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ASTRO/242: Im Sog des Schwarzen Lochs (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 8/13 - August 2013
Zeitschrift für Astronomie

Im Sog des Schwarzen Lochs

Zerreißprobe für eine Gaswolke im galaktischen Zentrum

Von Stefan Gillessen und Frank Eisenhauer



Mit der Schwerkraft von vier Millionen Sonnen zerrt ein kompaktes Objekt im Zentrum unserer Milchstraße eine Gaswolke zu sich heran. Was genau dabei in den nächsten Monaten und Jahren geschieht, werden die Astronomen mit Spannung verfolgen. Denn erstmals können sie live der Fütterung eines Schwarzen Lochs zusehen.



IN KÜRZE

• Im Jahr 2011 entdeckten Astronomen des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik im Zentrum der Milchstraße eine Gaswolke, die sich in Richtung des extrem massereichen zentralen Schwarzen Lochs bewegt.

• In den nächsten Monaten wird sich diese Gaswolke mit einer Masse vom Dreifachen der Erde dem Schwarzen Loch annähern und dabei durch Gezeitenkräfte auseinandergerissen werden.

• Astronomen versuchen weltweit, die Wechselwirkung der Gaswolke mit dem Schwarzen Loch und seiner Umgebung zu beobachten. Unklar ist, ob die Aktivität des Schwarzen Lochs zunehmen wird.


Das Schwarze Loch im Zentrum des Milchstraßensystems ist für seine Größe erstaunlich unauffällig. Obwohl es mit der Schwerkraft von mehr als vier Millionen Sonnen auf seine Umgebung einwirkt, saugt es zurzeit nur wenig Material in sich hinein.

Das könnte sich in den nächsten Monaten ändern. Denn im Jahr 2011 haben wir mit unserer Gruppe am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) in Garching eine Gaswolke entdeckt, die sich beinahe direkt auf das Schwarze Loch zubewegt und ihm Ende 2013 am nächsten kommen wird. Die Bahn führt so nah an das Schwarze Loch heran, dass die Gaswolke den Vorbeiflug nicht überstehen wird.

Neben starken Gezeitenkräften wird auch die aus weniger dichtem Gas bestehende Atmosphäre um das Schwarze Loch auf die sich nähernde Wolke einwirken. Wenn diese Wechselwirkung die Wolke genügend stark abbremst, kann sie - zumindest teilweise - auf Grund der enormen Gravitation in das Schwarze Loch fallen. Da dann gewaltige Mengen an kinetischer Energie in Strahlung und andere Energieformen umgewandelt würden, könnten wir zusehen, wie das Schwarze Loch gefüttert wird.


Ein einzigartiges Labor für Astrophysik
Das Zentrum der Milchstraße ist ein Glücksfall für die Astronomie. In rund 27.000 Lichtjahren Entfernung von der Erde beherbergt es das nächste extrem massereiche Schwarze Loch, Sgr A* genannt (sprich: »Sagittarius A-Stern«). Zwar finden sich Objekte dieser Art auch in den Kernen anderer Galaxien, diese sind jedoch mindestens hundertmal weiter entfernt. Unser galaktisches Zentrum erlaubt es deswegen, die astrophysikalischen Prozesse um ein massereiches Schwarzes Loch in beispielloser Genauigkeit zu untersuchen. Mit modernen Großteleskopen wie etwa dem Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile lassen sich die einzelnen Sterne selbst in der unmittelbaren Umgebung von Sgr A* auflösen.

Ein Hindernis sind allerdings die dichten Wolken aus interstellarem Staub, die auf der Sichtlinie zwischen Erde und galaktischem Zentrum liegen und das optische Licht um viele Größenordnungen schwächen. Deshalb muss man im Infraroten beobachten, bei Wellenlängen zwischen einem und vier Mikrometern. In diesem Bereich des elektromagnetischen Spektrums wird die Strahlung kaum mehr durch den interstellaren Staub absorbiert. Diese Wellenlängen sind noch nahe genug am Optischen, um einerseits hauptsächlich die Strahlung der Sterne zu erfassen (und nicht etwa die Strahlung kühler Staubregionen) und andererseits normale Spiegelteleskope verwenden zu können. Freilich sind spezielle Infrarotkameras als Detektoren notwendig.

Die Sterndichte im galaktischen Zentrum ist sehr hoch. In einem Raumbereich, in dem sich in der Sonnenumgebung nur wenige Sterne befinden, tummeln sich dort tausende. Deswegen benötigt man Teleskope, die eine hohe Auflösung erreichen. Andernfalls würden sich die Sterne nicht voneinander trennen lassen.

Die Auflösung für erdgebundene Teleskope wird dabei vor allem durch die irdische Atmosphäre begrenzt - und erst in zweiter Linie durch die Teleskopgröße. Die Lufthülle verändert sich laufend und damit auch der genaue Weg, den Licht durch das (wenn auch schwach) brechende Medium Luft nimmt. Als Folge verwaschen die Bilder, und die Abbildungsschärfe ist auf rund eine Bogensekunde begrenzt.

Einen Ausweg bietet eine clevere Technik, welche die Unschärfe korrigiert: die adaptive Optik. Hierbei wird ein Spiegel im Strahlengang mehrere hundertmal pro Sekunde so verformt, dass er optisch genau die verzerrende Wirkung der Atmosphäre ausgleicht. Dadurch wird die Abbildung auf dem Detektor scharf, und das Teleskop kann beugungsbegrenzte Bilder erzeugen. Das Korrektursignal erhält das System von einem Wellenfrontsensor, der das Licht eines Leitsterns analysiert. Als solcher kann ein gewöhnlicher Stern in der Nähe dienen oder auch ein künstlicher Stern, der dadurch entsteht, dass ein vom Teleskop ausgehender Laserstrahl in der Hochatmosphäre Natriumatome zum Leuchten anregt (siehe SuW 10/2004, S. 32, und 4/2005, S. 34).

Unsere Gruppe am MPE unter Leitung von Reinhard Genzel verwendet seit nunmehr 20 Jahren solche hochauflösenden Infrarotbeobachtungen, um das Zentrum der Milchstraße ins Visier zu nehmen (siehe SuW 12/2006, S. 36, und 2/2009, S. 52). Es ist ein überaus erfolgreiches Projekt, das viele überraschende Entdeckungen hervorgebracht hat. Das wichtigste Ergebnis ist zweifellos der Nachweis, dass die kompakte Radioquelle Sgr A* eine Masse von etwa 4,3 Millionen Sonnenmassen aufweist - und damit nur ein Schwarzes Loch sein kann.

In keinem anderen Fall sind sich Astronomen so sicher, dass sie es tatsächlich mit einem Schwarzen Loch zu tun haben. Der Nachweis gelang durch Beobachten der Umlaufbahnen einzelner Sterne. Wie die Planeten um die Sonne kreisen, so umrunden die Sterne das zentrale Schwarze Loch, wenn auch auf stark elliptischen Bahnen. Mit Hilfe des newtonschen Gravitationsgesetzes lässt sich daraus die Masse der Schwerkraftquelle berechnen.

Unerwartet war die Entdeckung, dass die meisten der hellen Sterne im galaktischen Zentrum jung sind. Im innersten Bereich, der etwa eine Bogensekunde im Durchmesser umfasst, zeigen sich vor allem heiße Hauptreihensterne vom Spektraltyp B, die maximal einige hundert Millionen Jahre alt sein können. Sie bewegen sich auf stark elliptischen Bahnen mit Exzentrizitäten um e = 0,8, und die einzelnen Sternorbits sind zufällig orientiert. Im Gegensatz dazu findet man zwischen einer und zehn Bogensekunden Winkelabstand von Sgr A* eine Population von sehr hellen, massereichen Sternen, die Sgr A* in einer gemeinsamen Ebene umkreisen. Deren Bahnen haben Exzentrizitäten von etwa e = 0,4, sind also deutlich kreisförmiger als für die inneren Sterne. Die Spektren dieser Sterne erlauben es, das Alter einzugrenzen - diese Sterne sind mit rund sechs Millionen Jahren ausgesprochen jung.

Normalerweise ist Sgr A* sehr dunkel - die Umgebung des Schwarzen Lochs leuchtet bei keiner Wellenlänge heller als mit der 200-fachen Helligkeit der Sonne. Das ist nur rund ein Hundertmillionstel der Maximalhelligkeit, die ein Schwarzes Loch erreichen kann, wenn es mit maximaler Rate Materie aufsammelt (oder akkretiert, wie die Astronomen sagen). Heute gibt es Theorien, die erklären können, warum Sgr A* nur so schwach leuchtet: Ursache ist eine Kombination aus geringer Akkretionsrate und ineffizienter Umwandlung der kinetischen Energie des Gases in Strahlung, wie Feng Yuan vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics und seine Koautoren 2003 vorschlugen. Solche Modelle sagen auch voraus, dass um Sgr A* eine dünne, heiße Atmosphäre vorhanden sein sollte, die nach innen hin dichter wird. Allerdings ist der Dichteanstieg geringer, als man erwarten würde, wenn Gas aus allen Richtungen auf Sgr A* zuströmte. Ein Teil des Gases auf dem Weg Richtung Ereignishorizont strömt also wieder zurück.

Insofern war es eine Überraschung, als unsere Arbeitsgruppe im Jahr 2003 Strahlungsausbrüche (so genannte Flares) des Schwarzen Lochs entdeckte. Einige Mal am Tag steigert das sonst im Infraroten unsichtbare Schwarze Loch seine Helligkeit so weit, dass es immerhin so hell leuchtet wie die Sterne in seiner Umgebung. Die Flares entstehen vermutlich direkt am Ereignishorizont des Schwarzen Lochs, durch einen Prozess ähnlich dem, der Flares auf der Sonne verursacht: durch einen magnetischen Kurzschluss. Er erhitzt lokal das Plasma so weit, dass die Synchrotronstrahlung der Elektronen, die normalerweise bei rund einem Millimeter Wellenlänge am stärksten ist, bis ins nahe Infrarot bei wenigen Mikrometern Wellenlänge reicht.


Eine Gaswolke im Anmarsch
Auch 2011 ist uns eine unerwartete Entdeckung geglückt. Wir untersuchten systematisch Bilder, die bei einer Wellenlänge von 3,8 Mikrometern aufgenommen wurden. Eigentlich sind diese Bilder auf Grund der relativ großen Wellenlänge nicht die schärfsten, die man erhalten kann. Unter ungünstigen Wetterbedingungen kann es jedoch passieren, dass man gezwungen ist, diese Wellenlänge zu verwenden, da die adaptive Optik des Teleskops hier stabiler funktioniert. Bei 3,8 Mikrometer sieht man nicht nur die Strahlung von Sternen, sondern auch diejenige von kühleren Objekten. Der mit dem Gas vermischte Staub zeichnet so die Gasstrukturen im Zentrum der Milchstraße nach. In der Zusammenschau der Daten der letzten zehn Jahre war eine kompakte Quelle auffällig, die sich rasch auf Sgr A* zubewegte, jedoch kein Stern zu sein schien, da wir sie bei kürzeren Wellenlängen nicht entdecken konnten. Die Quelle bewegte sich nicht geradlinig, sondern gekrümmt, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass die Schwerkraft des Schwarzen Lochs auf das Objekt einwirkt.

Wir konnten die Quelle auch in unseren spektroskopischen Daten entdecken. Die Spektren hatten wir ursprünglich aufgenommen, um die Bewegungen der Sterne zu vermessen. In diesem Fall spielt das am MPE gemeinsam mit der ESO und dem Niederländischen Forschungsinstitut für Astronomie entworfene und gebaute Instrument SINFONI seine Stärken voll aus, das sich an einem der Teleskope des Very Large Telescope der ESO in Chile befindet. Im Gegensatz zu einem klassischen Spektrografen, der nur entlang eines eindimensionalen Spalts Spektren liefert, erhält man mit SINFONI Spektren aller Objekte in einem zweidimensionalen Bildfeld. Jedes Pixel des Bilds besteht aus einem vollen Spektrum. Die Daten sind also Kuben - mit zwei Achsen für die Bilddimensionen und einer dritten Achse für die Wellenlänge. Auf diese Weise hatten wir die Bewegung der Sterne in der Umgebung von Sgr A* vermessen. Da sich die neu entdeckte Quelle dem Schwarzen Loch bereits stark genähert hatte, lag ihre Position innerhalb des Bildfelds, das wir für die Sternorbits regelmäßig aufnehmen.

Tatsächlich entdeckten wir die Quelle in den SINFONI-Daten als kompakte Emission in zwei Rekombinationslinien des Wasserstoffs (in der so genannten Brackett-Gamma-Linie bei 2,166 Mikrometer und der Paschen-Alpha-Linie bei 1,875 Mikrometer Wellenlänge) sowie in einer Heliumlinie (bei 2,058 Mikrometer). Damit war klar, dass es sich um eine Gaswolke mit eingelagertem Staub handelt.

Die Gaswolke war auch leicht ausgedehnt, woraus man bei gegebener Helligkeit schließen kann, dass sie optisch dünn ist - man sieht also Emission aus dem gesamten Volumen der Wolke und nicht nur von einer Oberfläche. In so einem Fall lässt sich aus der Helligkeit der Linie die Masse des emittierenden Gases abschätzen. Wir erhielten einen Wert von rund drei Erdmassen.

Ebenso konnten wir aus der Lage der Linien die Radialgeschwindigkeit bestimmen. Denn die Spektrallinien unterliegen dem Dopplereffekt: Objekte, die sich auf uns zu bewegen, haben etwas blauverschobene Spektren, während Objekte, die sich von uns entfernen, rotverschobene Spektren aufweisen. Die Emissionslinien der Gaswolke sind stark rotverschoben, mit mehr als 1000 Kilometer pro Sekunde ist die Geschwindigkeit ähnlich hoch, wie für die Sterne, die das Schwarze Loch eng umkreisen.

Da uns solche Daten seit 2004 vorliegen, konnten wir sogar erkennen, wie die Geschwindigkeit im Lauf der letzten Jahre stetig zugenommen hatte. Damit ließ sich ein wohl definierter Orbit bestimmen. Demnach fliegt die Wolke auf einer sehr exzentrischen Bahn fast direkt auf Sgr A* zu. Ende 2013 oder Anfang 2014 wird sie in einem Abstand von nur dem 2000-Fachen der Größe des Schwarzen Lochs an diesem vorbeiziehen. Das ist sehr nahe und vergleichbar mit den Abständen, die manche Sterne erreichen können. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Da die Gaswolke zu leicht ist, um gravitativ selbst gebunden zu sein, wird sie den nahen Vorbeiflug nicht überleben, sondern von den Gezeitenkräften zerrissen werden.


Das mögliche Ende: Zerreißen, Verwirbeln, Absturz
Gezeitenkräfte treten auf, wenn die verschiedenen Bereiche eines ausgedehnten Objekts unterschiedlich starken Kräften ausgesetzt sind. Wenn sich die Vorderseite der Gaswolke näher an der Schwerkraftquelle befindet als ihre Rückseite, werden die voranlaufenden Bereiche stärker angezogen. Vom mitbewegten Mittelpunkt der Wolke aus betrachtet scheint es, als würden die Gasschwaden sowohl in Vorwärtsals auch in Rückwärtsrichtung auseinandergezogen - als wirke eine abstoßende Kraft, die das Gas vom Wolkenmittelpunkt wegdrücke. Die Wolke wird dadurch in die Länge gezogen.

Erstaunlicherweise konnten wir genau das in unseren Spektroskopiedaten entdecken. Die beste Darstellung der dreidimensionalen Daten für diesen Zweck erhält man mit einem vertikalen Schnitt durch den Kubus: Die Schnittfläche ist dann ein zweidimensionales Bild, das in einer Richtung die Position entlang des Schnitts darstellt und in der anderen Richtung die Wellenlänge - oder nach Anwenden der Dopplerformel die Geschwindigkeit. Man nennt so eine Darstellung Positions-Geschwindigkeits-Diagramm.

Während im Jahr 2004 alles Gas innerhalb der Messgenauigkeit mit der gleichen Geschwindigkeit flog, zeigte sich 2008 eine Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Vorder- und Rückseite von 230 Kilometern pro Sekunde; 2011 war die Differenz auf 360 Kilometer pro Sekunde gestiegen und ein weiteres Jahr später sogar auf 600 Kilometer pro Sekunde. Wir sehen also live zu, wie die Gezeitenkräfte an der Gaswolke zerren und sie auseinanderreißen. So etwas wurde noch nie zuvor beobachtet.

Nicht nur die Schwerkraft wirkt auf die Gaswolke. Denn auf ihrem Weg fliegt die Wolke auch durch die dünne, heiße Atmosphäre, die Sgr A* umgibt. Während ein kompakter Stern de facto ungehindert diese Atmosphäre durchdringen würde, stellt sie für die einfallende Gaswolke ein ernst zu nehmendes Hindernis dar. Da die Dichte der Atmosphäre nach innen hin zunimmt, wird diese Wechselwirkung zwischen Wolke und Atmosphäre auf dem Weg Richtung Sgr A* immer wichtiger. Dabei treten zusätzliche zerstörerische Prozesse auf: Hydrodynamische Instabilitäten lassen Turbulenzzellen entstehen, durch die das Gas Energie und Drehimpuls verliert. Als Folge davon kann das Gas in das Schwarze Loch stürzen.

In den vergangenen Jahren war die Dichte der Wolke größer als die des umgebenden Gases, und deswegen folgt sie einer Bahn gemäß der keplerschen Gesetze. Dies könnte sich jedoch im Lauf der nächsten Monate ändern. Simulationen von Marc Schartmann und Kollegen vom MPE und der Universitäts-Sternwarte München zeigen, dass die weitere Entwicklung völlig von hydrodynamischen Effekten dominiert werden könnte.

Naturgemäß ist es schwer, vorherzusagen, was genau in den nächsten Monaten passieren wird. Die Gezeitenkräfte dürften die Wolke so stark in die Länge ziehen, dass es wohl ein Jahr dauern wird, bis alle Teile durch den dem Schwarzen Loch nächsten Punkt ihrer Bahn gezogen sind. Die komplexen hydrodynamischen Vorgänge, die dabei auftreten, hängen von zwei Unbekannten ab: der Dichte der Atmosphäre im inneren Bereich und davon, wie klumpig die Wolke strukturiert ist. Je weniger klumpig und je dichter die Atmosphäre, umso wichtiger werden die hydrodynamischen Effekte. Im Umkehrschluss erlaubt der Einfall der Gaswolke also, etwas über die Atmosphäre des Schwarzen Lochs zu lernen - und damit vielleicht auch besser zu verstehen, warum Sgr A* bisher so wenig Materie aufsammelt.


Wo kam die Gaswolke her?
Ebenso unklar wie die zukünftige Entwicklung ist die Herkunft der Gaswolke. Ein wichtiger Hinweis dazu dürfte sein, dass ihre Umlaufbahn in der gleichen Ebene liegt, in der sich auch die Scheibe aus jungen, massereichen Sternen befindet. Außerdem liegt der fernste Punkt des Gaswolkenorbits innerhalb dieser Scheibe. Ein Zusammenhang ist also wahrscheinlich. Zum Beispiel könnte sich die Wolke durch die Kollision von Sternwinden in der Scheibe gebildet haben. Dabei kann Gas entstehen, das fast keinen Drehimpuls mehr hat und dadurch fast radial auf das Schwarze Loch zufliegt. Schwierig in diesem Modell ist zu verstehen, warum die Wolke 2004 noch so kompakt war, denn die Gezeitenkräfte hätten sie schon zuvor stark in die Länge ziehen müssen.

Ein anderes Modell von Ruth Murray-Clay und Abraham Loeb vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, Massachusetts, nimmt an, dass die Gaswolke einen jungen Stern beherbergt, der selbst zu dunkel ist, um ihn zu sehen. Die protoplanetare Scheibe um einen solchen Stern würde auf dem gemessenen Orbit durch die Gezeitenkräfte auseinandergerissen und die Gaswolke so hervorrufen. Die Gasproduktion sollte sich demnach erhöhen, je näher das Objekt dem Schwarzen Loch kommt, und folglich auch die Linienhelligkeit zunehmen. Unsere Daten zeigen das jedoch nicht: Die Helligkeit blieb von 2004 bis 2012 konstant. Ebenso ist es in dem Modell schwierig zu verstehen, wie ein junger Stern auf so einen exzentrischen Orbit geraten kann, ohne dabei seine protoplanetare Scheibe komplett zu verlieren.

Eine weitere Idee stammt von Nick Scoville vom California Institute of Technology in Pasadena und Andreas Burkert vom MPE und der Universitäts-Sternwarte München: Demnach enthält die Gaswolke einen T-Tauri-Stern - also einen jungen Stern, der die Hauptreihe noch nicht erreicht hat. Der Wind, der von dem T-Tauri-Stern ausgeht, könnte auch die Gaswolke erklären. Dieses Modell ist aus zwei Gründen attraktiv: Zum einen kann ein einfacher Stern leichter auf die exzentrische Bahn geraten als ein Stern mit protoplanetarer Scheibe. Zum anderen wäre die konstante Helligkeit verständlich, wenn die Emission hauptsächlich von der Stoßfront herrührt, die der auf die Atmosphäre von Sgr A* auftreffende Sternwind erzeugt.

Ob die Gaswolke tatsächlich einen Stern im Inneren enthält, wird sich in den nächsten Monaten zeigen: Falls ja, sollte man nach dem Zerreißen der Wolke einen kompakten Kern beobachten können, der sich weiter auf dem gemessenen Orbit bewegt.


Was ist an Beobachtungen zu erwarten?
Die Astronomen haben weltweit Ideen für Beobachtungsprogramme entwickelt und viel Teleskopzeit für den Einfall der Gaswolke beantragt. Mit Messungen im Millimeterwellenbereich wird sich das ankommende Material womöglich zuerst nachweisen lassen - denn die Polarisation dieser Strahlung ist ein Maß für die Menge an Material zwischen uns und der Quelle, Sgr A*. Die Wolke könnte beim Durchflug durch die Atmosphäre von Sgr A* an ihrer Vorderseite eine Stoßfront ausbilden, die sowohl im Röntgen- als auch im Radiobereich durchaus heller als das Schwarze Loch selbst scheinen könnte.

Besonders interessante Ergebnisse wären zu erwarten, wenn Sgr A* deutlich mehr Materie aufsammeln würde als zuvor. Zum Beispiel könnte sich die Struktur der Atmosphäre verändern - von einer annähernd kugelförmigen Schichtung zu einer ausgeprägten Akkretionsscheibe mit senkrecht dazu davonströmenden Materiejets. Dies ließe sich auf zwei Arten beobachten: Einmal müsste sich in hochaufgelösten Millimeterwellenbeobachtungen mit Very-Long-Baseline-Interferometrie eine veränderte Struktur zeigen. Um eine Auflösung im Bereich von Mikrobogensekunden zu erzielen, werden Millimeterwellenteleskope interkontinental zusammengeschaltet. Zwar lassen sich mit dieser Technik noch keine Bilder von Sgr A* gewinnen, aber Aussagen über eine typische Größenskala und über die Symmetrie der Quelle sind möglich. Eine andere Variante, die veränderte Struktur zu sehen, könnte Astrometrie bei Wellenlängen im Zentimeterbereich sein. Ein unvermittelter Sprung in der sehr genau bekannten Position von Sgr A* wäre hier das zu erwartende Signal.

Eine erhöhte Akkretionsrate würde auch zu einer allgemein höheren Leuchtkraft von Sgr A* führen. Die Vorhersagen dazu sind besonders schwierig, da die meiste Strahlung nahe am Ereignishorizont entsteht, das Gas also erst tief in das Gravitationspotenzial fallen muss. Es ist unklar, wie lange es dauert, bis das Gas in dem für die Strahlungsproduktion relevanten Bereich ankommt. Schätzwerte liegen zwischen einem Jahr und Jahrzehnten. Neben einer allgemein erhöhten Emission von Sgr A* könnte sich auch die Rate oder die Helligkeitsverteilung der Flares verändern, die ziemlich gut bestimmt sind.

Es bleibt spannend, was zu beobachten sein wird. Eine Liste an Veröffentlichungen zur Gaswolke sowie eine Sammlung von Beobachtungsprogrammen sind auf der Website https://wiki.mpe.mpg.de/gascloud/FrontPage unseres Instituts zusammengestellt.

Es ist eventuell auch nicht das erste Mal, dass Sgr A* in jüngerer Zeit deutlich heller leuchtet als heute. Die Analyse von Röntgenlicht in der Umgebung von Sgr A* durch Katsuji Koyama von der Universität Kyoto und seinen Koautoren zeigt eine Eisenlinienemission, die durch Fluoreszenz entstehen kann. Man sieht also eventuell ein Lichtecho. Der Abstand zu Sgr A* und die beobachtete Helligkeit lassen vermuten, dass das Schwarze Loch vor nur einigen hundert Jahren sehr hell im Röntgenbereich strahlte.


Stefan Gillessen arbeitet am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE). Sein Forschungsschwerpunkt sind hochauflösende Beobachtungen des Galaktischen Zentrums.

Frank Eisenhauer ist Astrophysiker am MPE und lehrt an der Technischen Universität München. Er ist am MPE verantwortlich für die bodengebundenen Infrarotinstrumente und leitete insbesondere die Entwicklung des für die Beobachtungen der Gaswolke verwendeten Spektrometers.



Literaturhinweise

Burkert, A. et al.: Physics of the Galactic Center Cloud G2, on its Way toward the Supermassive Black Hole. In: The Astrophysical Journal 750, 58, 2012

Genzel, R. et al.: Near-infrared Flares from Accreting Gas around the Supermassive Black Hole at the Galactic Centre. In: Nature 425, S. 934-937, 2003

Genzel, R. et al.: The Galactic Center Massive Black Hole and Nuclear Star Cluster. In: Reviews of Modern Physics 82, S. 3121-3195, 2010

Gillessen, S., Genzel, R.: Galaktisches Zentrum: Jagd auf das Schwarze Loch. In: Sterne und Weltraum 12/2006, S. 36-44

Gillessen, S.: Eine Nacht im Zentrum der Milchstraße. Den Beobachtern am Very Large Telescope über die Schultern geschaut. In: Sterne und Weltraum 2/2009, S. 52-61

Gillessen, S. et al.: Monitoring Stellar Orbits Around the Massive Black Hole in the Galactic Center. In: The Astrophysical Journal 692, S. 1075-1109, 2009

Gillessen, S. et al.: A Gas Cloud on its Way Towards the Supermassive Black Hole at the Galactic Centre. In: Nature 481, S. 51-54 , 2012

Gillessen, S. et al.: New Observations of the Gas Cloud G2 in the Galactic Center. In: The Astrophysical Journal (eingereicht). arXiv/1209.2272

Koyama, K. et al.: ASCA View of Our Galactic Center: Remains of Past Activities in X-Rays? In: Publications of the Astronomical Society of Japan 48, S. 249-255, 1996

Murray-Clay, R. A., Loeb, A.: Disruption of a Proto-planetary Disc by the Black Hole at the Milky Way Centre. In: Nature Communications 3, 1049, 2012

Schartmann, M. et al.: Simulations of the Origin and Fate of the Galactic Center Cloud G2. In: The Astrophysical Journal 755, 155, 2013

Scoville, N., Burkert, A.: The Galactic Center Cloud G2 - a Young Low-mass Star with a Stellar Wind. In: The Astrophysical Journal 768, 108, 2013



Weblinks

Weblinks zum Thema unter:
www.sterne-und-weltraum.de/artikel/1199737

Videos aus der Wissenschaft:
»Kosmische Raubtierfütterung live«
http://goo.gl/vXhnj

Video: Das Schicksal der Gaswolke in einer Simulation
http://goo.gl/Yrcj7

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 28-29:
Im Sternbild Schütze liegt das dynamische Zentrum unseres Milchstraßensystems. Dichte Staubwolken absorbieren das Licht der Sterne aus dieser Richtung (Bild ganz links). Infrarotes Licht und Radiostrahlung können diese dichte interstellare Materie jedoch durchdringen. Am Ort des galaktischen Zentrums befindet sich ein massereiches Schwarzes Loch, das sich als punktförmige Radioquelle, genannt Sagittarius A* (kurz Sgr A*), bemerkbar macht. Hochaufgelöste Bilder, aufgenommen mit dem Instrument NACO (Infrarotkamera mit adaptiver Optik) am Very Large Telescope bei den Wellenlängen 1,6, 2,2 und 3,8 Mikrometer, lassen einzelne Sterne und Gasstrukturen (rot) im Milchstraßenzentrum erkennen (Bild oben).

Abb. S. 30-31 unten:
Durch regelmäßige Aufnahmen bei einer Wellenlänge von 3,8 Mikrometern ließen sich Veränderungen in der unmittelbaren Umgebung des galaktischen Zentrums erkennen. Der Pfeil markiert die Gaswolke, die auf die Radioquelle Sgr A* (markiert mit einem gelben Kreuz) zufliegt.

Abb. S. 31 oben:
Aus Aufnahmen wie in den Bildern unten ließ sich der Orbit der Gaswolke ermitteln (rote Bahnkurve im Teilbild links). Zum Vergleich ist der Orbit des Sterns S2 gezeigt (violett), der eine enge Keplerellipse um Sgr A* (weißes Kreuz) beschreibt. Seit der Entdeckung der Gaswolke nahm ihre gemessene Radialgeschwindigkeit (also die Komponente der Geschwindigkeit in Beobachtungsrichtung) von 1000 auf mehr als 2000 Kilometer pro Sekunde zu (rechts).

Abb. S. 32:
Die Wirkung der Gezeitenkräfte auf die Gaswolke lässt sich durch Positions-Geschwindigkeits-Diagramme für die verschiedenen Jahre illustrieren. Gemessen wurde mit dem bildgebenden Spektrografen SINFONI am Very Large Telescope. Die horizontale Achse jedes Teildiagramms zeigt die Position entlang des Orbits, die vertikale die Geschwindigkeit des Gases. Man erkennt, wie die mittlere Geschwindigkeit im Lauf der Zeit zugenommen hat und wie die Gaswolke immer weiter auseinander gezogen wird.

Abb. S. 34-35:
Bei ihrer Annäherung an das massereiche Schwarze Loch wird die Gaswolke immer mehr in die Länge gezogen und schließlich zerrissen. Teile des Gases, die durch hydrodynamische Instabilitäten abgebremst werden, können durch die Schwerkraft des Schwarzen Lochs angesaugt werden und hinter dessen Ereignishorizont verschwinden. Dieser Vorgang dürfte mehrere Jahre andauern.


© 2013 Stefan Gillessen u. Frank Eisenhauer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 8/13 - August 2013, Seite 28 - 35
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528 150, Fax: 06221/528 377
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de
 
Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2014