterhand bewegt über den Bildschirm geschoben wurde und der ganze Staat nur noch für den Personenkult zu leben schien. 5000 politische Gefangene wurden freigelassen, ein Aufatmen ging durch das Land, voller Hoffnung auf eine neue Ära der Freiheit.

Doch diese Hoffnungen zerbarsten schnell: Bei relativ freien Parlamentswahlen erreichten "unabhängige" Kandidaten, fast alles Anhänger der Islamisten, landesweit 14 %, in den Vorstädten der Großstädte bis zu 25 % der Stimmen. Das verstand Ben Ali offenbar als Bedrohung.(4) Von der Tolerierung wechselte das Regime nun zu massiver Repression, Massenverhaftungen, systematischer Folter, unter der Dutzende Menschen starben und drakonischen Urteilen in Prozessen, die jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprachen. Todesurteile wurden verhängt und in großer Eile vollzogen.(5) Männer wurden allein wegen ihrer Bärte verhaftet, gefoltert, teilweise angeklagt, erhielten Berufsverbot. Frauen mit Kopftuch wurden ebenfalls verhaftet, geschlagen teilweise vergewaltigt. Mädchen, die ein Kopftuch trugen, wurden der Schule verwiesen oder mussten ihre Ausbildung abbrechen.

Der Verweis auf eine drohende islamistische Gefahr, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung in Algerien, entbehrte bei näherem Hinsehen jeder Grundlage: Niemals wäre es den Islamisten in der durch starke Mittelschichten geprägten tunesischen Gesellschaft gelungen, mehr als 20 % der Stimmen zu erhalten, und: Islamisten sind nicht gleich Islamisten: Die tunesische en-nahda war unter Führung von Rachid Ghannouchi gleichfalls eher eine dem Bildungsbürgertum entstammende Bewegung.

Jedoch ging es keineswegs nur um die Islamisten, auf die Ben Ali immer gern verwies, um die besondere Rolle Tunesiens im "Kampf gegen den Terrorismus" hervorzuheben. Die Repression traf genauso linke Organisationen. Eine Parodie der Justiz war unter vielen Anderen der "Prozess" gegen Hamma Hamami und die Führung der (nicht legalen) Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) am 2. Februar 2002,(6) in dessen Folge die Mitglieder der tunesischen Anwaltskammer in einen Streik traten. Dank westlicher Unterstützung und des Schweigens der Medien konnte das Regime es sich auch leisten, internationalen Prozessbeobachtern einfach die Einreise zu verweigern oder aber diese festzusetzen und zu misshandeln und ihre Aufzeichnungen und Laptops zu beschlagnahmen.(7)

Zu dieser Art Justiz gehören auch die während der Herrschaft Ben Alis grauenhaften Zustände in den überfüllten tunesischen Gefängnissen, in denen bis zu 140 Gefangene in Zellen von gut 300 qm mit einer einzigen Toilette eingepfercht sind. Folter und Vergewaltigungen von Frauen und Männern sind an der Tagesordnung, medizinische Versorgung nahezu inexistent und die Todesrate extrem hoch.(8) Mit äußerster Härte wurden genauso demokratische Parteien und Bewegungen verfolgt, gerade weil sie demokratisch waren, ebenso zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise amnesty international oder der Conseil National des Libertés en Tunisie (CNLT), die tunesische Liga für Menschenrechte, die Anwaltskammer ...

Kleptokratie als System oder Ben Ali Baba und die 40 Trabelsis.
Der entscheidende Unterschied zur Ära Burgiba war die geradezu maßlose Raffsucht, die Ben Ali und vor allem seine zweite Ehefrau, Leila Trabelsi,(9) an den Tag legten. Sie fand ihren Niederschlag sogar in einer Verfassungsänderung: Artikel 41 der tunesischen Verfassung wurde am 26. Mai 2001 geändert und vom Parlament ratifiziert.(10) Danach besitzt der Präsident strafrechtliche Immunität. Diese gilt auch "nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seiner Funktionen begangen hat." Sagte noch Ludwig XIV von sich "Ich bin der Staat", so lautete die Variante Ben Alis und des Trabelsi-Clans "Der Staat gehört uns!"

Der Aufbau der tunesischen Wirtschaft basierte zu Zeiten Burgibas vor allem auf Staatsbetrieben. Ben Ali privatisierte diese Betriebe, wofür das Land in den Jahresberichten des Internationalen Währungsfonds regelmäßig Bestnoten erhielt. Die Entscheidungen darüber und über die Ernennung der Firmenleitungen lagen beim Kabinett oder beim Präsidenten selbst. An die Spitze der Unternehmen wurden so getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt, meist Mitglieder der Trabelsi-Familie. Banken - oft zusammen mit Kapital aus den Golfstaaten gegründet - sprossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets die üblichen Vertreter des zahlreichen Trabelsi-Clans, die Brüder, Söhne, Vettern und Ehemänner der Töchter der Präsidenten-Gattin. Ihnen gehörten wenn nicht die Firmen, so doch entscheidende Anteile an Hotels, Fluglinien, Supermarktketten. Leilas Bruder Belhassan war Chef der Bank von Tunesien, was die illegalen Transfers der Familie ins Ausland erleichterte.(11) Die Familie scheute auch nicht davor zurück, von privaten Immobilien Besitz zu ergreifen, deren rechtmäßige Bewohner bisweilen von Schlägertrupps vertrieben wurden.(12)

Eine besonders lukrative Einrichtung war der schon 1993 eingerichtete "Fonds für nationale Solidarität", nach seiner Kontonummer 26/26 genannt. Die auf das Konto eingezahlten "Spenden" waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der daraus bisweilen - öffentlichkeitswirksam inszeniert - Wohltaten an Arme verteilte. Die Masse des Geldes verblieb jedoch in seiner Schatulle, da der Präsident allein über die Einnahmen wachte und es keinerlei Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel gab. Die jährlichen Einnahmen werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt.

Der tunesische Wirtschaftswissenschaftler Ali Zmerli(13) bezieht sich in einer Analyse des kriminellen Systems der Präsidentenfamilie auf eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass in den Jahren 1999 bis 2008 mehr als zehn Mrd. € aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert wurden - und dies, obwohl die Überweisungen auf ausländische Konten strengstens kontrolliert werden. Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes. Es dürfte also unwahrscheinlich sein, dass Weltbank und IWF die von ihnen selbst in Auftrag gegebene Studie nicht kannten. Die Platzierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom "tunesischen Wirtschaftswunder" entsprechen also keineswegs der Realität, sondern dürfte rein politische Gründe gehabt haben.

Ihren letzten großen Coup landete Leila Trabelsi schließlich unmittelbar vor ihrer Flucht, als sie die Goldreserven des Landes - immerhin 1,5 t Gold im Wert von rd. 45 Mio. € stahl. Ben Ali hatte dem Direktor der tunesischen Zentralbank, der das Ansinnen zunächst ablehnte, am Telefon persönlich den Befehl erteilt, das Gold herauszurücken.(14)

Wirtschaftliche Erfolge, soziale Antagonismen.
Tunesien galt während der ganzen Regierungszeit Ben Alis als Musterland. In ihrem Bericht zum Jahreswechsel 2009/2010 jubelt die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation bfai), dass Tunesien in dem vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Global Competitiveness Report 2009 abermals zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas gekürt worden ist.(15) Der Bericht fährt fort: "Die Lohnkosten ... sind im internationalen Vergleich günstig, ... Denn: Erhöhungen bei Löhnen konnten bislang durch eine kontinuierliche Abwertung des tunesischen Dinar ausgeglichen werden." Auch liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei durchschnittlich 2000,- US $ und damit weit über dem Durchschnitt der Länder des Maghreb. Während der letzten zehn Jahre verzeichnete Tunesien ein kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum von um 4 %. Immerhin räumt die Agentur ein, dass eine abschließende Beurteilung der Entwicklung "problematisch" ist: "Zu stark sind die Abweichungen zwischen den deutschen und den tunesischen Angaben."(16) Diese Zweifel unterstreichen die Aussagen tunesischer Ökonomen, die behaupten, die tunesischen Angaben vor allem gegenüber IWF und Weltbank seien in hohem Maße manipuliert. Die Institutionen nähmen solche Angaben aber hin, weil Tunesien ein Musterland sei und die positiven Folgen eines streng neo-liberalen Kurses exemplarisch deutlich gemacht werden müssten.

Trotz Liberalisierung einerseits, trotz der Bildung von "Freien Produktionszonen", in denen ausländisches Kapital "Lohnveredelung" betreibt,(17) wird die Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Betriebe gegenüber den Investitionen aus den EU-Staaten erheblich behindert. Als erstes "Mittelmeer-Drittland" (MDL) hat Tunesien am 1.3.1998 mit der EU ein so genanntes Europa-Mittelmeerabkommen in Kraft gesetzt, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen bleiben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby die Agrarprodukte, was eine schwere Behinderung für die Exportwirtschaft Tunesiens darstellt. Hinzu kommt der Anpassungsdruck an den europäischen Markt und die beschränkte Konkurrenzfähigkeit gerade der - im Vergleich zu den privilegierten ausländischen Betrieben ohnehin benachteiligten - tunesischen Firmen, die der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten konnten und können. Folge waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel der kleinen und mittleren Betriebe. Demgegenüber genießen europäische Investoren Vorteile: Steuerfreiheit über mehrere Jahre und freier Gewinntransfer nach Europa.

Ob das durch diese neoliberale Politik verursachte massenhafte Anwachsen der Arbeitslosigkeit durch neue Investitionen und die Schaffung zusätzlicher neuer Arbeitsplätze aufgefangen werden kann, bleibt mehr als zweifelhaft, da investitionswilliges Kapital nicht notwendigerweise jene relativ wenig qualifizierten Arbeitskräfte suchen wird, die in den geschlossenen Kleinbetrieben freigesetzt werden.(18) Die sozio-ökonomische Entwicklung mit ihren sozialen Verwerfungen verlangte geradezu zwingend nach politischer Öffnung.(19) Als zunehmendes Hindernis für ausländische Investitionen erwiesen sich trotz formal optimaler Bedingungen die Raffgier der Trabelsi-Familie, die zunehmend Druck auf Firmenbeteiligungen und die Zahlung von Schmiergeldern für Lizenzen aller Art ausübte.

Mehr als aufschlussreich ist eine inzwischen vorgelegte Analyse des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l'Industrie et de l'Artisanat),(20) der zufolge 40 % der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi-Clans standen. Dies galt selbstverständlich nur für die lukrativen Betrieben. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um dadurch zu vermeiden, zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Schlussfolgerung: Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rd. 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können - eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit 10 Mio. Einwohnern.

So tanzte das System und mit ihm Politik und Wirtschaft des Westens auf einem Vulkan, dessen Ausbrechen sich schon länger andeutete: Im Januar 2008 kam es in den Phosphat-Minen von Redeyef im südlichen Gouvernorat Gafsa zu Protesten der Arbeiter gegen ihre Arbeitsbedingungen und Löhne, die acht Monate dauerten. Ein vom IWF erarbeiteter Struktur-Anpassungs-Plan hatte zur Reduzierung der Belegschaften von 11.000 auf 5.000 in dieser Armutsregion des Landes geführt.(21) Die Proteste kulminierten in der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen und in drakonischen Urteilen gegen die "Rädelsführer" der Proteste.(22)

Der revolutionäre Moment.
In Tunesien hatte sich eine Wut aufgestaut, die an der Oberfläche nicht sichtbar war. Der soziale Protest, der von Sidi Bouzid seinen Ausgang nahm, endete in einer bürgerlichen Revolution, an der - jenseits des Familienclans der Trabelsis, der Schergen und Schläger des Systems - schließlich die gesamte Gesellschaft teilnahm. Der Hass auf die plündernde Despotie hatte sogar die Armee erfasst, deren Oberkommandierender Rachid Ammar sich weigerte, auf seine Landsleute zu schießen. Ben Ali, der sich mit Hilfe der Armee an die Macht geputscht hatte, hielt diese fern von seinem Palast und marginalisierte sie politisch, da er eine Wiederholung eines Coups wie desjenigen, den er selbst inszeniert hatte, vermeiden wollte. Ob es nur die aufrechte Haltung der Militärführung war, die entscheidend zum Sturz des Systems beitrug, bleibt indessen spekulativ: Es gibt Hinweise, dass die US-Botschaft in Tunis, die aufgrund der Ausbildung der hohen Offiziere in US-Kriegsakademien beste Beziehungen zum Offizierskorps unterhält, den Diktator aus wohl erwogenen langfristigen Überlegungen loswerden wollte. Diesen Informationen zufolge hat die Botschaft die Armeeführung in ihrer Haltung unterstützt. Dies könnte die Tatsache erklären, weshalb die Armee massiv gegen die Marodeure und Plünderer der "Sicherheitskräfte" vorging, die durch Provokationen und Angriffe auf die Demonstranten ähnlich wie später in Ägypten - die Lage zu destabilisieren versuchten.

Entscheidend für das Gelingen der Revolution waren jedoch auch die Elemente der so genannten Zivilgesellschaft im Lande selbst: An erster Stelle ist hier zu nennen die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens), die 1923 gegründet wurde und immer den Unabhängigkeitskampf unterstützt hatte. Trotz aller Gängelungsversuche durch Burgiba wie durch Ben Ali, der die Gewerkschaftsführung korrumpiert und kooptiert hatte, blieben deren regionale Strukturen und Kader militanten und arbeitnehmerorientierten Positionen treu. Das zeigte sich nicht nur 2008 in Gafsa, sondern auch bei der Bildung des ersten Übergangskabinetts nach der Flucht Ben Alis: Die UGTT-Führung hatte drei Mitglieder in dieses Kabinett entsandt. Nach einem spontan einberufenen Gewerkschaftskongress mussten diese Mitglieder binnen 24 Stunden die Regierung wieder verlassen. Von den Gewerkschaftshäusern in der Provinz waren die Demonstrationen ausgegangen und z. T. organisiert worden.

Auch die - unter Ben Ali legalen wie illegalen - politischen Parteien dürften zukünftig eine wichtige Rolle spielen und nicht mehr, wie in der Zeit des ancien régime ihre Parlamentssitze schon vor den Wahlen zugeteilt bekommen, sondern diese im freien politischen Wettbewerb erkämpfen. Als mögliche zukünftige innenpolitische Akteure sind vor allem zu nennen:

• Ettadjid, eine als legal anerkannte und aus der alten KP hervorgegangene Erneuerungsparte, die derzeit mit einem Minister in der Übergangsregierung sitzt,

• Die bisher verbotene Kommunistische Arbeiterpartei Tunesien (PCOT), die in der UGTT eine nicht unbedeutende Basis haben dürfte,

• Die islamistische en-Nahda (Wiedergeburt), deren Vorsitzender Rachid Ghannouchi (nicht verwandt mit dem derzeitigen Ministerpräsidenten der Übergangsregierung und Gefolgsmann Ben Alis, Mohamed Ghannouchi) bereits erklärt hat, dass er nicht für die Präsidentschaft kandidieren, seine Partei aber an den Parlamentswahlen teilnehmen wird.

• Bürgerliche Parteien, die sich teils aus dem Establishment der alten Staatspartei rekrutieren, teils auch die gewachsenen Mittelschichten repräsentieren dürften. Hier könnten auch prominente Menschenrechtler wie etwa Moncef Marzouki eine Rolle spielen, der bereits seine Kandidatur für die Präsidentschaft angekündigt hat.

Die reale Umgestaltung des politischen Systems Tunesiens bleibt gegenwärtig spekulativ. Eines scheint jedoch sicher: Die tunesische Gesellschaft wird sich die Errungenschaften ihrer bürgerlichen Revolution nicht mehr nehmen lassen. Um seine Unabhängigkeit und die erkämpfte Demokratie zu sichern, hat Tunesien - im Gegensatz zu Ägypten - nicht nur den Trumpf einer relativ entwickelten Zivilgesellschaft, sondern auch die im Vergleich mit Ägypten geringere weltpolitische Bedeutung: Die geostrategische Position Ägyptens, sein politisches Gewicht in der arabischen Welt und in der Afrikanischen Union, vor allem aber seine (sicherheitspolitische) Rolle im Verhältnis zu Israel machen das Land zu einem unverzichtbaren Partner für die USA. Dies mag erklären, warum die USA sich so schwer taten, auf Mubarak und seine Dienste, die in der Person Suleiman kulminierten, zu verzichten. Nach der Katastrophe des militärischen regime change in Irak könnte Tunesien der Modellfall sein für einen regime change light, der Formen eines demokratischen Systems in den arabischen Ländern mit der alten Dominanz des Westens verbindet.


Werner Ruf, Prof. em. für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik.


Anmerkungen

(1) Ausführlich: Ruf, Werner: Der Burgibismus und die Außenpolitik des unabhängigen Tunesien. Gütersloh 1969, S. 19-22.

(2) Benattar, César / Sebai, El Hadi / Attealbi. Abdelaziz: L'esprit libéral due Coran, Paris 1905. S. 99.

(3) Ben Ali musste wegen schlechter Leistungen das Gymnasium drei Jahre vor dem Abitur verlassen.

(4) FAZ, 25. Jan. 2011, S. 3.

(5) Bensedrine, Sihem / Mestiri, Omar: Despoten vor Europas Haustür. München 2005, insbes. S. 74-80.

(6) S. den ausführlichen Bericht des Schweizerischen Anwalts und Prozessbeobachters Christian Grobet in: Reporters sans frontières (Hrsg.): Tunisie, le livre noir, Paris La Découverte, 2002. S. 95-101.

(7) Dies widerfuhr zwei Prozessbeobachtern von amnesty international. S. dazu die hervorragend dokumentierte Seite des US-State Department. http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2002/index.htm [05-02-11].

(8) www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2009/nea/136081.htm [05-02-11].

(9) So verballhornten die Demonstranten in Tunis den Titel eines alten arabischen Märchens.

(10) veröffentlicht in: Journal Officiel de la République Tunisienne, 27. moharrem 1423 - 5. April 2002, 45. Jahrgang, Nr. 28.

(11) Beau, Nicolas / Graciet, Catherine: La régente de Carthage, Paris 2010.

(12) Bensedrine/Mestiri, a.a.O. S. 127-132.

(13) Zmerli, Ali: Ben Ali le ripou, 2011, www.kapitalis.com/images/banners/benaliripou.pdf [07-02-11].

(14) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17-02-2011.

(15) www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7506.pdf?show=true, S. 5. [04-02-11].

(16) A.a.O. S. 8.

(17) In diesen ausgewiesenen Gebieten kommt die tunesische Arbeits- und Sozialgesetzgebung nicht zur Anwendung. Dies ermöglicht dem dort investierenden ausländischen Kapital im Vergleich zu den tunesischen Unternehmen enorme Extraprofite.

(18) S. hierzu schon sehr früh: Nienhaus, Volker: Euro-Mediterraner Freihandel: Motor der wirtschaftlichen Entwicklung? In: aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 39/97, 19. Sept. 1997, S. 12-18.

(19) vgl. hierzu die vorzügliche Studie von Hibou, Béatrice: Les marges de manoeuvre d'un 'bon élève' économique: la Tunisie de Ben Ali, Paris, 1999.

(20) www.maghrebemergent.info/entreprises/80-tunisie/2166-le-patronat-tunisien-qlibereqmais-en-crise-en-quete-dune-nouvelle-image.html [09-02-51].

(21) www.verite-action.org/index.php?option=com_content&task=view&id=167&Itemid=28 [05-02-11].

(22) http://maghrebinfo.actu-monde.com/archives/articles1414.html [05-02-11]. s. auch:
www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2008/nea/119128.htm [05-02-11].


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Inhaltsverzeichnis - inamo spezial, Sonderheft Frühjahr 2011

GAME OVER
- "Ändert das System, es funktioniert nicht mehr ..." von Helga Baumgarten

Tunesien:
1999 Bourgibas Erbe - der unmögliche Machtwechsel, von Kamel Jendoubi
Auch Europa hält sich seine Despoten: Das tunesische Modell, von Sihem Bensedrin und Omar Mestiri
Die tunesische Revolution, von Werner Ruf
Umbruch in Tunesien - Die Menschen hier sind Helden, von Alfred Hackensberger
Laizismus und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Martina Sabra
Rachid al-Ghannouchi, von Lutz Rogler
Die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens)

Ägypten
Ägyptische Wirtschaftsreform, Vers. 4.3. - Freuen Sie sich schon jetzt auf Updates! von Ulrich G. Wurzel
Marionetten oder Marionettenspieler? Großunternehmer und Manager, von Stephan Roll
Ägypten, von unten gesehen, von Issam Fawzi
Al-Jama'a al-islamiyya - zwischen Isolation und Integration, von Lutz Rogler
Justiz und Politik - Die Illusion elitärer Demokratie, von Sherif Younis
Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie, von Joel Beinin
Mediale Strategie-Spiele - Ein ägyptisches Tagebuch, von Viola Shafik
Die Rolle der sozialen Bewegungen, von Ivesa Lübben
Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution, von Ingrid El Masry
Die Muslimbrüder, von Ivesa Lübben
Die ägyptische Revolution: Neue Wege für die Muslimbrüder, von Lutz Rogler
Ägyptens Militärbourgeoisie, von Matthias Kunde
Web 2.0 und der autoritäre Staat - Soziale Netzwerk Revolutionen, von Christian Wolff
Eine Villa im Dschungel, von Uri Avnery

Marokko
- Stabile Monarchie?, von Isabelle Werenfels
- Marokko 20. Februar 2011, von Jörg Tiedjen

Algerien
Einzigartig: Die algerische Krise, von Lahouari Addi
Abulqasim ash-Shabbi: An den Tyrannen (1927)
Netzwerke an der Macht: Staatsbankrott und Raubwirtschaft, von Omar Benderra
2006: Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung, von Algeria-Watch
Kein Volksaufstand in Algerien, von Abida Semouri

Jordanien
Proteste in Jordanien: Brotunruhen, arabische Solidarität, tribaler Islamismus, von André Bank
Jordanien's Regime hat dazugelernt, die Opposition nicht. Von Hisham Bustani

Syrien
- 1:0 fürs Regime. In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus, von Muriel Asseburg

Jemen
- Die Dynamiken der Proteste im Jemen und ihre Besonderheiten, von Jens Heibach

Libyen
- Was kommt nach Mu'ammar al-Qaddhafi? Von Alessandro Bruno und Arezki Daoud


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Quelle:
INAMO spezial, Jahrgang 17, Sonderheft Frühjahr 2011, Seite 12 - 15
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2011