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FORSCHUNG/1279: Wellen - Die Ausnahme und ihre Regeln (idw)


Technische Universität Wien - 25.07.2016

Die Ausnahme und ihre Regeln


Sogenannte "Ausnahmepunkte" sorgen für physikalische Effekte, die der Intuition zuwiderlaufen. Ein Team der TU Wien macht sich dies für die Entwicklung eines neuartigen Wellenleiters zunutze und präsentiert das Ergebnis im Fachjournal "Nature".

Egal ob Schallwellen, quantenphysikalische Materiewellen oder Lichtwellen eines Lasers - Wellen können unterschiedliche Schwingungszustände annehmen, denen sich unterschiedliche Frequenzen zuordnen lassen. Diese Schwingungsfrequenzen auszurechnen gehören zum täglichen Handwerk in der theoretischen Physik. In letzter Zeit sorgen aber ganz spezielle Systeme für immer mehr Aufmerksamkeit, bei denen manche gewohnte Regel über Bord geworfen werden muss.

Wenn die Wellen Energie abgeben oder aufnehmen können, stößt man auf sogenannte "Ausnahmepunkte" (man spricht in der Physik von "exceptional points"), in deren Umgebung die Wellen merkwürdiges Verhalten zeigen: Laser schalten sich ein, obwohl man ihnen eigentlich Energie wegnimmt, Licht leuchtet nur noch in ganz bestimmte Richtungen, und Wellen, die zunächst in ein wildes Durcheinander geraten, treten daraus in einem bestimmten Zustand wieder geordnet hervor.

Einem Forschungsteam der TU Wien gelang es nun mit Unterstützung von Kollegen aus Brasilien, Frankreich und Israel, einen solchen "Ausnahmepunkt" im Experiment zu umrunden - mit bemerkenswerten Ergebnissen, die nun im Fachjournal "Nature" publiziert wurden.

Wellen mit komplexen Frequenzen

"Die Schwingungsfrequenzen von Wellen in einem bestimmten System hängen normalerweise von mehreren verschiedenen Parametern ab", erklärt Prof. Stefan Rotter vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. Die charakteristischen Frequenzen von Mikrowellen in einem Metallbehälter werden etwa von der Größe und Form des Behälters bestimmt. Man kann diese Parameter gezielt verändern und somit auch die Frequenz bestimmter Wellenzustände kontinuierlich verschieben.

"Viel komplizierter wird die Situation allerdings bei Systemen, die Energie aufnehmen oder abgeben", sagt Rotter. "So ähnlich wie man in der Mathematik ein komplexes Ergebnis erhält, wenn man die Wurzel aus negativen Zahlen zieht, ergeben unsere Gleichungen dann für die Wellen komplexe Frequenzen." Auf den ersten Blick mag das wie eine bloße mathematische Spielerei aussehen, doch in den letzten Jahren zeigte sich, dass diese "komplexen Frequenzen" tatsächlich eine wichtige physikalische Bedeutung haben.

Mikrowellen in der Metallbox

Am deutlichsten treten die Besonderheiten von komplexen Frequenzen zutage wenn man ein System zu einem sogenannten "Ausnahmepunkt" hinsteuert. "Ausnahmepunkte treten in Wellen-Systemen auf, deren Form und Absorption so abgestimmt werden können, dass zwei verschiedene Wellen sich bei einer bestimmten komplexen Frequenz treffen", erklärt Rotter. "Am Ausnahmepunkt haben die beiden unterschiedliche Schwingungszustände nicht nur dieselbe Resonanzfrequenz und dieselbe Energieverlustrate sondern auch dieselbe räumliche Struktur. Man kann also davon sprechen, dass am Ausnahmepunkt zwei Wellenzustände zu einem einzelnen verschmelzen."

Wenn ein System solche Ausnahmepunkte erlaubt, lassen sich merkwürdige Effekte beobachten: "In unserer Arbeit senden wir zwei Wellenmoden in einen Mikrowellenleiter, der so strukturiert ist, dass die Wellen im Inneren des Wellenleiters einen Ausnahmepunkt nicht nur ansteuern, sondern umrunden", erklärt Jörg Doppler, der Erstautor der Studie. Egal welche der beiden Wellenmoden man in das System einkoppelt, kommt am Ende immer dieselbe Mode heraus. Koppelt man aus der Gegenrichtung ein, wird die jeweils andere Mode bevorzugt. "Das ist als ob man mit einem Auto in einen zweispurigen Tunnel einfährt, im Inneren des Tunnels wie auf Glatteis herumschlittert, aber am Ende garantiert immer auf der richtigen Straßenseite ankommt", meint Doppler.

Um die theoretischen Modelle zu testen, die er mit seiner Forschungsgruppe dazu entwickelt, wandte sich Stefan Rotter an französische Kollegen, die mit Mikrowellenstrukturen arbeiten - hohle Metallbehälter, durch die man elektromagnetische Strahlung schickt, um das Verhalten der Wellen zu studieren. An der TU Wien wurde berechnet, welche spezielle Form ein Wellenleiter haben muss, um die merkwürdigen Ausnahmepunkt-Eigenschaften zu zeigen. In der Gruppe von Ulrich Kuhl an der Universität in Nizza wurden dann die Experimente durchgeführt und das vorhergesagte Verhalten tatsächlich beobachtet.

Neue Impulse für die Wellenphysik

Systeme mit Ausnahmepunkten bringen eine ganz neue Klasse von Möglichkeiten mit sich, Wellen unterschiedlichster Art zu kontrollieren. "So ähnlich wie die komplexen Zahlen zusätzliche Kapitel für die Mathematik aufschlagen, eröffnen die komplexen Ausnahmepunkte ganz neue Perspektiven für die Physik der Wellen", meint Rotter. Tatsächlich arbeiten mittlerweile bereits mehrere Forschungsgruppen an Ausnahmepunkten: In derselben Ausgabe von Nature in der die Arbeit der Wiener Gruppe erscheint, berichtet etwa ein Team von der Universität Yale (USA), dass Ausnahmepunkte auch in der Optomechanik auftreten und dort zu ganz neuartigen Effekten führen können. "Von Ausnahmepunkten wird man in Zukunft in mehreren Gebieten der Physik sicherlich noch oft hören", ist sich Stefan Rotter sicher.


Jörg Doppler, Alexei A. Mailybaev, Julian Böhm, Ulrich Kuhl, Adrian Girschik, Florian Libisch, Thomas J. Milburn, Peter Rabl, Nimrod Moiseyev, Stefan Rotter (2016). "Dynamically encircling an exceptional point for asymmetric mode switching". Nature, doi:
http://dx.doi.org/10.1038/nature18605


Quantum Physics & Quantum Technologies ist - neben Computational Science & Engineering, Materials & Matter, Information & Communication Technology sowie Energy & Environment - einer von fünf Forschungsschwerpunkten der Technischen Universität Wien. Erforscht werden mögliche Anwendungen von Quantenphänomenen. Diese reichen von fundamentalen Wechselwirkungen der Elementarteilchen über Strahlungsquellen für ultrakurze Photonenpulse bis hin zur Steuerung der Zustände einzelner Atome und damit zu Bauelementen für den Quantencomputer.
www.tuaustria.at

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Wien, Dr. Florian Aigner, 25.07.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2016

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