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INNEN/2525: Rede Peer Steinbrück beim Ordentlichen SPD-Bundesparteitag am 14.11.2013


SPD-Pressemitteilung vom 14. November 2013

Rede Peer Steinbrück beim Ordentlichen SPD-Bundesparteitag am 14. November 2013 in Leipzig



Liebe Genossinnen und Genossen, ich stehe vor euch auf diesem Parteitag mit sehr viel Stolz und einer noch größeren Dankbarkeit.

Stolz, weil ihr, weil viele Genossinnen und Genossen, die heute nicht hier sein können, unter sehr schweren Bedingungen einen couragierten, einen engagierten Wahlkampf gemacht haben für unsere Partei und für unser Land. Dass wir unser Ziel nicht erreicht haben, lag nicht an euch.

Ich persönlich möchte euch danken. Ihr habt mit mir gekämpft, ihr habt mir beigestanden, ihr habt mich manchmal ertragen müssen, auch über manche Stockfehler, die mir passiert sind. Aber mehr als das: Ihr habt mich getragen, insbesondere in Zeiten, als der Wind mir und uns allen ins Gesicht blies.

Ihr habt auf vielen Veranstaltungen applaudiert, und deshalb ist es heute an mir, euch zu applaudieren und euch einen herzlichen Dank zu sagen für die Unterstützung, die ich als Spitzenkandidat der SPD in den 51 Wochen bis zum 22. September erfahren habe. Habt herzlichen Dank!

Das Wahlergebnis ist mehr als enttäuschend. Es macht keinen Sinn, darum herumzureden. Ich gebe zu: Unter dem Eindruck insbesondere der letzten vier, fünf Wochen dieses Wahlkampfes habe ich 28 bis 29 Prozent für möglich, ja sogar für realistisch gehalten. Aber geben wir es zu: Auch das wäre nicht genug gewesen. Ja, wenn der Wahlkampf von Anfang an so gut gelaufen wäre wie gegen Ende, hätten wir wahrscheinlich ein besseres Ergebnis eingefahren. Aber ich kenne jemanden, der den Satz geprägt hat: Hätte, hätte, Fahrradkette!

Ich habe immer darauf gedrängt, schlechte Wahlergebnisse nicht schönzureden. Das gilt natürlich auch für den Ausgang dieser Bundestagswahl. Aber - das sage ich sehr bestimmt - es gibt keinen Grund für irgendwelche Abrechnungen, und es gibt keinen Grund für Scherbengerichte. Der Hauptteil der Verantwortung jedweder Wahlniederlage liegt beim Spitzenkandidaten, also bei mir. Es gibt dagegen viele Gründe, dass sich die Partei und auch die Bundestagsfraktion die Zeit nehmen für eine tiefergehende Analyse der Lage und auch der Perspektiven der SPD in einer Zeit des rasanten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, ob die SPD vor dem Hintergrund dieses Wandels auf der Höhe der Zeit ist.

Unser gemeinsam erarbeitetes und beschlossenes Wahlprogramm habe ich vom ersten bis zum letzten Wort, vom Tag seiner Verabschiedung bis zum Wahltag aus Überzeugung mitgetragen. Alles andere, was da gelegentlich berichtet wurde, entsprach weder meiner Gemütslage noch meinem Verstand.

Es war ein sozialdemokratisches Wahlprogramm wie kaum ein zweites. Glaubt mir, ich bin lange genug in der Partei, habe teilweise einige Wahlprogramme zu Bundestagswahlen mit formuliert. Es war ein klassisches sozialdemokratisches Programm mit einer Reihe von Korrekturen mit Blick auf den Arbeitsmarkt, die von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Betriebsräten, von Gewerkschaften außerordentlich begrüßt worden sind. Und es war ein Programm mit vielen politischen Angeboten - ich will sie aus Zeitgründen nicht alle aufzählen -, die jeweils für sich genommen mehrheitsfähig waren in der Bevölkerung, bis hin zu dem Punkt, nicht alle Steuern für alle, aber einige Steuern für einige zu erhöhen.

Auch dies ist nach allem, was wir wissen, in der Bevölkerung mehrheitsfähig. Die Menschen wissen, dass Bund, Länder und Gemeinden dieses Geld für die vier zentralen Zwecke brauchen: Für Bildung über die gesamte Bandbreite, für die Verbesserung der kommunalen Finanzlage, für die Verbesserung der Infrastruktur in Deutschland, bei der wir von der Substanz leben, und zur Einhaltung der Schuldenbremse im Sinne der Generationengerechtigkeit.

Unser Programm hatte also gute Bestandteile. Wir hatten politische Angebote für die Menschen, für die Bürgerinnen und Bürger. Aber trotzdem haben sie uns nicht mit dem Ergebnis belohnt, das wir uns gewünscht haben und das wir gebraucht hätten, um im Fahrersitz einer Bundesregierung die Geschicke dieses Landes bestimmen zu können! Darüber müssen wir nachdenken!

Wir müssen zugeben: Unser Programm hat in der Gesamtheit nicht die Überzeugungskraft entwickelt, die wir uns erhofft haben. Daraus müssen wir lernen. Es genügt eben nicht, wenn wir allein daran glauben. Wir dürfen uns nicht selbst genug sein. Das heißt, wir müssen die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass wir auf dem richtigen Kurs sind, dass wir auf der Höhe der Zeit sind, dass wir, last but not least, die bessere Politik machen als unsere politischen Kontrahenten.

Eine große Partei wie die SPD kann nur mit einem Wahlergebnis von 30 plus x zufrieden sein. Eine große Partei wie die SPD muss von dem Anspruch beseelt sein, aus dem Fahrersitz einer Bundesregierung unser Land maßgeblich zu gestalten. Dazu muss uns das Volk wählen und nicht wir das Volk.

Wenn wir in eine große Koalition gehen, dann nicht, weil wir damit zufrieden sind, im Mannschaftsbus einer Regierung mitfahren zu dürfen, sondern weil die SPD immer einen Gestaltungswillen hatte, nämlich den Gestaltungswillen konkret und Schritt für Schritt die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Wenn wir am Ende von Koalitionsverhandlungen dafür gute Chancen sehen, auf der Basis eines substanziellen Koalitionsvertrags, dann sollte die SPD Verantwortung übernehmen. Wir waren in unserer 150 Jahre alten Geschichte immer bereit, Verantwortung für das Land und seine Bürgerinnen und Bürger zu übernehmen.

Wir haben uns nie als bloße Verhinderungsmacht oder als Vetokraft verstanden. Es sei denn es ging darum, um Schaden von unserem Land abzuwenden.

Für die Koalitionsverhandlungen gilt: Wir haben die Wahl verloren, aber nicht den Verstand.

Wir wissen, dass wir unsere Vorstellungen, unsere Ideen, unsere Ziele nicht 1 zu 1 umsetzen können. Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss, aber nicht die Einigung um jeden Preis. Wir wissen aber auch, dass wir unserer Partei, und mehr als das: unseren Wählerinnen und Wählern etwas schuldig sind. Deshalb wollen wir einen Koalitionsvertrag mit einem Ergebnis, das sozialdemokratischen Kernanliegen Rechnung trägt und einen stabilen Rahmen für ein erfolgreiches Zusammenwirken in dieser anlaufenden Legislaturperiode enthält.

Ich höre gelegentlich den Einwand, dass die große Koalition unsere Partei kleinmachen könnte oder wieder kleinmacht, dass Frau Merkel die Begabung hat, Koalitionspartner kleinzumachen. Dem widerspreche ich. Niemand kann uns kleinmachen.

Dafür, uns kleinzumachen, sind nur wir selber stark genug, und das ist uns gelegentlich auch gelungen. Ich finde, dass wir zukünftig unsere Kraft mehr denn je darauf verwenden sollten, das Gegenteil zu erreichen, das heißt unsere Leistungen und Erfolge auch in einer eventuellen dritten großen Koalition zu unterstreichen und zu vermitteln, statt das fehlende Stück zu einer Ideallösung zum Ausdruck unserer politischen Körpersprache zu machen.

Dazu brauchen unsere Genossinnen und Genossen in der Bundestagsfraktion und eventuell - wenn es gelingt - in der Bundesregierung, die volle Unterstützung der Partei, die volle Unterstützung von euch.

Wir haben insgesamt mehr erreicht, als sich im Wahlergebnis niederschlägt. Und das ist das Kapital, aus dem unsere Partei in Zukunft schöpfen kann. Erstens: wir sind programmatisch geschlossen. Unser Wahlprogramm fußt darauf, dass ökonomischer Erfolg und soziale Gerechtigkeit sich wechselseitig bedingen. Das war und bleibt richtig, unabhängig von dem enttäuschenden Wahlergebnis. Darauf können wir aufbauen.

Daran hat Sigmar Gabriel einen maßgeblichen Anteil. So wie er unsere Partei nach dem sehr schwierigen Ergebnis seit dem 22. September glänzend geführt hat. Vielen Dank, Sigmar.

Zweitens: wir haben uns in unserem Jubiläumsjahr nicht auf unserer glorreichen Vergangenheit ausgeruht. Sondern wir haben uns unserer zeitlosen Werte vergewissert und damit den Bogen geschlagen von der Vergangenheit auch in die weitere Zukunft. Wir sind keine Partei des Gestern, sondern eine Partei des Heute und Morgen. Solange unsere Gesellschaft nach Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität strebt, solange wird es auf die SPD in diesem Land ankommen.

Drittens: unsere Mitglieder haben mehr Rechte denn je. Das hat Maßstäbe für Arbeit von anderen Parteien aber auch für unsere zukünftige Arbeit gesetzt. Das wollen wir ausbauen, und dafür möchte ich, auch stellvertretend für viele andere, unserer Generalsekretärin Andrea Nahles herzlich danken.

Das ist alles eine gute Basis, aber es reicht noch nicht. Es ist nicht hinreichend für zukünftige Wahlerfolge. Wir müssen es schaffen, wieder zu begeistern. Wir müssen Mut zeigen. So wie wir es übrigens über die längste Zeit unserer 150-Jährigen Geschichte gemacht haben. Denn es waren immer wir, die nicht im Zeitgeist verharrten. Die die Verhältnisse ändern wollten. Die eher manchmal auch zu viel als zu wenig wollten. So haben wir aber unser Land zum Besseren verändert. Es darf uns also nicht nur darum gehen, dass wir die besseren Krisenmanager sind, auch nicht in den nächsten vier Jahren. Sondern es muss uns darum gehen, dass wir die besseren Perspektiven für diese Gesellschaft eröffnen.

Das bedeutet, dass wir nicht nur Ängste, nicht nur Nöte, nicht nur Missstände beschreiben, sondern dass wir auch den Weg in eine positive Zukunft für die Mehrheit unseres Volkes beschreiben.

Es geht darum, die Menschen zu inspirieren. Es mag sein, dass wir ein Stück davon verloren haben. Wir müssen eine Partei sein, die man gerne wählt, mit großer Überzeugung, aus vollem Herzen, weil die SPD nicht nur die Verhältnisse von Einzelnen verbessern will, sondern weil sie für gesellschaftlichen Fortschritt steht und sich auf der Höhe der Zeit bewegt.

Freude, Optimismus dürfen nicht zu kurz kommen. Es muss sich - entschuldigt mir diesen etwas merkwürdigen Satz -, gut anfühlen, die SPD zu wählen.

Dabei steht das Wort "Wir" im Vordergrund. Das ist keine einmalige Idee aus dem Wahlkampf. Das ist ein zeitloses Leitmotiv der Sozialdemokratie.

Unbenommen des "Wohlfühl-Wahlkampfes" von CDU/CSU spüren wir doch, dass viele Bürger das Gefühl von Ohnmacht haben. Viele von ihnen sehen sich anonymen entgrenzten Kräften ausgesetzt - ob das Finanzmärkte oder Marktkräfte sind oder übrigens auch zunehmend unkontrollierte Technologien, deren Potenziale angewandt werden, sie in ihrer informationellen Selbstbestimmung einzusetzen.

Und hier kommt die SPD ins Spiel. Mehr denn je muss es die Politik der SPD sein, dieses Gefühl von Machtlosigkeit und Ohnmacht der Menschen zu überwinden. Wir müssen gegen Resignation, wir müssen vor allen Dingen gegen den Rückzug aus dem Politischen arbeiten und ankämpfen, weil er lähmt und vieles von dem gefährdet, was uns wichtig ist, und am Ende sogar vielleicht die Demokratie selbst. Das ist keine Aufgabe einer einzigen Legislaturperiode, aber es könnte die Aufgabe der Sozialdemokratie des nächsten Jahrzehnts werden. Wiederum mehr Demokratie wagen, insbesondere auch mit Blick auf europäische Institutionen.

Oder die Rückgewinnung des Politischen oder die Renaissance der sozialen Marktwirtschaft, oder der Schutz der Freiheit des Einzelnen und gerechte Chancen für ein selbstbestimmtes Leben. Ich sage und füge bewusst hinzu: Schnappen wir uns den Begriff des Liberalismus in seiner Ursprünglichkeit, den die FDP preisgegeben hat!

Dies ist kein Abschied. Ich bin nicht vor 44 Jahren Mitglied unserer Partei geworden, um Karriere in der Politik zu machen. Sozialdemokrat ist und bleibt man auch, wenn man sich aus der ersten Reihe zurückzieht.

Sozialdemokrat ist man aus Überzeugung und nicht aus Kalkül.

Ich bin 1969 in unsere Partei eingetreten, weil sie Fenster und Türen öffnete, für Fortschritt, für Aufbruch, raus aus Verkrustungen, weil sie sich schon damals mit über 100 Jahren auf dem Buckel nicht für eine einzige Sekunde ihrer Geschichte zu schämen brauchte und weil sie sich dennoch nicht in ihrer Vergangenheit sonnte, sondern furchtlos weiterkämpfte für soziale Gerechtigkeit, für den Frieden, für die Freiheit!

Ich habe viel Solidarität empfangen, und ich verspreche euch: Die SPD wird sich, solange ich lebe, auf meine Solidarität verlassen können.

Und für unsere gemeinsamen Ziele gilt: Die Pferde meiner Kavallerie bleiben gesattelt.

Glückauf und Dank an euch alle!

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 616/13 vom 14. November 2013
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2013