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PRESSEKONFERENZ/1011: Kanzlerin Merkel zum Europäischen Rat am 26. Juni 2015 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Brüssel - Freitag, 26. Juni 2015
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zum Europäischen Rat am 26. Juni 2015


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, wir haben jetzt eine ausführliche Diskussion über das Thema "Flüchtlinge und Migration" geführt; deshalb hat es etwas länger gedauert.

Wir hatten zu Beginn unserer Sitzung heute ja natürlich den Bericht des Parlamentspräsidenten und der Präsidentschaft über das, was in den vergangenen Monaten geschafft wurde. Hier war noch einmal wichtig, dass wir darauf hingewiesen haben und uns auch einig waren, dass beim Datenschutzpaket und auch beim Telekommunikationspaket jetzt schnelle Einigungen im Trilog gefunden werden sollen. Das wurde sowohl von Martin Schulz als Parlamentspräsident als auch von der Ratspräsidentschaft, von der lettischen Premierministerin, sehr bestätigt.

Dann hat uns der Eurogruppenvorsitzende Jeroen Dijsselbloem einen Bericht über die Gespräche mit Griechenland gegeben. Wir waren uns einig, dass weiter mit den drei Institutionen, der Eurogruppe und Griechenland gearbeitet werden muss und dass dem Rat der Eurogruppe am Samstag eine entscheidende Bedeutung zukommt; denn die Zeit drängt. Alle im Europäischen Rat haben unterstützt, dass alles darangesetzt werden muss, am Samstag eine Lösung zu finden; deshalb also die entscheidende Bedeutung.

Wir haben dann jetzt beim Abendessen mehrere Stunden lang das Thema "Migration und Flüchtlinge" diskutiert. Hier haben wir auf den Schlussfolgerungen aufgebaut, die wir im April getroffen haben. Wir haben sozusagen die gesamte Dimension noch einmal intensiv diskutiert und haben uns entschieden, dass wir für 60.000 Menschen Hilfe geben wollen, dahin gehend, dass es eine Umverteilung innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf freiwilliger Basis gibt, an der sich aber alle Mitgliedstaaten beteiligen wollen. Diese 60.000 Menschen setzen sich zum einen aus 40.000 Menschen zusammen, die sozusagen angekommen sind, zum Beispiel über das Mittelmeer in den Ländern Italien und Griechenland, und die dann verteilt werden sollen - wie gesagt: auf freiwilliger Basis -, und aus weiteren 20.000 Menschen, die zum Beispiel durch Bürgerkriege vertrieben worden sind und die wir sozusagen von außerhalb der Europäischen Union aufnehmen wollen, wie Deutschland das zum Beispiel schon mit vielen Tausenden syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen gemacht hat.

Die ganze Diskussion war deshalb sehr umfänglich, weil wir hier noch einmal die gesamte Dimension und auch die unterschiedliche Betroffenheit der einzelnen Mitgliedstaaten beleuchtet haben. Wir haben auch die verschiedenen Flüchtlingsrouten noch einmal intensiv diskutiert. Ich glaube, das war eine sehr wichtige und auch notwendige Diskussion.

Wir haben uns dann auch mit der Frage befasst, wie wir Fluchtursachen besser bekämpfen können, wie wir es schaffen können, dass auch die Kooperation mit den afrikanischen Partnern besser wird und wie wir unsere Entwicklungshilfe besser einsetzen können. Hier haben wir noch einmal auf den Gipfel verwiesen, den wir mit den afrikanischen Staaten dann auf Malta im Herbst abhalten wollen und dem wir auch entscheidende Bedeutung beimessen.

Das waren die Diskussionspunkte, von denen ich glaube, dass sie heute berichtenswert sind.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, zum Thema Griechenland: Heute Nachmittag haben Sie gesagt, dass sich der Rat, also die Staats- und Regierungschefs, nicht in die Verhandlungen einmischen will, die dann am Samstag von den Finanzministern geführt werden. Aber was ist denn in dem Fall, dass es am Samstag bei diesen Verhandlungen nicht weitergeht? Können Sie sich vorstellen, dass auch Sie ganz persönlich sich dann nicht einmischen werden?

BK'in Merkel: Wir haben uns ja immer wieder in gewisser Weise eingemischt. Deshalb hatten wir am Montag einen Rat gehabt, und ich habe ja auch zusammen mit dem französischen Präsidenten eine Vielzahl von Gesprächen mit dem griechischen Ministerpräsidenten geführt. Das wird sicherlich auch weitergehen.

Was wir als Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat nicht können, ist, uns in die technischen Verhandlungen einzumischen; das ist auch vollkommen klar. Der Vorsitzende der Eurogruppe hat heute noch einmal darauf hingewiesen, dass selbst die Finanzminister auf die Zuarbeit von Fachleuten angewiesen sind. Man muss sich das ja so vorstellen, dass Griechenland mit den drei Institutionen zusammenarbeitet, dass sich dann die Finanzminister auch die ganzen Finanzierungsgrundlagen anschauen und dass da sehr viel technische Arbeit geleistet werden muss, um herauszufinden, welche Maßnahme welchen Effekt hat. Das können und werden die Staats- und Regierungschefs nicht tun, sondern sie können nur den politischen Willen bekunden, dass wir möchten, dass die Finanzminister in der Eurogruppe zusammen mit den drei Institutionen und Griechenland eine Lösung finden. Dieser Wunsch ist heute doch sehr klar artikuliert worden.

Frage: Ihr Finanzminister hat heute Nachmittag in der Eurogruppe das von den Institutionen vorgelegte Papier ziemlich deutlich als zu weitgehend kritisiert. Sie sollen gegenüber unter anderem Herrn Draghi gesagt haben, dass Sie das Papier der Institutionen mittragen würden. Da ich nicht gerne auf Hörensagen angewiesen bin, würde ich gerne von Ihnen wissen: Ist das Papier der Institutionen eines, das Sie für eine tragfähige Grundlage für eine Einigung mit der Regierung Griechenlands halten, oder teilen Sie die Kritik Ihres Finanzministers?

BK'in Merkel: Ich möchte auch nicht aufs Hörensagen hingewiesen werden. Ich habe mit dem Finanzminister und meinem Finanzminister Wolfgang Schäuble heute telefoniert. Er hat mir über die Diskussionen berichtet, und er hat darauf hingewiesen, dass die Position der drei Institutionen dort vorgelegt wurde. Er hat das nicht weiter spezifiziert. Er hat nur gesagt, dass es auch seitens der Finanzminister noch eine Reihe von Fragestellungen gab, insbesondere zu den Finanzierungsnotwendigkeiten, die sich daraus ergeben, und er hat darauf hingewiesen, dass vonseiten Griechenlands noch einmal kurzfristig immer wieder neue Vorschläge gemacht wurden, sodass eine Gesamtbeurteilung heute nicht möglich war. Demzufolge habe ich mich auch gegenüber niemandem an einer Gesamtbeurteilung beteiligt, weil ich all diese Papiere nicht kenne und mich dann ein Stück weit auf die Bewertung des deutschen Finanzministers verlassen werde. Aber daran wird im Augenblick noch gearbeitet.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch eine Anschlussfrage zu Griechenland: Wenn es jetzt am Samstag nicht zu einer Einigung kommen sollte, wären Sie dafür, dass die Finanzminister dann auch über einen Plan B reden? Es gab ja Berichte darüber, dass das verabredet sei.

Noch einmal zu den Flüchtlingen: Können Sie bitte noch einmal erklären, warum die Verteilung der Flüchtlinge so sensibel ist? Sind das die innenpolitischen Bedenken der Regierungen, dass die Angst vor nationalistischen Parteien haben, die stärker werden, wenn sie etwa in Osteuropa akzeptieren, dass mehr Flüchtlinge kommen? Vielleicht können Sie einmal kurz beschreiben, warum das stundenlange Debatten erforderte.

BK'in Merkel: Zum Ersten: Ich möchte mich an Spekulationen auch weiterhin nicht beteiligen. Der Vorsitzende der Eurogruppe Jeroen Dijsselbloem hat uns heute gesagt, wie die Pläne der Finanzminister sind. Wir haben das unterstützt, was das Prozedere anbelangt; zu Inhalten konnten wir nichts sagen. Wir setzen darauf, dass am Samstag eine Einigung gefunden werden kann. Wir sagen nicht ohne Bedacht, dass dieser Einigung oder dieser Eurogruppe dann auch eine entscheidende Bedeutung zukommt. Ich glaube, die Formulierung "Dieser Eurogruppe kommt eine entscheidende Bedeutung zu" setzt sozusagen darauf, dass die Zeit sehr, sehr knapp wird und dass Samstag dann doch an Ergebnissen gearbeitet werden sollte. Ob das gelingen wird, kann ich heute nicht sagen. Aber der politische Wille der anwesenden Staats- und Regierungschefs - auch mit Blick auf Griechenland - war heute eindeutig.

Zweitens: Was die Flüchtlinge anbelangt, so ist die Frage, ob eine Verteilung freiwillig oder nicht freiwillig erfolgt, natürlich schon eine sehr sensible Sache. Die gute Nachricht ist, dass sich alle heute dem Thema oder auch der Zielsetzung verpflichtet gefühlt haben, den 60.000 Menschen zu helfen. Ich finde, das ist erst einmal eine positive Botschaft. Zweitens ist aber dann auch im Hinblick auf die Vorschläge der Kommission eben noch einmal diskutiert worden: Wie soll das gehen? Da gibt es eben den festen Wunsch vieler Mitgliedstaaten, dass ihre speziellen Situationen beachtet werden sollten. Man muss auch sehen, dass es einige Mitgliedstaaten gibt, die halt sehr überdurchschnittlich betroffen sind. Das sind nicht nur Italien und Griechenland, sondern das ist zum Beispiel im Augenblick Ungarn, das in den ersten Monaten dieses Jahres die absolut meisten Flüchtlinge pro Einwohner zu verzeichnen hat. Das sind dann aber auch sehr schnell andere Länder. Auch Deutschland hat in diesem Jahr einen sehr hohen Anteil an der Aufnahme von Flüchtlingen, und trotzdem sind wir - das ist ja bekannt - eher einer Quotenregelung zugeneigt, als andere Länder es sind. Da wird also noch viel Arbeit zu tun sein.

Was die einzelnen Motive sind, vermag ich jetzt nicht zu sagen. Manche Länder glauben, dass sie auch zukünftige potenzielle Flüchtlinge aufzunehmen haben - nehmen wir einmal die Ukraine und Polen oder die Ukraine und die Slowakei an -, und manche Länder fühlen sich heute schon sehr stark betroffen, zum Beispiel Bulgarien, das einem hohen Druck ausgesetzt ist. Es gibt also sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zu einem anderen Thema: Wurde heute vielleicht auch das Thema Ukraine-Russland kurz angesprochen? Wird jetzt von der Ukraine erwartet, dass der politische Teil des Minsker Abkommens umgesetzt wird, wenn die wichtigsten Punkte wie der Waffenstillstand, die OSZE-Beobachter und der Abzug schwerer Waffen noch nicht umgesetzt sind?

BK'in Merkel: Wir haben heute nicht über die Ukraine und Russland gesprochen. Wir werden morgen erst über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprechen; dabei wird sicherlich auch noch einmal das Thema Ukraine auftauchen.

Ich sage noch einmal: Minsk muss in all seinen Teilen umgesetzt werden. Wir haben im Augenblick eine schwierige Situation, was den Waffenstillstand anbelangt. Die Lage verschlechtert sich; das muss man unumwunden sagen. Auf der anderen Seite geht auch die Arbeit in den Arbeitsgruppen sehr langsam voran, und jeder muss, glaube ich, seinen Beitrag dazu leisten. Aber gerade was die Verletzung der Waffenruhe anbelangt, sehen wir nach den OSZE-Berichten, nach den SMM-Berichten, dass die Verletzungen von der Separatistenseite sehr viel häufiger als von der ukrainischen Seite sind. Aber es werden auch immer wieder Verstöße von allen Seiten konstatiert.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, es wird berichtet, dass die Staats- und Regierungschefs Herrn Tsipras angeboten haben, irgendeine Form von Schuldennachlass in Aussicht zu stellen; es soll eine Formulierung geben. Können Sie das ein bisschen spezifizieren, wie dieser Nachlass oder diese Formulierung eventuell aussehen könnte?

BK'in Merkel: Nein. Wir haben keinerlei Beschluss in der Sache gefasst, und deshalb ist dieser Bericht nicht zutreffend. Wir haben heute immer und immer wieder deutlich gemacht, dass wir uns an den inhaltlichen Verhandlungen nicht beteiligen und dass wir heute nur einen prozeduralen Beschluss gefasst haben, nämlich den, die Finanzminister zu bitten, gemeinsam mit den drei Institutionen und Griechenland eine Lösung zu suchen.

Frage: Haben Sie denn anschließend - Sie persönlich oder überhaupt jemand - mit Herrn Tsipras intensiver über dieses Thema gesprochen und vielleicht noch einmal darauf hingewiesen, wie wichtig der Samstag ist? Können Sie sich denn grundsätzlich eine Schuldenerleichterung oder Umstrukturierung als Teil eines Pakets beziehungsweise einer Vereinbarung vorstellen, wie es sich Tsipras ja wohl wünscht?

Dann zum Thema Flüchtlinge: Es heißt, es habe eine ziemlich heftige Diskussion zwischen Herrn Juncker und Herr Tusk gegeben. Gab es die?

BK'in Merkel: Um mit dem Zweiten zu beginnen: Ich habe nicht die Eigenschaft, dass ich aus diesen Beratungen berichte. Es gab insgesamt eine sehr engagierte Diskussion, und die ist dem Thema, glaube ich, auch angemessen, weil wir, was die Flüchtlingsfrage anbelangt, vor der, glaube ich, größten Herausforderung stehen, die ich jedenfalls in meiner Amtszeit bezüglich der Europäischen Union gesehen habe. Wir haben schon eine ganze Reihe von Herausforderungen bewältigt - von der Finanzkrise über die Wirtschaftskrise bis hin zur Euro-Krise -, aber hier sehe ich eine Riesenaufgabe auf uns zukommen. Hier wird sich entscheiden, ob Europa dieser Aufgabe gewachsen ist. Das beinhaltet durchaus die Möglichkeit, dass wir das sehr gut lösen und dass wir dabei wirklich stärker aus der Sache hervorgehen, aber das wird noch sehr intensive Diskussionen erfordern.

Zweitens kann ich nur das sagen, was ich auch schon am Montag gesagt habe: Wir befinden uns im zweiten Programm von Griechenland. Es geht um den Abschluss dieses Programms. Es gibt eine festgelegte Finanzsumme in diesem Programm. Jetzt muss man schauen, was Griechenland macht, um dieses Programm weitestgehend, sage ich einmal, zu erfüllen. Dazu werden die Institutionen einen Vorschlag machen. Aber es ist nicht möglich, irgendwelches neues Geld zu finden, das bislang nicht da ist. Mehr kann ich zu dem Rahmen jetzt nicht sagen. Alles andere muss ausgearbeitet werden.

Ich wünsche noch eine gute Nacht! Wir werden uns dann am heutigen Tag wiedersehen.

Freitag, 26. Juni 2015

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zum Europäischen Rat am 26. Juni 2015
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/06/2015-06-26-merkel-er.html;jsessionid=391718C0DF061A1B4AE10B21BA0399C7.s4t1
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2015

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