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PRESSEKONFERENZ/1270: Regierungspressekonferenz vom 18. Juli 2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz - Montag, 18. Juli 2016
Regierungspressekonferenz vom 18. Juli 2016

Themen: Termin der Bundeskanzlerin (Antrittsbesuch der neuen Premierministerin Großbritanniens), gescheiterter Putschversuch in der Türkei, TTIP-Verhandlungen, Anschlag in Nizza, Kritik der Sondergesandten für Klimawandel an der Braunkohlesubventionierung in Deutschland, Untersuchungsbericht über die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York

Sprecher: StS Seibert, Fischer (AA), Flosdorff (BMVg), Alemany (BMWi), Dimroth (BMI), Fichtner (BMUB)


Vorsitzender Detjen eröffnet die Pressekonferenz und begrüßt StS Seibert sowie die Sprecherinnen und Sprecher der Ministerien.

StS Seibert: Guten Morgen! Meine Damen und Herren, ich habe eine Terminankündigung, die den späten Mittwoch betrifft: Am 20. Juli kommt die neue britische Premierministerin Theresa May zum Antrittsbesuch nach Berlin. Die Bundeskanzlerin wird sie um 17.30 Uhr mit militärischen Ehren empfangen; dann folgen ein Gespräch, ein Arbeitsabendessen usw. Es wird auch eine gemeinsame Pressekonferenz geben. Die genaue Uhrzeit dafür kündige ich Ihnen noch an.

Frage : Ist das der einzige Termin der Kanzlerin in dieser Woche?

StS Seibert: Ich weiß nicht, was Sie mit "der einzige Termin" meinen. Wir haben einen öffentlichen Termin der Bundeskanzlerin für Mittwoch ankündigt, nämlich die Sitzung des Bundeskabinetts, und nun kommt noch dieser dazu.

Frage: Herr Seibert, was erwartet sich die Bundeskanzlerin von diesem Termin, was könnte bei diesem Termin sozusagen herumkommen?

StS Seibert: Zunächst einmal ein erstes Kennenlernen der neuen britischen Premierministerin. Die beiden hatten - jetzt muss ich überlegen - am Freitag oder Samstag, als die Kanzlerin in der Mongolei war, telefonisch einen ersten Kontakt miteinander. Dieser war naturgemäß noch nicht sehr ausführlich. Jetzt gibt es die Chance, einmal etwas ausführlicher miteinander zu sprechen.

Ich will hier keine Erwartungen nennen. Die Haltung der Bundesregierung zu der gesamten Frage des "Brexits" und der Lage nach dem Referendum ist klar, und die Bundeskanzlerin wird sie der britischen Premierministerin sicherlich auch vortragen und erläutern. Aber vor allem geht es auch darum zu hören, was Frau May ihrerseits aus London mitbringt.

Fischer: Vielleicht eine kurze Ergänzung: Außenminister Steinmeier ist ja heute in Brüssel beim Rat für Auswärtige Beziehungen. Dort wird er auch mit Boris Johnson, dem neuen britischen Außenminister, zusammentreffen - sowohl im Rat als auch zu einem Gespräch.

Frage: Inwiefern erwarten Sie sich denn eventuell gewisse Vorabsprachen, was das Prozedere betrifft? Man hat ja sehr deutlich ausgeschlossen, dass es, bevor Artikel 50 vonseiten der britischen Regierung gezogen wird, Vorverhandlungen oder irgendetwas Derartiges gibt. Ist auszuschließen, dass man in so einem Gespräch schon über gewisse Dinge redet, die vielleicht eigentlich Teil von späteren Verhandlungen sein werden?

StS Seibert: Es ist von allen europäischen Staats- und Regierungschefs doch sehr klar gesagt worden, dass es keine Vorverhandlungen geben wird, bevor Artikel 50 von den britischen Partnern auf den Tisch gelegt worden ist. Daran wird man sich natürlich auch halten. Gleichwohl führt die Bundeskanzlerin mit der britischen Premierministerin jetzt ein erstes intensives Gespräch zur Sache. Es ist an Großbritannien, sich klar zu werden, wie es die künftigen Beziehungen zur Europäischen Union gestalten will. Das wird Großbritannien allen europäischen Partnern dann mitteilen, wenn es auch den Artikel 50 anruft.

Insofern: Nun lassen Sie doch erst einmal, ohne dass ich hier Erwartungen nenne, die Bundeskanzlerin ihr erstes Gespräch mit Frau May haben. Die Haltung der Bundesregierung zu diesen Punkten ist hier ja oft genug beschrieben worden.

Fischer: Ich kann das noch für den Außenminister ergänzen: Auch der hat sich ja in der letzten Woche zu seinen Erwartungen an die britische Regierung geäußert. Es gibt aber auch noch Themen jenseits des "Brexits", über die sich durchaus ein Austausch mit Großbritannien lohnt. Allein wenn man sich die turbulente letzte Woche anschaut, sieht man ja, dass Europa vor großen Herausforderungen steht und dass Europa auch gemeinsam mit Großbritannien, das ja immer noch Mitglied der Europäischen Union ist, darauf Antworten formulieren muss. In dieser Hinsicht ist Großbritannien, sind die britische Regierung und das britische Volk natürlich weiterhin wichtige und enge Partner.

Frage: Auch noch einmal zu dem Gespräch mit Frau May: Herr Seibert, offenbar gäbe es nach den EU-Verträgen - ich glaube, da gibt es einen Paragraphen oder Artikel 7, der das besagt -, wenn die Briten am Ende überhaupt nicht diesen Artikel 50 aktivieren sollten, wohl doch theoretisch die Möglichkeit, sie auch mit Macht aus der EU herauszubekommen. Ist das für die Bundesregierung eine Option, ist das etwas, das man zumindest einmal geprüft hat?

StS Seibert: Zunächst einmal möchte ich etwas nachreichen zu dem ersten Telefonat, das die Bundeskanzlerin mit Premierministerin May geführt hat - ich hatte es vorhin erwähnt -: Das war nicht aus der Mongolei und auch nicht Donnerstag oder Freitag - ich bin da ein bisschen in der Chronologie durcheinandergerutscht -, sondern es war Mittwoch aus der kirgisischen Hauptstadt Bischkek.

Ansonsten möchte ich jetzt erstens keine weiteren Erwartungen an das Treffen mit der Premierministerin formulieren. Unsere Position ist klar erklärt worden, inklusive in einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin im Deutschen Bundestag. Zweitens möchte ich schon gar nicht spekulieren.

Frage: Herr Seibert, wie ist dieser Besuch formal einzustufen? Ist das ein Staatsbesuch, ein Antrittsbesuch, oder wie nennt man das?

StS Seibert: Es ist ein Antrittsbesuch der neuen Premierministerin, daher gibt es auch die militärischen Ehren.

Frage: Herr Seibert, Herr Fischer, was ist denn aktuell die Erwartungshaltung bezüglich der Frage, wann Artikel 50 zu ziehen sei?

Fischer: Ich glaube, dazu haben wir uns deutlich und klar geäußert. Das britische Volk hat für den "Brexit" gestimmt, und daraus muss die britische Regierung jetzt auch zügig die Konsequenzen ziehen, das heißt, die Austrittsverhandlungen anstoßen.

StS Seibert: Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Wir haben uns dazu vielfach geäußert; es gibt keinen neuen Sachstand.

Frage: Zum Thema Türkei. Zunächst einmal vom Grundsatz her: Kann ein Land, in dem es die Todesstrafe gibt, formal Mitglied der EU werden oder bleiben?

Zum Zweiten würde mich interessieren, inwieweit die Ereignisse in der Türkei am Wochenende irgendwelche Auswirkungen auf den Status und den Verbleib deutscher Truppen in Incirlik haben.

StS Seibert: Ich fange vielleicht einmal mit der Frage nach der Todesstrafe an: In der Tat sind einzelne Äußerungen, die es dazu in der Türkei am Wochenende gab, besorgniserregend. Nun wollen wir abwarten, wie die innertürkische Diskussion dazu verläuft. Deutschland und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben dazu eine ganz klare Haltung: Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab. Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein. Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei würde folglich das Ende der Beitrittsverhandlungen bedeuten. Ich will daran erinnern, dass die Türkei das 13. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention unterschrieben und ratifiziert hat und sich damit - wie auch viele andere Staaten, die das unterzeichnet und ratifiziert haben - zur vollständigen Abschaffung der Todesstrafe verpflichtet hat.

Flosdorff: Zu Ihrer zweiten Frage: Unsere Soldaten sind alle wohlauf, wir hatten am Wochenende ständig Kontakt zum deutschen Kontingent in Incirlik. Die einzige Folge für die Soldaten war, dass im Zuge der Ereignisse eine erhöhte Sicherheitsstufe ausgerufen worden war. Es gab zwischenzeitlich Meldungen, dass die Airbase abgeriegelt sei. Das stimmt so nicht. Es war schon bei der vorherigen Sicherheitsstufe so, dass die Soldaten nur aus dienstlichem Anlass die Airbase verlassen haben und dann auch wieder Zutritt hatten; daran hatte sich nichts geändert. Etwas eingeschränkt sind die Bewegungsfreiheit auf dem Gelände sowie der Zugang zu Einkaufs- und Sportmöglichkeiten. Ansonsten entspannt sich die Lage aber zunehmend. Heute Morgen sind auch wieder die ersten Einsatzflüge der deutschen Aufklärungstornados durchgeführt worden, und auch das Tankflugzeug ist heute Morgen wieder im Rahmen des Mandates geflogen. Es gab dann einen großflächigen Stromausfall in Incirlik, der nicht nur die Airbase betroffen hat. Das konnte aber mit Notstromaggregaten kompensiert werden.

Frage: Herr Flosdorff, können Sie uns einmal erläutern, was von Freitagnachmittag bis Samstagnachmittag mit Blick auf die Bundeswehrsoldaten in Incirlik passiert ist?

Herr Seibert, es gibt ja auch andere Nato-Staaten, die die Todesstrafe haben, und Sie verhandeln gerade mit anderen Staaten, die die Todesstrafe haben, über Handels- und Freihandelsverträge. Warum ist das jetzt also ein Dealbreaker?

Flosdorff: Was passiert ist, ist, dass die Türkei im Zuge der Ereignisse eine Flugbeschränkung ausgerufen hat. Das heißt, Starten und Landen war dort - die Airbase eingeschlossen - nicht mehr möglich, weil man sicherstellen wollte, dass dort keine unkontrollierten Flugbewegungen mehr stattfinden. Ansonsten haben die deutschen Soldaten das alles eher indirekt mitbekommen.

StS Seibert: Ich wurde gefragt, welche Folgen die Einführung der Todesstrafe auf die Aussichten der Türkei habe, EU-Mitglied zu werden. Die EU ist eine Wertegemeinschaft und eine Gemeinschaft, die sich darauf geeinigt hat, dass die Todesstrafe außerhalb ihrer Werte liegt, dass sie unter keinen Umständen akzeptabel ist und kategorisch abgelehnt wird. Deswegen kann die Einführung der Todesstrafe nur bedeuten, dass ein solches Land dann nicht EU-Mitglied sein könnte. Wir wissen genauso wie Sie, dass die Todesstrafe in zu vielen Ländern der Welt noch praktiziert wird. Das kann nicht jedes Mal dazu Anlass geben, dass wir mit diesen Ländern keine Beziehungen haben oder nicht zusammenarbeiten. Aber in der EU sind wir eine Rechtsgemeinschaft, eine Wertegemeinschaft und haben deswegen diese Hürde ganz klar aufgelegt.

Zusatzfrage: Ich habe gelernt, dass die Nato auch eine Wertegemeinschaft ist, und da sind die Türkei und die USA Mitglied - die einen haben die Todesstrafe, die anderen streben sie an. Deshalb noch einmal die Frage: Warum ist das ein Dealbreaker?

Sprechen Sie eigentlich von einem Putsch beziehungsweise einem Putschversuch?

StS Seibert: Sie sind ja mehr als an allem anderen ja immer an Definitionsfragen interessiert. Ja, ich glaube, wir sprechen von einem Putschversuch. Das scheint mir im Zusammenhang mit dem, was man Freitagabend und Samstag in der Türkei erlebte, auch nicht abwegig zu sein. Ich glaube, dass das auch der Begriff ist, den viele in den Medien verwenden. Man kann es auch einen Umsturzversuch nennen. Ich möchte mich da nicht definitorisch einbringen, aber "Putschversuch" scheint mir die Sache zu treffen, ja.

Vorsitzender Detjen: Dann war noch die Frage nach der Nato und der Wertegemeinschaft offen.

StS Seibert: Natürlich ist die Nato eine Wertegemeinschaft. Ich habe hier jetzt für die Europäische Union und die Auswirkungen einer möglichen Einführung der Todesstrafe auf die Beitrittsverhandlungen gesprochen. Unsere Haltung gegen die Todesstrafe ist kategorisch, und wir vertreten sie gegenüber allen Ländern, mit denen wir zu tun haben.

Frage: Erstens eine etwas generellere Frage: Erwarten Sie, Herr Seibert, irgendwelche Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei?

Zweitens eine etwas speziellere Frage an Herrn Flosdorff: Die Türkei beteiligt sich auch am Nato-Einsatz in der Ägäis. Erwarten Sie da nach dem Putsch irgendwelche Auswirkungen, da das türkische Militär jetzt etwas angeschlagen ist?

StS Seibert: Das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen ist zunächst einmal von den Ereignissen des Wochenendes getrennt, unabhängig zu sehen. Das ist ein Abkommen im gegenseitigen und auch im beiderseitigen Interesse, also im Interesse Europas wie auch der Türkei. Es ist ein Abkommen mit einem humanitären Grundansatz, das auch im unvollständigen Zustand bereits wirkt: Die illegale Migration über die Ägäis und damit auch das massenhafte Sterben auf diesem Meer haben so gut wie aufgehört. Die EU hat begonnen, die Lasten der Türkei im Hinblick auf Aufnahme und Beherbergung von Flüchtlingen zu teilen. Deswegen ist das zunächst einmal getrennt zu sehen.

Die Rahmenbedingungen für dieses Abkommen sind im Übrigen sehr klar, auch in den diversen Unterpunkten. Wenn beispielsweise das Thema Visabefreiung kommt - auch danach wird ja gefragt -, dann kann man dazu nur sagen: Diese Visabefreiung kann weiterhin nur dann erfolgen, wenn alle Bedingungen - die der Türkei seit Langem bekannt sind - auch erfüllt sind. Das ist noch nicht der Fall, also müssen die Gespräche darüber fortgesetzt werden.

Flosdorff: Zu Ihrer zweiten Frage: Die Nato-Aktivität in der Ägäis läuft nach meinen Informationen weiter wie geplant. Wir haben keine Meldungen über irgendwelche Störungen bei dieser Aktivität.

Frage: Herr Seibert oder Herr Fischer, können Sie einmal skizzieren, welche konkreten Möglichkeiten Deutschland hat, bei der Türkei auf rechtsstaatliche Reaktionen auf diese Vorfälle am Wochenende hinzuwirken?

Herr Seibert, hat die Kanzlerin am Wochenende auch persönlich mit Herrn Erdogan oder mit Herrn Yildirim telefoniert, und falls ja, wie häufig?

Fischer: Zunächst zur Frage des Kontakts zur türkischen Regierung: Der Außenminister hat am Sonntag - sehr früh am Morgen - mit seinem türkischen Amtskollegen gesprochen, und ihm ist in diesem Gespräch sozusagen die Entwicklung der vorangegangenen Stunden aus Sicht des türkischen Außenministers sehr detailliert geschildert worden.

Was Ihre andere Frage angeht, so hat die Bundesregierung, hat der Bundesaußenminister, hat die Bundeskanzlerin von Anfang an darauf hingewiesen, dass sich alle Verantwortlichen an die demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln halten müssen. Das gilt eben tatsächlich für alle Verantwortlichen in der Türkei. Es ist ja durchaus so, dass wir zu diesen Fragen der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Menschenrechte schon über viele Jahre mit der Türkei im Gespräch sind, vor allen Dingen im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche. Wenn es Fortschritte in den EU-Beitrittsgesprächen geben soll, dann müssen sich auch genau definierte Dinge in der Türkei noch verändern. Auf diesem Weg gehen wir weiter, und wir gehen auch davon aus, dass es weiterhin im Interesse der Türkei ist, diesen Weg zu beschreiten; denn es ist ja das erklärte Ziel der Regierung Yildirim, die EU-Beitrittsgespräche fortzuführen und, wenn möglich, in Zukunft zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

StS Seibert: Ich will zur Beantwortung Ihrer Frage vielleicht noch einmal die Position der Bundesregierung ganz klarmachen - die Bundeskanzlerin hat sie ja am Samstag in ihrer Erklärung sehr klargemacht -: Wir verurteilen diesen Versuch von Teilen des Militärs, die gewählte Regierung und den gewählten Präsidenten zu stürzen, scharf. Wir stehen für die Grundprinzipien der Demokratie ein und wir stehen an der Seite derer, die diese Grundprinzipien in der Türkei verteidigen - in der Regierung wie in der Opposition. Die Bundeskanzlerin hat es so ausgedrückt: Gerade im Umgang mit denjenigen, die für diese tragischen Ereignisse verantwortlich sind, sollte sich der Rechtsstaat beweisen. Wir haben in den ersten Stunden nach dem Scheitern des Putsches abstoßende Szenen der Willkür und der Rache an Soldaten auf offener Straße gesehen. So etwas darf nicht hingenommen werden.

In diesem Zusammenhang muss auch klar gesagt werden: Es wirft schwerwiegende Fragen und Bedenken auf, wenn schon am Tag nach einem Putschversuch 2500 Richter ihrer Posten enthoben werden. Jeder versteht, dass der türkische Staat und die türkische Justiz gegen die Verantwortlichen des Putschversuches vorgehen müssen. Dabei ist jedoch die Rechtsstaatlichkeit - und das heißt immer auch: die Verhältnismäßigkeit - zu wahren. Ich habe es gesagt: Die Türkei hat das Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention unterschrieben und die Türkei ist EU-Beitrittskandidat. Allein das verpflichtet sie schon zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze und aller menschenrechtlichen Prinzipien. Wir werden das in allen Gesprächen, die wir als Bundesregierung auf den verschiedenen Ebenen mit der Türkei führen, deutlich machen, und auch die Europäische Union wird das deutlich machen. Ich bin mir sicher, dass das auch eine der Botschaften des heutigen Außenministertreffens in Brüssel sein wird. Da, glaube ich, können wir ansetzen.

Im Übrigen ist es ja völlig richtig: Wenn nächste Kapitel in den Beitrittsverhandlungen geöffnet werden, dann wird es sich um die Kapitel Rechtsstaatlichkeit und Inneres handeln, und dann ist man genau bei diesen Themen, die da miteinander sehr klar besprochen werden müssen - und da sind die Erwartungen an einen Beitrittskandidaten ganz klar.

Fischer: Vielleicht ergänzend: Die Außenminister beraten heute in der Tat auch über die Türkei, und derzeit wird eine gemeinsame Erklärung der europäischen Außenminister zur Lage in der Türkei vorbereitet, in der auch auf alle diese Fragen eingegangen wird.

StS Seibert: Entschuldigung, ich war noch nach telefonischen Kontakten gefragt worden: Seit dem Putsch hat es noch keinen telefonischen Kontakt mit Staatspräsident Erdogan gegeben. Wie Sie wissen, legt die Kanzlerin immer großen Wert auf regelmäßigen Kontakt mit ihm. In allen Fragen, die das deutsch-türkische Verhältnis, das europäisch-türkische Verhältnis betreffen, hat sie sich mit ihm abgestimmt, aber seit dem Wochenende in der Tat noch nicht.

Frage: Sie haben gerade ja sehr eindringlich geschildert, was am Wochenende in der Türkei passiert ist. Geht die Bundesregierung angesichts dieser sogenannten Säuberungswellen jetzt kritischer mit der Türkei, mit Erdogan um? Wie wird die Zusammenarbeit sein? Ist die Türkei noch ein verlässlicher Partner? Herr Röttgen hat sich dahingehend ja sehr kritisch geäußert.

StS Seibert: Ich finde diese Frage, ehrlich gesagt, sehr pauschal. Die Bundesregierung hat auch in der Vergangenheit sehr klar Stellung bezogen zu Entwicklungen in der Türkei, die uns besorgen - seien es Entwicklungen im Bereich der bürgerlichen Freiheiten, seien es Entwicklungen im Bereich der Medienfreiheiten. Das, was ich hier gesagt habe und was heute sicherlich auch die europäischen Außenminister noch einmal in ihren Worten sagen werden, wird von uns - von der Bundesregierung, von der Bundeskanzlerin - auch in den verschiedenen Gesprächen mit türkischen Partnern, die mit Sicherheit folgen, vertreten werden.

Man muss es doch auch so sehen: Die Menschen in der Türkei und die im türkischen Parlament vertretenen Parteien - und zwar alle - haben doch einmütig Positionen gegen diesen Militärputsch bezogen, haben sich ihm entgegengestellt. Das ist ein hohes Gut, und nach unserer Überzeugung muss das für eine gute Entwicklung der Türkei in den kommenden Wochen und Monaten bewahrt werden. Da kommen der Regierung und dem Präsidenten hohe Verantwortung zu.

Zusatzfrage: Das heißt, es gibt auch eine kritische Begleitung dieses Prozesses, was die Rolle Erdogans angeht?

StS Seibert: Wir werden die Ereignisse sehr genau beobachten - das tun auch alle europäischen Partner; schließlich handelt es sich um einen Beitrittskandidaten -, und wir werden das zur Sprache bringen, was zur Sprache gebracht werden muss, wenn es aus unserer Sicht Fehlentwicklungen gibt.

Frage: Herr Seibert, Sie hatten auf die Frage, ob die Ereignisse vom Wochenende Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hätten, gesagt, das sei zunächst von den Ereignissen des Wochenendes unabhängig zu sehen. Was verbirgt sich hinter dem Wort "zunächst"? Oder haben Sie das nur so dahingesagt?

StS Seibert: Ich habe einmal für heute eine Antwort gegeben: Wir sind der Überzeugung, dass das getrennt zu sehen ist. Wir als Deutsche erfüllen, wie das auch die europäischen Mitgliedstaaten tun, unsere Verpflichtungen, die aus diesem Abkommen hervorgehen. Wir erwarten das auch von der Türkei. In diesem Sinne ist das "zunächst" zu verstehen: Das ist der Stand heute. Sollte sich daran etwas ändern, dann müssten wir darauf zurückkommen. Der heutige Stand ist aber: Wir erfüllen, was uns durch dieses Abkommen - das im gegenseitigen Interesse ist - aufgegeben wird. Wir erwarten das auch von der Türkei und sehen daran jedenfalls heute Morgen noch keine Veränderung.

Frage: Herr Seibert, ist die Türkei in der Frage des Flüchtlingsabkommen faktisch nicht eindeutig am längeren Hebel? Für den Präsidenten scheint die Frage der Visafreiheit ja der entscheidende Punkt zu sein. Wenn das nicht geliefert wird, kann er viel eher sagen "Wir kündigen das Flüchtlingsabkommen auf und machen die Grenzen auf", und das kann Deutschland sich nicht leisten.

Zweite Frage. Es gibt zwei Verschwörungstheorien, wer hinter dem Putschversuch steckt: Die einen sagen Gülen, die anderen vermuten, dass es eine passende Selbstinszenierung gewesen sei. Haben deutsche Sicherheitsbehörden irgendwelche Erkenntnisse, ob an irgendeiner dieser beiden Theorien etwas dran sein könnte?

StS Seibert: Ich kann und will mich hier nicht zu Verschwörungstheorien äußern - für die die Bundesregierung im Übrigen auch keine Hinweise hat.

Ich gehe noch einmal auf das zurück, was ich vorhin gesagt habe: Nach unserer festen Überzeugung ist dieses EU-Flüchtlingsabkommen ein Abkommen im beiderseitigen Interesse. Europa hat ein Interesse daran, Deutschland hat ganz klar ein Interesse daran, aber die Türkei hat es auch. Die Türkei hat ein Interesse daran, dass die Illegalität an ihren Grenzen, die großformatigen Aktivitäten organisierter Verbrecher an ihren Grenzen und das Sterben auf ihrem Meer aufhört. Sie hat ein großes Interesse daran, dass sich Europa nach Jahren, in denen die Türkei die Flüchtlingslasten durch die Menschen, die aus Syrien kamen, alleine schultern musste, jetzt am Tragen dieser Lasten beteiligt, und zwar mit maximal 6 Milliarden Euro bis 2018. Das ist viel Geld, um Flüchtlingen in der Türkei ein besseres, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dieses Geld hat angefangen zu fließen, es sind erste Projekte umgesetzt. Die Türkei hat daran ein starkes Interesse. Insofern kann ich mich der Interpretation, die Sie da vornehmen, nicht anschließen.

Fischer: Vielleicht ergänzend: Die Türkei hat sich ja vor dem Putschversuch zur Umsetzung des Flüchtlingsabkommens bekannt. Wir haben aus keinem der Gespräche, die wir am Wochenende oder auch heute geführt haben, Hinweise darauf erhalten, dass sich an dieser Haltung etwas geändert haben könnte.

Frage: Herr Seibert, gibt es Überlegungen, dass man unter bestimmten Umständen die Soldaten aus Incirlik zurückziehen müsste, beispielsweise dann, wenn es den Abgeordneten weiter verwehrt wird, dort Besuche zu machen?

StS Seibert: Auch über dieses Thema der Abgeordnetenbesuche haben wir ja hier gesprochen. Die Bundeskanzlerin hat darüber ja ein Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in Warschau am Rande des Nato-Gipfels geführt. Sie hat ihm sehr klargemacht: Wir haben eine Parlamentsarmee. Das heißt, die Mitglieder des Bundestags müssen die Möglichkeit haben, ihre Soldaten, die außerhalb Deutschlands Dienst tun, zu besuchen; das ist eine ganz klare Sache. Es hat ein erstes Gespräch gegeben, und nun werden wir weitere Gespräche darüber führen müssen. Daran hat sich durch die Ereignisse des Wochenendes nichts geändert.

Ansonsten würde ich vielleicht sagen, dass sich Herr Flosdorff für das BMVg noch einmal dazu äußert.

Flosdorff: Ich hatte eben gesagt: Die Soldaten vollziehen dort einen Auftrag, auch heute wieder, den ihnen das Parlament gegeben hat. "Counter Daesh" heißt der Auftrag. Es geht um Aufklärungsflüge gegen den IS und um die Luftbetankung von Partnerflugzeugen, die gegen den IS im Einsatz sind. Daran wird sich jetzt bis auf Weiteres auch nichts ändern.

Frage: Herr Seibert, gibt es jetzt innerhalb der Bundesregierung größere Bedenken gegen die geplante Visaliberalisierung für die Türkei?

Zurück zu der Todesstrafe: Wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe ein Grund, die Visafreiheit abzulehnen?

StS Seibert: Ich habe zum Punkt der Visabefreiung, glaube ich, alles gesagt, was ich sagen kann. Es gibt da ganz konkrete Forderungen. Die müssen umgesetzt werden, alle. Sie sind noch nicht umgesetzt worden, und deswegen werden wir darüber weiter im Gespräch bleiben müssen. Es gibt für die Türkei keinen Abschlag von diesen Forderungen oder, sollte ich vielleicht sagen, Bedingungen. Das sind Punkte, die erledigt und umgesetzt werden müssen. Die sind im Übrigen seit 2013 bekannt, also nicht etwa neu auf den Tisch gekommen. Dabei wird es bleiben. Deswegen werden wir die Gespräche darüber weiterführen.

Ansonsten habe ich mich zum Thema der Todesstrafe sehr deutlich geäußert, denke ich.

Zusatz: Das war sehr deutlich in Bezug auf die EU-Verhandlungen, aber nicht ganz so deutlich in Bezug auf die Visafreiheit.

StS Seibert: Jetzt warten wir erst einmal ab, wie die innertürkische Diskussion verlaufen wird. Aber die Türkei kennt, denke ich, die Konsequenzen, die eine Wiedereinführung der Todesstrafe hat, und zwar für den gesamten Bereich der Beziehungen, aber natürlich vor allem für die EU-Mitgliedschaft.

Frage: Herr Seibert, warum halten Sie es für eine Verschwörungstheorie, wenn man fragt, ob das nicht vielleicht inszeniert war? Sie haben nämlich vorhin selbst gesagt, wie auffällig es sei, dass da Listen vorbereitet waren. Ich würde also noch einmal von Ihnen hören wollen, warum das für Sie eine Verschwörungstheorie und keine Möglichkeit ist.

Zweite Frage: Sie sagen ja, dass das ein Putschversuch war. Ich habe einmal in die Protokolle aus den letzten Jahren geschaut. Als vor drei Jahren in Ägypten ein Putsch des ägyptischen Militärs passiert ist, haben Sie es mit allen Worten vermieden, von einem Putsch zu sprechen. Warum war das jetzt also ein Putschversuch, aber das, was Sisi in Ägypten gemacht hat, kein Putsch?

StS Seibert: Ihr Kollege, der mich nach diesen Themen gefragt hat, hat selbst von Verschwörungstheorien oder Verschwörungsgerüchten gesprochen. Deswegen habe ich das aufgegriffen. Ich habe dazu keine Erkenntnisse und werde mich deswegen für die Bundesregierung an solchen Spekulationen nicht beteiligen.

Im Übrigen halte ich es für sinnvoll, die Länder jeweils nach der individuellen Lage, die dort herrscht oder geherrscht hat, zu beurteilen. Jetzt reden wir über die Türkei. Aus unserer Sicht war das ein Versuch von Teilen des Militärs, die Macht an sich zu reißen. Das - ich bin jetzt, wie gesagt, kein internationaler Völkerrechtler - ist, jedenfalls im Umgangssprachlichen, ein Militärputsch. Aber wenn Sie das anders nennen wollen, ist Ihnen das natürlich vollkommen freigestellt. Ich glaube, wir beurteilen das, was vorgegangen ist, doch aber sehr ähnlich.

Zusatzfrage: Vielleicht kann uns ja Herr Fischer helfen. Warum war das vor drei Jahren in Ägypten kein Putsch?

Herr Seibert, Sie haben vorhin betont, dass die Kanzlerin mit Herrn Erdogan keinen telefonischen Kontakt hatte. Wir haben ja gesehen, dass Herr Erdogan gerne facetimt. Haben sie also vielleicht gefacetimt oder geskypt?

StS Seibert: Es gab kein Gespräch.

Fischer: Ich glaube, Herr Seibert hat die Antwort ja schon gegeben: Die Situation muss in jedem Land einzeln beurteilt werden. Was die Türkei betrifft, sind wir übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass es der militärische Versuch war, die verfassungsrechtliche Ordnung zu stürzen, was man einen Putsch nennt.

Frage: Herr Seibert, ich würde ganz gerne noch einmal zu verstehen versuchen, was das jetzt tatsächlich für Auswirkungen haben könnte und welche Maßnahmen Sie in Erwägung ziehen respektive nicht in Erwägung ziehen. Üblicherweise, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist es so, dass im Falle von starken Bedenken bezüglich der rechtsstaatlichen Qualität in Partnerstaaten etc. pp. manchmal darüber nachgedacht wird, ob das gegebenenfalls auch Sanktionen erfordern würde. Ist das etwas, das Sie zum jetzigen Zeitpunkt ausschließen können, oder etwas, das insgesamt im Erwägungsset enthalten ist?

StS Seibert: Wie die Frage, die Sie mir stellen - was könnte passieren? - schon sagt, bewegen wir uns im Bereich des Hypothetischen. Ich habe für die Bundesregierung heute sehr klar dargelegt, denke ich, wie wir die Ereignisse des Wochenendes sehen und mit welchen Erwartungen an Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit wir nun auch beobachten, wie der türkische Staat und die türkische Justiz mit den Folgen dieses Putschversuches sowie mit den Verantwortlichen dafür umgehen. Das werden wir jetzt erst einmal abwarten, bevor wir dazu wieder Stellung nehmen werden. Das ist jetzt abzuwarten. Aber es ist sowohl von europäischer Seite als auch vonseiten der Bundesregierung, denke ich, klar geworden, welche Erwartungen wir da haben.

Fischer: Wenn ich das ergänzen darf: Ich meine, trotz all der schrecklichen Dinge, die am Wochenende passiert sind, darf man ja wirklich nicht übersehen, dass es eine Bewegung der türkischen Bevölkerung gab, die sich den Militärs entgegengestellt hat, und dass es eine große demokratische Einheit im türkischen Parlament gegeben hat - von der CHP über die MHP bis zur HDP, die sich diesem Putsch gemeinsam mit der Regierung entgegengestellt haben. Natürlich kann man jetzt hoffen, dass diese maßgeblichen zivilen politischen Kräfte, die wir da am Wochenende am Werk gesehen haben, dazu beitragen können, die großen gesellschaftlichen Gräben und Spannungen, die es in der Türkei gibt, zu überwinden.

Das, was Herr Seibert gesagt hat, ist aber natürlich auch richtig: Dieser Putschversuch muss natürlich aufgeklärt werden. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das muss aber den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Rechtsstaatlichkeit entsprechend geschehen, und dabei muss auch größtmögliche Transparenz gewährleistet werden, um eben auch die von dem Kollegen angesprochenen Verschwörungstheorien gar nicht erst entstehen zu lassen. Das ist unsere Erwartung an die türkische Regierung, aber auch an die türkische Gesellschaft als Ganzes.

Frage: Ich würde gerne etwas vom Wirtschaftsministerium wissen. Gibt es bei Ihnen Befürchtungen oder möglicherweise schon konkrete Anzeichen dafür, dass die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen beiden Länder Türkei und Deutschland leiden könnten?

Mich würde zum Zweiten interessieren, ob das, was da am Wochenende vorgefallen ist, irgendeinen Einfluss auf die Abschiebungspraxis, die Rückführungspraxis der EU in die Türkei hat. Das gilt zwar wahrscheinlich im Moment hauptsächlich für Griechenland. Aber hat sich da irgendetwas geändert? Können abgelehnte Asylbewerber nicht mehr so ohne Weiteres in die Türkei zurückgeführt werden, weil der Status ein unsicherer geworden ist?

Dimroth: Den zweiten Teil der Frage kann ich zu beantworten versuchen. Der erste Teil richtete sich an das Wirtschaftsministerium. Aber ich kann gerne mit dem zweiten Teil beginnen; dann drehen wir die Reihenfolge um:

Für eine solch grundlegende Neubewertung gibt es heute sicherlich noch keinen Anlass. Wie Sie wissen, gibt es ja im deutschen Recht sowohl den Rechtsstatus des sicheren Herkunfts- als auch des sicheren Drittstaates. Beides trifft für die Türkei nicht zu. Insofern gibt es da auch keinen Nachjustierungsbedarf oder auch nur einen Diskussionsbedarf. Richtig ist, dass die Sicherheitslage in einem Land, in das abgeschoben werden soll, selbstverständlich in den Blick zu nehmen ist, bevor das geschieht. Das geschieht fortlaufend, indem man sehr genau hinschaut, wie die Situation im jeweiligen Land ist. Aber für eine grundlegende Bewertung oder gar Neubewertung der Situation, die jetzt eine grundlegende Veränderung auch der Praxis bedeuten würde, ist es heute sicherlich zu früh.

Alemany: Zu Ihrer ersten Frage: Uns liegen noch keine veränderten Handelszahlen vor. Natürlich hat eine unsichere Sicherheitslage immer Auswirkungen auf den Tourismus und die diesbezüglichen Zahlen.

Frage: Herr Dimroth, zum EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen: Der letzte Stand war ja, dass Abschiebungen in die Türkei nicht in einem großen Maße stattfinden, weil einfach die Bearbeitung der Asylanträge in Griechenland stockt. Gibt es da einen neuen Stand? Gibt es also de facto im Moment schon Abschiebungen, oder gibt es die weiterhin einfach gar nicht?

Dimroth: Auch da gilt: Einen wirklich neuen Stand kann ich hier nicht vermelden. Es ist ja tatsächlich so, dass da aus Sicht der griechischen Regierung insbesondere im griechischen Recht noch Dinge zu tun waren, die ich hier im Einzelnen nicht bewerten oder kommentieren kann, weil ich kein Experte des griechischen Asylrechts bin. Aber es ist eben tatsächlich auch so, dass Rückführungen - jedenfalls nach einer Beendigung von Asylverfahren in Griechenland - bisher nicht in nennenswertem Umfang stattgefunden haben. Anders ist es bei Menschen, die in Griechenland keinen Asylantrag gestellt haben. Da ist es, wie hier auch schon mehrfach besprochen wurde, sehr wohl zu Rückführungen auch von Griechenland in die Türkei gekommen.

Zusatzfrage: Haben Sie da Zahlen, zum einen zum nicht nennenswerten Umfang nach Beendigung der Verfahren und zum anderen auch zu dem anderen?

Dimroth: Ich habe Zahlen. Die sind allerdings schon ein paar Tage alt. Deswegen würde ich, wenn Sie einverstanden sind, vorschlagen, dass ich die unmittelbar nachreiche, wenn ich wieder im Büro bin.

Frage: Herr Seibert, in den ersten Stunden des Putschversuchs kursierte das Gerücht, dass Erdogan Asyl in Deutschland beantragt habe. Stimmt das? Hat Erdogan Asyl in Deutschland beantragt?

StS Seibert: Es stimmt nur, dass das als Gerücht kursierte. Ich habe davon nie gehört.

Frage: Herr Seibert, Sie sagten, es habe bisher noch kein Gespräch über die aktuellen Ereignisse zwischen der Bundeskanzlerin und Herrn Erdogan gegeben. Ist das für heute oder die nächsten Tage möglicherweise geplant?

Zweite Frage, noch einmal auf die Ereignisse des Wochenendes gemünzt: Sie haben schon von Fehlentwicklungen in punkto Rechtsstaatlichkeit gesprochen, die die Bundesregierung in der Vergangenheit stets kritisiert habe. Stellen die Ereignisse des Wochenendes für die Bundesregierung nun eine qualitativ neue Lage dar, die eine mögliche Neubewertung der Beziehungen rechtfertigt oder nötig macht? Ist das eher etwas, zu dem Sie sagen "So kann es nicht sein, aber wir warten erst einmal ab", oder ist diese qualitativ neue Lage aus Ihrer Sicht schon eingetreten?

StS Seibert: Zunächst einmal zu der Frage nach den Kontakten: Ich kündige Telefonate ja nicht vorher an, sondern informiere, wenn sie stattgefunden haben. Sie haben gehört, dass der Außenminister mit seinem Amtskollegen in der Türkei gesprochen hat, und auch das Kanzleramt hatte am Samstag Kontakte mit Stellen in der türkischen Regierung. Es gab also diese Kontakte.

Die Türkei - das ist ganz erkennbar so - ist nach diesem Ereignis in einer sehr aufgewühlten Situation, das ja, wenn Sie an die Zahl der Toten denken, auch ein sehr tragisches Ereignis ist. Wir müssen der Türkei sehr klarmachen, dass wir absolut an der Seite derjenigen stehen, die für Demokratie, Parlamentarismus und das Recht des Volkes stehen, die Regierenden durch Wahlen zu bestimmen und gegebenenfalls auch abzuwählen. Das ist eine Haltung, die wir ganz ersichtlich mit der überwiegenden Mehrheit der Menschen in der Türkei teilen - das haben sie ja auf den Straßen und Plätzen klargemacht - und die wir auch mit allen Parteien teilen, die im türkischen Parlament vertreten sind. Darauf werden wir aufbauen.

Wir haben natürlich auch schon vor dem Putschversuch problematische Entwicklungen in der Türkei gesehen und auch angesprochen, und wir werden jetzt in kritischer Sympathie verfolgen, wie sich die türkische Demokratie von diesem Schock erholen und sich in den nächsten Wochen darstellen wird.

Frage: Ich muss noch einmal auf das nicht erfolgte Telefonat zu sprechen kommen, weil mir das nicht ganz einleuchtet, gerade deshalb, weil Sie gesagt haben, Frau Merkel lege großen Wert darauf, regelmäßig mit Herrn Erdogan zu sprechen. Warum hat es dieses Gespräch also nicht gegeben, bei dem man sich ja aus erster Hand darüber hätte informieren und möglicherweise auch darauf hätte hinwirken können, dass das, was die Bundesregierung von der Türkei fordert, auch geschieht?

Eine zweite Frage zum EU-Beitritt und zu den Verhandlungen abseits der Frage nach der Todesstrafe: Ist die Tatsache, dass ein Putschversuch in einem Beitrittskandidatenland überhaupt möglich ist, nicht Anlass dazu, diese Beitrittsverhandlungen grundsätzlich zu überdenken und sie möglicherweise auf Eis zu legen? Diese Forderung gibt es ja unter anderem aus einer Partei, die der Regierung angehört.

StS Seibert: Es hat Kontakte mit der türkischen Regierung gegeben - aus dem Kanzleramt, aus dem Außenministerium. Es hat dieses Telefonat mit Präsident Erdogan am Wochenende nicht gegeben. Ich werde Ihnen Bescheid geben, wenn es eines gegeben haben wird und wenn darüber berichtet werden kann.

Zur zweiten Frage: Wir sind seit vielen Jahren in den EU-Beitrittsverhandlungen. Es gibt ohnehin ein Problem damit, neue Kapitel zu öffnen, weil die wichtige Zypernfrage noch nicht geklärt ist. Wenn dieses Hindernis beseitigt sein wird, dann wird man genau zu den Kapiteln kommen, bei denen es dann sicherlich mit der Türkei sehr intensiv in Debatten gehen wird, nämlich was Rechtsstaatlichkeit und Inneres angeht. Ich kann jetzt hier für die Europäische Union - nur die könnte ja beschließen, wie sie die Verhandlungen weiterführt - nicht äußern. Die Bundesregierung fordert jedenfalls nicht die Einstellung dieser Verhandlungen. Aber bei diesen Verhandlungen wird sehr intensiv über genau diese schwierigen Themen gesprochen werden müssen. Die Tatsache, dass die Türkei in Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen Beitritt steht und dass sie Kandidat ist, verpflichtet sie bereits zur Einhaltung von rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Prinzipien.

Frage: Herr Dimroth, zur Lage in Deutschland, was diese ganze Türkei-Geschichte betrifft: Man konnte am Samstag schon relativ bald sehen, dass es eine größere Demonstration von Erdogan-Anhängern vor der türkischen Botschaft in Berlin gab, und das war eine relativ aggressive Stimmung. Da wurden eben auch die Gülen-Anhänger sehr scharf attackiert, obwohl gar nicht klar ist, ob der irgendetwas damit zu tun hat. Meine Frage: Gibt es seitens der Bundesregierung die Befürchtung, dass auch innerhalb der türkischen Gemeinde sozusagen gewisse Konflikte ausbrechen? Machen Sie da irgendwelche Lager aus? Wie ist eigentlich die Wahrnehmung seitens der Sicherheitsbehörden?

Dimroth: Vielen Dank. Ganz grundsätzlich ist es tatsächlich so, dass es ja am Wochenende zu einer Reihe von Demonstrationen im ganzen Bundesgebiet kam, die aber glücklicherweise im Ergebnis weit überwiegend und beinahe ausschließlich friedlich verlaufen sind. Es gab in Gelsenkirchen eine Veranstaltung, bei der es tatsächlich auch zu geringfügigen Ausschreitungen gekommen ist. Hierfür und für alle anderen gilt, dass das Demonstrationsgrundrecht natürlich ein sehr hochwertiges Grundrecht ist, das vollumfänglich für jedermann gilt. Das hat seine Grenzen sozusagen in den Rechtsgütern Dritter. Alle sind aufgerufen, sich auch an diesen Rahmen zu halten. Noch einmal: Bisher war das, was durch die Sicherheitsbehörden der Länder beobachtet wurde, ein weitgehend friedliches Demonstrationsgeschehen. Ich kann nur dazu ermuntern, dass sich das auch nicht ändert.

Eine Prognose dazu, wie sich das weiterentwickeln wird, kann ich Ihnen hier nicht geben. Das hängt sicherlich ein Stück weit auch davon ab, wie die Ereignisse in der Türkei weiter voranschreiten werden und ob sich dann eben aus diesen Ereignissen ein gewisses Potenzial auch für im Ausland befindliche Türken ergibt oder nicht.

Frage: Ich würde gerne das Wirtschaftsministerium fragen, nachdem ja am Freitag eine neuerliche TTIP-Verhandlungsrunde zu Ende gegangen ist, ob der Wirtschaftsminister nach dieser Sitzung schon Klarheit darüber gefunden hat, ob es noch Sinn hat, weiterzuverhandeln oder nicht. Er hatte ja ein bisschen in Aussicht gestellt, dass man danach klarer sehen könne, wie die Situation aussieht.

Alemany: Wie Sie zu Recht sagen, wurde von Montag bis Freitag verhandelt. Die Ergebnisse werden wir, sobald sie da sein werden, dann einmal gründlich auswerten. Die Kommission gibt ja immer im Nachgang zu solchen Verhandlungsrunden Protokolle und Ergebnisberichte heraus. Die gilt es dann auszuwerten und danach eine ehrliche Bilanz zu ziehen.

Frage: Ich wollte zum Amok in Nizza kommen. Herr Seibert, Frau Demmer hat am Freitag von islamistischem Terror gesprochen. Haben Sie mittlerweile irgendwelche Hinweise darauf, dass das islamistischer Terror war?

Herr Dimroth, Herr de Maizière war sich ja noch sicherer als alle anderen, dass das islamistischer Terrorismus war. Welche Erkenntnisse haben Sie? Es gibt ja mittlerweile auch Stimmen aus der französischen Regierung dazu, dass man keine Hinweise darauf habe, dass es da Verbindungen zum IS gibt. Einfach nur vorweg: Nur weil ISIS sagt, dass sie es waren, heißt es das ja nicht.

StS Seibert: Erste Bemerkung: Ich würde es der französischen Regierung und vor allem den französischen Ermittlungsbehörden überlassen, die Hintergründe dieser schrecklichen Tat genau aufzuklären. Ich glaube nicht, dass es die Rolle der Bundesregierung ist, da eigene Erkenntnisse zu sammeln.

Zweitens: Wenn jemand keine direkte, persönliche Verbindung zum sogenannten "Islamischen Staat" hat, dann heißt das noch nicht, dass er in seiner Tat nicht islamistisch bewegt gewesen sein kann.

Zusatzfrage : Haben Sie darüber Erkenntnisse?

StS Seibert: Nein. Das war eine grundsätzliche und, wie ich finde, ziemlich logische Erklärung, die ich abgegeben habe. Aber die Erkenntnisse und vor allem das Sammeln von Erkenntnissen über die Hintergründe dieses Mörders und seiner Tat überlassen wir den französischen Behörden. Aber wenn ich das noch sagen darf: Auch der französische Präsident hat von Terror gesprochen.

Dimroth: Im Übrigen stehen die französischen Behörden in einem sehr engen Austausch mit den deutschen Sicherheitsbehörden. Es wird Sie nicht wundern, wenn ich nicht in der Lage bin, hier sozusagen über tagesaktuelle Zwischensachstände zu berichten, weil darüber tatsächlich die französischen Behörden sprechen, die inzwischen, wie Sie, wenn Sie die Wochenendpresse aufmerksam verfolgt haben, ja wissen, auch sehr wohl über Zwischenerkenntnisse, die in diese Richtung weisen, berichtet haben.

Im Übrigen gilt das, was Herr Plate hier am Freitag gesagt hat: Nicht nur die Vertreter der französischen Administration sprechen von Terror. Es gibt auch eine entsprechende Zuständigkeitszuweisung an den zuständigen Terrorstaatsanwalt in Paris. Aber noch einmal: Eine abschließende Bewertung stünde uns hier auch gar nicht zu, sondern das ist Aufgabe der französischen Seite.

Im Übrigen kann ich auch nicht ersehen, woraus Sie die Wertung ziehen, dass sich Herr de Maizière noch deutlicher oder deutlich in Bezug auf die konkrete Tat festgelegt hätte.

StS Seibert: Ihre Erinnerung trügt Sie im Übrigen auch in Bezug auf das, was Frau Demmer hier am Freitag gesagt hat. Sie hat ausdrücklich nicht von islamistischem Terror gesprochen. Lesen Sie es im Protokoll noch einmal nach.

Frage: Herr Dimroth, es kursieren ISIS-Propagandavideos auf Twitter, wonach Berlin das nächste Anschlagsziel ist. Hier wird konkret der Bundestag benannt. Können Sie dazu etwas sagen?

Dimroth: Ich kann dazu nur ganz allgemein das sagen, was Ihnen bezüglich unserer Einschätzung bekannt ist, was die Gefährdungslage in Deutschland betrifft:

Wir sehen uns mindestens in Europa in einem gemeinsamen Raum von Werten und damit auch in einem gemeinsamen Raum der Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus. Das gilt gleichermaßen vor und nach Nizza. Das gilt auch in Bezug auf eine Reihe von Hinweisen, die die Sicherheitsbehörden in Bezug auf ein mögliches Anschlaggeschehen in Deutschland erreicht - auch das wurde hier vielfach kommuniziert -, nämlich das sogenannte Grundrauschen. Es ist schwierige Aufgabe der Sicherheitsbehörden, bei der Zahl von Hinweisen, die sie mit Bezug zu Deutschland erreichen, zu differenzieren, ob es sich um Hinweise handelt, die konkret sind, die bestimmte Gegenmaßnahmen erforderlich machen oder ob es, wie es das leider auch immer wieder gibt, Hinweise von Trittbrettfahrern sind, die sich wichtig machen wollen, Hinweise von Menschen, die Freude daran haben, zu Verunsicherung beizutragen, ohne tatsächlich ernsthafte Planungen zu hegen. All das kommt vor. All das ist bei den Sicherheitsbehörden in guten Händen und deren tägliches Geschäft.

Zusatzfrage: Bis jetzt haben Sie immer von einer abstrakten Gefahr gesprochen. Gibt es jetzt eine konkrete Bedrohung?

Dimroth: Wie ich gerade ausgeführt habe und wie Sie vielleicht, wenn Sie es aufmerksam verfolgt haben, bemerkt haben, sprechen wir seit geraumer Zeit nicht mehr von den Begriffspaaren "abstrakte" und "konkrete" Gefahr. Es gibt immer wieder durchgehend und erst recht nach erfolgten Anschlägen - damit meine ich nicht mehr so sehr Nizza, sondern eher Istanbul, Paris, Brüssel - eine noch höhere Zahl von Hinweisen - konkreten Hinweisen, wenn Sie so wollen -, die die Sicherheitsbehörden erreichen, die dort aber erst einmal daraufhin geprüft werden müssen - das geschieht unter Hochdruck und unter größtmöglicher Sorgfalt -, ob möglicherweise diese Hinweise derart konkret sind, dass auch Gegenmaßnahmen zu treffen sind. Sie können auch davon ausgehen, dass Sie, wenn solche Situation eintreten, natürlich Kenntnis erhielten.

Aber die Begriffspaare "konkret" und "abstrakt" umschreiben das Geschehen nicht mehr hinreichend trennscharf. Es gibt Hinweise, die in einer Vielzahl bei den Sicherheitsbehörden eingehen, dort geprüft werden und erforderlichenfalls werden Maßnahmen ergriffen.

Frage: Jenseits der Frage, ob man in irgendeiner Form von islamistischem Terrorismus sprechen kann, scheint es aber doch gesicherte Erkenntnis zu sein - korrigieren Sie mich -, dass bei dem Täter von Nizza so etwas wie eine beschleunigte Radikalisierung Richtung Islamismus festgestellt worden ist. Das ist noch einmal die Asymmetrie in der Asymmetrie. Das kann auch in Deutschland bei Menschen passieren, die dafür anfällig sind. Wie geht man mit so etwas um? Gibt es Strategien? Das ist ja kaum zu erkennen. Das war ja wohl auch die große Schwierigkeit der französischen Behörden, die fragen, wie sie das hätten feststellen sollen. Welche Lehren kann man aus diesem Phänomen einer beschleunigten individuellen Radikalisierung ziehen?

Dimroth: Mit einer Bewertung, wie Sie sie jetzt sozusagen vor die Klammer stellen, würde ich mich heute noch schwer tun. Es ist richtig, dass man in der Zeitung von entsprechenden Einlassungen französischer Sicherheitsbehörden und auch Vertretern der französischen Regierung lesen konnte, dass der Sachverhalt so oder so ähnlich, wie von Ihnen gerade geschildert, stattgefunden hat. Ich kann mir das nicht zu eigen machen, weil ich, wie gesagt, nicht befugt bin, hier über Erkenntnisse französischer Sicherheitsbehörden zu sprechen.

Dahinter steckt aber eine grundlegende Frage, zu der ich gerne etwas sagen will: Nicht erst seit Nizza ist die Erkenntnis gereift, dass ein umfassender Terrorismusbekämpfungsansatz nicht allein aufseiten von Repression und polizeilicher Prävention stattfinden kann. Das sind wichtige Bausteine, bei denen die Bundesregierung auch viel getan hat. Es sind eine Reihe von Gesetzen entsprechend verschärft worden. Es ist insbesondere dem Bundesinnenminister gelungen, die Bundessicherheitsbehörden über den gesamten Zeitraum dieser Legislaturperiode spürbar in Personal- und Ausstattung zu stärken. Das ist aber tatsächlich eher die repressive Seite oder die polizeipräventive Seite.

Daneben ist ein ganz zentraler Baustein bei der erfolgreichen Bekämpfung des Terrorismus die Prävention. Gerade in der letzten Woche gab es in diesem Raum für die Familienministerin gemeinsam mit dem Bundesinnenminister Gelegenheit, die neue Strategie der Bundesregierung im Zusammenhang mit Prävention vorzustellen. Ich glaube, das ist der Schlüssel für Ihre Frage. Der Bundesinnenminister hat schon vielfach betont, dass Prävention ein ganz wesentlicher Bestandteil in einem ganzheitlichen Bekämpfungsansatz ist und dass es insbesondere auch wichtig ist, achtsam zu sein. Wir haben hier darüber diskutiert, weil ihm das Wort "Wachsamkeit" in den Mund gelegt wurde und daraus dann etwas abseitige Debatte entstand.

Was meint Achtsamkeit? Das meint, dass Menschen, die im unmittelbaren Umfeld von Menschen, die möglicherweise für solche Radikalisierungsprozesse anfällig sind, aufeinander achten, dass man genau hinschaut, ob sich - wie auch immer - der Bruder, der Vater, die Schwester verändert und gegebenenfalls dann, wenn eine solche Erkenntnis sichtbar wird, auch nicht den Schritt zu beispielsweise entsprechenden Präventionsangeboten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sucht - ähnliche gibt es in einer Vielzahl bei den einzelnen Bundesländern -, um in einem beratenden Prozess möglichst frühzeitig professionelle Hilfe einzufordern, um solche Radikalisierungsprozesse, soweit möglich, noch frühzeitig genug unterbrechen zu können.

Frage: Zurück zum beschleunigten Urteilsvermögen. Herr Seibert, warum war das ein Terroranschlag? Davon haben Sie am Freitag gesprochen.

Herr Dimroth, Herr de Maizière sagt: "Sie hassen und sie töten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie wollen, dass wir unsere Gewohnheiten und unser freiheitliches Leben ändern. Und sie wollen Macht über unsere Freiheit gewinnen." Wer sind denn "sie"? Wen meint er damit?

StS Seibert: Der französische Präsident hat von einem Terroranschlag gesprochen, auch die Bundeskanzlerin hat von einem solchen Anschlag gesprochen. Das scheint mir auch die absolut zutreffende Beschreibung dessen zu sein, was in Nizza grauenhafterweise passiert ist. Weitere Definitionsfragen, muss ich sagen, gehen jedenfalls nach meiner Überzeugung völlig am Kern dessen vorbei, was jetzt geklärt werden muss. Es muss geklärt werden: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Mensch diese Tat durchgezogen hat? Hatte er Unterstützer? Da gibt es Festnahmen. Das alles muss geklärt werden und nicht das, wonach Sie fragen.

Dimroth: Sie bieten ja gerade selber dafür Beleg, dass Ihre eingangs gemachte Bewertung nicht ganz so zutreffend ist. Ganz offensichtlich handelt es sich bei "sie" nicht um den Einzeltäter, über den wir in Bezug auf Nizza am vergangenen Freitag gesprochen haben, sondern um allgemeine und generell-abstrakte Äußerungen. Insofern kann ich nicht erkennen, dass darin sozusagen die vorschnelle Festlegung über die Motivationslage dieses Einzeltäters enthalten wäre.

Zusatzfrage: Wen meint er dann abstrakterweise mit "sie"?

Herr Seibert, ich habe es so verstanden: Wenn Hollande etwas sagt, dann sagen Sie es einfach auch. Das ist die Logik, ja?

Dimroth: Die Frage beantwortet sich selbst, wenn Sie den Gesamttext lesen. Da ist natürlich die Rede von islamistischem Terrorismus. Aber ich kenne keine Passage, in der steht, dass sozusagen jetzt schon abschließend gerichtsfest und mit entsprechenden Beweisen fest stünde, dass es sich in Nizza genau um diesen Sachverhalt gehandelt hat. Den kann ich nicht erkennen. Ähnlich lautet Ihre eingangs gemachte Bewertung, der ich dann leider hier noch einmal widersprechen muss.

Vorsitzender Detjen: Herr Seibert?

StS Seibert: Ich habe nichts hinzuzufügen.

Frage: Kurz zu einem anderen Thema: Die UN-Sonderkommissarin für Klimaschutz, Frau Robinson, hat im "Guardian" scharfe Kritik an Deutschland geübt und gesagt, mit der Braunkohlesubventionierung betrüge man das Pariser Klima-Abkommen. Ist Ihnen die Kritik bekannt und gibt es darauf eine Reaktion? Die Frage richtet sich sowohl an das Wirtschafts- als auch an das Umweltministerium.

Alemany: Mir ist die Äußerung nicht bekannt. Deswegen kann ich dazu nicht Stellung nehmen.

Fichtner: Ich hatte auch noch keine Gelegenheit, mir das in Ruhe anzusehen. Ich kann deswegen auch nicht im Detail dazu Stellung nehmen.

Vorsitzender Detjen: Die Einladung, das gegebenenfalls nachzuliefern, wie Herr Dimroth das jetzt mit Blick auf gefragte Zahlen tut.

Dimroth: Das mache ich gerne. Die Kollegin ist jetzt schon weg. Ich hoffe, sie hat Gelegenheit, das entweder zu hören oder das Protokoll nachzulesen.

Laut Zahlen der Kommission vom 15. Juli dieses Jahres ist es insgesamt seit Geltung des EU-Türkei-Abkommens zu 468 Rückführungen von Griechenland in die Türkei gekommen. Davon waren 31 Syrer, wobei es sich bei 31 Syrern um freiwillige Rückkehrer gehandelt hat.

Frage: Herr Fischer, ich wollte Ihnen Gelegenheit geben, eine Stellungnahme zu den 28 Seiten abzugeben, die der US-Kongress zum 9/11 report nach 15 Jahren veröffentlicht hat. Was lesen Sie daraus?

Fischer: Wir haben die Medienberichte über die Veröffentlichung dieser Papiere zur Kenntnis genommen. Für uns ist es ein Teil der Debatte, die weiterhin in den USA zu dem Hintergrund der Anschläge des 11. September 2001 abläuft.

Zusatz: Das war alles?

Fischer: Haben Sie eine Frage?

Zusatzfrage: Ja, der Inhalt suggeriert ja, dass sämtliche Attentäter von Saudi-Arabien - von saudischen Offiziellen und der saudischen Königsfamilie - finanziert wurden. Das heißt, auch Attentäter, die hier in Deutschland gelebt und sich vorbereitet haben, so zum Beispiel in Hamburg. Können Sie uns einmal Ihre Erkenntnisse erläutern, welche Verbindung die saudische Königsfamilie zu Al-Qaida gehabt hat? Vertreten Sie den Standpunkt, dass es keine Verbindungen zwischen der saudischen Königsfamilie und den Attentätern vom 11. September gegeben hat? Ist das immer noch der offizielle Standpunkt der Bundesregierung?

Fischer: Dass ein Teil der Attentäter saudi-arabische Staatsbürger waren, ist ja bekannt. Aber der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass das saudische Herrscherhaus oder andere staatliche Stellen in die Finanzierung dieses Attentats involviert gewesen sein könnte. Wir sehen im Gegenteil ja, dass Saudi-Arabien Ziel von Terroranschlägen gerade von Al-Qaida oder auch in jüngster Zeit ISIS ist, dort immer wieder Menschen durch terroristische Anschläge umkommen und sich Saudi-Arabien im Kampf gegen ISIS und auch Al-Qaida engagiert.

Zusatzfrage: Entschuldigung, aber wie können Ihnen keine Kenntnisse vorliegen, dass es sich um Verbindungen der saudischen Königsfamilie zu Al-Qaida handelt? Dieser Bericht einer Untersuchungskommission handelt von nichts anderem als davon. Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie sich das angeguckt haben.

Fischer: Der Bericht ist das eine. Aber der Bericht ist sozusagen Ausfluss dessen, was möglicherweise US-Stellen vorgelegen hat. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Der Bundesregierung liegen keine belastbaren Erkenntnisse darüber vor, dass der saudische Staat in den Anschlag vom 11. September involviert gewesen ist.

Montag, 18. Juli 2016

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Quelle:
Regierungspressekonferenz vom 18. Juli 2016
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/07/2016-07-18-regpk.html;jsessionid=AEFCF18387EA1F04B4D3DCDAF5591F04.s7t1
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2016

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