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ORNITHOLOGIE/180: Auch ein junger Kuckuck hat es nicht leicht (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 12/2009

Wenig bekannte Aspekte des Brutparasitismus:
Auch ein junger Kuckuck hat es nicht leicht

Von Karl Schulze-Hagen


Der Kuckuck als Brutparasit und seine Wirtsvögel stellen ein Paradebeispiel der Koevolution dar. Viele Anpassungen und Gegenanpassungen rund um das Kuckucksei sind inzwischen bis in kleine Details hinein erforscht. Was sich dagegen im Nestlingsstadium abspielt, war bislang weniger bekannt. Karl Schulze-Hagen fasst neuere Untersuchungen zu diesem Thema zusammen - sie erbrachten so einige Überraschungen.


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Biologische Forschung ist dann am spannendsten, wenn sich die Fragestellungen draußen im Freiland entwickeln. Zwei Beispiele: Manchen Vogelbeobachtern wird schon das durchdringende Sirren eines nestjungen Kuckucks aufgefallen sein. Warum bettelt er so weit hörbar und so intensiv um Futter? Verhaltensforscher sind diesen Fragen nachgegangen. Für Nick Davies und sein Team an der Universität Cambridge stand diese Frage am Anfang einer langen Reihe von Freilandexperimenten mit überraschenden, neuen Erkenntnissen.(5, 6, 16, 24)

Im mährischen Fischteichgebiet bei Hodonin hat Oldo Mikulica ebenfalls schon in Hunderte von Rohrsängernestern geschaut, viele davon parasitiert. Er hat auch schon mehrmals einen jungen Kuckuck tot im bzw. unter dem Nest gefunden und dabei vielleicht gedacht, das wird das Wetter oder eine andere Störung gewesen sein. Aber so etwas hatte er noch nicht gesehen: Da klettern die beiden Teichrohrsänger-Eltern mit Futter im Schnabel durch das Schilf, in dem ihr Nest hängt. Darin sitzt ein heftig bettelnder, vielleicht 15 Tage alter Jungkuckuck, doch der kriegt nichts. Oldo hat den Eindruck, als wollten die Rohrsänger den fast flüggen Kuckuck aus dem Nest locken, so wie sie auch ihre eigenen Nestlinge zum Ausfliegen animieren. Nach längerer Zeit geben sie auf, der junge Parasit verliert an Lebenskraft und sogleich beginnen sie, Fasern aus der Nestwand zu ziehen, um ein neues Nest zu errichten. Schließlich stirbt der Kuckuck. Wieder nur eine Ausnahme von der Regel? Für Tomas Grim von der Universität Olmütz war das der Anlass, nachzuforschen. Auch seine Studien haben dazu beigetragen, unsere bisherigen Vorstellungen über den Brutparasitismus zu verändern.(7, 8, 9)

Der Brutparasitismus des Kuckucks bleibt stets aktueller Stoff für Koevolutionsbiologen. Derzeit erscheinen pro Jahr mehr als 60 Publikationen zu diesem Thema (ISI web of science). Dabei haben sich die Forscher bis in die jüngste Zeit ganz überwiegend mit dem Wettrüsten rund um das Kuckucksei beschäftigt. Trotz dessen oft guter Anpassung in Größe und Farbe können viele Wirte die Eier des Parasiten von den eigenen unterscheiden. Deshalb wird ein Teil der fremden Eier abgelehnt und aus dem Nest entfernt, nicht selten gar rigoros das ganze Gelege verlassen. Das ist immer noch besser als die mühevolle und langwierige Aufzucht des immer hungrigen Parasiten. Die Ablehnung des Kuckuckseies ist die erfolgreichste Abwehrmaßnahme gegen die Parasitierung.

Sobald aber das Kuckucksküken aus dem Ei geschlüpft ist, geben die Wirtsvögel ihren Widerstand auf. Nun akzeptieren sie vorbehaltlos dieses fremdartige Wesen, das doch so grundverschieden von den eigenen Jungen ist. Sie hindern den kleinen Parasiten nicht einmal daran, dass er unter ihren Augen bzw. unter ihrem hudernden Körper die eigene Brut aus dem Nest schiebt. So steht es bislang unwidersprochen in den Lehrbüchern. Diese "schiefe Sicht" konnte sich deshalb bis heute in der Fachwelt halten, weil die meisten Forscher zwar das Geschehen während der Eiphase, aber nur wenige die Prozesse rund um den jungen Kuckuck untersucht haben. (10, 28)

Jüngere Untersuchungen liefern zur Nestlingsphase des Parasiten z. T. Aufsehen erregende Erkenntnisse, die sich in drei Themengruppen gliedern lassen:

- Die Tricks des nestjungen Kuckucks, mit denen er seine Situation verbessert,
- der junge Kuckuck als Verlierer (Ablehnung durch die Wirte) und
- die Frage, wo es der Parasit am besten hat.



Die Tricks des nestjungen Kuckucks

Dass der kleine Kuckuck nicht als fremd abgelehnt wird, ist nicht sein Verdienst. Alle Wirtsarten akzeptieren den Parasiten "blind". Das tun sie auch, wenn man ihnen die Möglichkeit zum Vergleich bietet. Davies und Mitarbeiter setzten in einer Versuchsreihe neben Teichrohrsängernester, die einen jungen Kuckuck enthielten, ein weiteres Nest mit jungen Rohrsängern und umgekehrt zu Nestern mit Rohrsängerjungen setzten sie solche, die den Parasiten enthielten. All das machte keinen Unterschied, stets wurden junge Rohrsänger und junger Kuckuck gleich häufig gefüttert. Auch wurden Nestjunge anderer Arten wie Heckenbraunelle oder Buchfink mitgefüttert, wenn diese zu einer Rohrsängerbrut hinzugesetzt wurden.(1-4) Solch blindes Akzeptieren muss einen wichtigen Grund haben. Die Ablehnung eines fremden Nestlings wäre nämlich eine evolutionsbiologische Falle. Man stelle sich einmal vor, ein noch ganz naives Rohrsängerpaar wird gleich bei der ersten Brut parasitiert und statt auf das Bild der eigenen Rohrsängerküken auf das Aussehen des jungen Kuckucks geprägt. Solche "fehlgeprägten" Altvögel würden dann ja bei jeder weiteren Brut immer wieder ihre eigenen Jungen ablehnen und womöglich aus dem Nest entfernen. So die bisherige Vorstellung.(23)

Trotzdem muss der junge Kuckuck tief in die Trickkiste greifen, um zu überleben. Denn, nachdem er - noch blind und nackt - unter Aufbietung aller Kräfte sämtliche Konkurrenz aus dem Nest hinausgeschoben hat, sitzt er endlich allein im Nest. Dieser Vorteil birgt jedoch auch einen Nachteil. Das Einzelkind muss seine Wirtseltern so zum Füttern stimulieren wie sonst eine Brut mit vier oder fünf Jungen. Zunächst hatte man angenommen, dass dies die orangerote Farbe des weitaufgerissenen Rachens als optischer Superstimulus kompensiert. Das ist aber nicht der Fall, wie Experimente mit unterschiedlich gefärbten Rachen zeigten.(25) Auch die besondere Größe des jungen Parasiten lässt die Wirtseltern unbeeindruckt. Was zieht, ist sein durchdringendes Betteln. In seiner Geschwindigkeit, Dauerhaftigkeit und Lautstärke scheint dieses nicht von einem einzigen Nestling, sondern tatsächlich von einer ganzen Brut mit vier oder fünf hungrigen Jungen herzukommen. Das hatte schon Johann Heinrich Zorn vor fast dreihundert Jahren richtig erkannt und ist von Nick Davies und Mitarbeitern in einer Reihe von eleganten Vorspielexperimenten mit Lautsprechern an Rohrsängernestern bewiesen worden.(27, 5)

Der junge Kuckuck bettelt zehnmal so schnell wie ein einzelnes Rohrsängerküken. Ein solcher akustischer Superstimulus bringt die Wirte dazu, ihn so häufig zu füttern wie eine ganze Brut. Je älter er jedoch wird, umso intensiver und lauter muss er betteln, um den subnormalen Reiz des einen Schnabels wettzumachen. Darüber hinaus passt er die Struktur seines Bettelrufens an seine Wirtsart an. Da es keine Stiefgeschwister als Vorbild gibt, handelt es sich hier um einen Lernprozess, bei dem der junge Kuckuck ausprobiert, was den Füttertrieb der Wirte am besten stimuliert. So gelingt es jungen Rohrsängerkuckucken Bettelrufe zu produzieren, die zunehmend rohrsängerähnlich wirken, während sich das Betteln von Heckenbraunellen- und Rotkehlchenkuckucken den Bettelrufen ihrer Wirtsarten innerhalb weniger Tage immer mehr angleicht. Dieses Phänomen trägt noch einmal zur Steigerung der Fütterungseffizienz bei.(24)

Das laute Betteln beinhaltet allerdings ein höheres Risiko, Nesträuber anzuziehen. Der junge Kuckuck kann schon im Alter von einer Woche wirkungsvoll drohen. Wenn er sich dann noch überraschend aufrichtet, den Schnabel weit aufreißt und nach dem Angreifer schnappt, dann schreckt auch schon mal ein Ornithologe zurück, der gerade das Nest inspiziert. Außerdem reagieren junge Teichrohrsängerkuckucke auf die Warnrufe ihrer Stiefeltern, indem sie umgehend verstummen und drohbereit werden. Setzt man sie in die Nester von Heckenbraunellen und Gartenrotschwänzen, dann reagieren sie nicht auf deren andersklingende Warnrufe. Offensichtlich besitzen die kleinen Teichrohrsängerkuckucke ein angeborenes "fine-tuning" nur auf Rohrsängerwarnrufe. Umgekehrt gilt das gleiche. In Teichrohrsängernester verpflanzte Gartenrotschwanzkuckucke zeigen auch keine Reaktionen auf den Alarm der Rohrsänger. Bisher war es nicht vorstellbar, dass die (Fein-)Anpassungen des Parasiten bis in das Kommunikationssystem der Wirte hineinreichen. Dieses Verhalten ist ein weiterer Hinweis auf wirtsspezifische Rassen (gentes) beim Kuckuck. Die Vererbung bzw. Steuerung von wirtsspezifischen Eigenschaften ist dabei an das weibliche Geschlecht bzw. die mütterliche Linie gebunden.(6)

Während die Nestlinge des gemeinen Kuckucks mit einem akustischen Superstimulus erfolgreich sind, haben die Jungen des ostasiatischen Fluchtkuckucks (Cuculus fugax) eine ganz andere Strategie. Der Fluchtkuckuck lebt in dicht bewaldetem Hügelland und parasitiert in Japan bodennistende Kleindrosseln, bevorzugt den Blauschwanz (Tarsiger cyanurus). Da hier Prädation durch Kleinsäuger häufig vorkommt, geben sowohl die Wirtsjungen als auch die jungen Fluchtkuckucke nur wenige leise Bettelrufe von sich. Stattdessen haben die Nestlinge von Wirt und Parasit einen gelben Rachen, der im Dunkel des Bodennestes aufleuchtet. Wenige Tage nach dem Schlupf verfärbt sich beim kleinen Kuckuck die nackte Haut von Bauch und Unterflügeln tiefgelb und ein Teil des Unterflügels bleibt unbefiedert. Wenn die Wirtseltern mit Futter zum Nest kommen, reißt der junge Kuckuck seinen gelben Schnabel auf und hebt gleichzeitig die Flügel an. Die gelben Unterflügelflecken täuschen weitere Schnäbel vor und dienen somit als optischer Superstimulus zur Steigerung der Fütterungsaktivität der Wirte. Diese werden so gut getäuscht, dass sie tatsächlich gelegentlich Futter in die vermeintlichen Schnäbel stecken. Das kommt jedoch selten vor, weil der junge Kuckuck blitzschnell seinen Schnabel immer dahin richtet, wo der Altvogel gerade füttern will. Wurde der gelbe Unterflügel mit schwarzer Farbe übermalt, erhielt der junge Kuckuck deutlich weniger Futter.(29, 30)



Der junge Kuckuck als Verlierer in Europa ...

Trotz blinder Akzeptanz und aller Tricks kann es dennoch passieren, dass ein junger Kuckuck aufgegeben wird, wie der eingangs beschriebene Fall zeigt. Wie ist so etwas möglich? Hierbei handelt es sich nicht etwa um eine nachträgliche Erkennung der Täuschung, sondern um das Versiegen der elterlichen Fütterungsaktivität. Die Nestlingsentwicklung von 57 Kuckucken zeigte es: Vom Schlupf bis zum 11. Lebenstag nahm die Fütterungsfrequenz aller untersuchten Kuckucksküken immer mehr zu, bis zum 1,4-fachen derjenigen von normalen Teichrohrsängerbruten. Sie alle wuchsen entsprechend prächtig. In der Mehrzahl der Fälle blieb die Fütterungsfrequenz kontinuierlich hoch bis zum Alter von 18 Tagen, wenn junge Kuckucke ausfliegen. In 9 der 57 Fälle aber ließ die Fütterungsaktivität ab dem 12. Tag immer mehr nach, trotz intensiven Bettelns des Jungkuckucks. Alle diese neun Jungen wurden schließlich verlassen und verhungerten.(7)

Um das Geschehen genauer zu verstehen, führte Grim in seiner Teichrohrsängerpopulation eine Serie von Austauschexperimenten durch. Er tauschte Rohrsängerbruten gegen eine junge Amsel oder Singdrossel aus, er verkleinerte Bruten, also ließ von vier Nestlingen nur einen einzigen zurück und er verlängerte die Nestlingszeit, indem er ältere Nestlinge immer wieder gegen jüngere austauschte. Das kam dabei heraus: Egal, ob junger Kuckuck, junge Amsel, Singdrossel oder nur ein einziges Rohrsängerküken im Nest, sie alle wurden so gefüttert, dass sie kräftig wuchsen. Je länger aber ihre Nestlingszeit über das Übliche hinaus dauerte, um so mehr ließ die Fütterungsaktivität nach, um so mehr kam es zu Nestlingsverlusten. Das galt nicht nur für artfremde Junge, sondern eben auch für die Rohrsängerküken, deren Nestlingszeit künstlich verlängert worden war.(8, 9)

Der Vergleich der Untergruppen in diesen Experimenten schließt das Vorhandensein von nur einem einzigen Nestling oder elterliche Erschöpfung (in Form eines Limits für die Menge an herbeigetragenem Futter) als Ursachen aus. Teichrohrsänger können sogar acht Junge gleichzeitig aufziehen.(2) Stattdessen besitzt zumindest ein Teil der adulten Teichrohrsänger ein Zeitfenster, das ihnen die Dauer, wie lange sie Nestlinge füttern, vorgibt. Rohrsänger sind auf eine kurze Nestlingszeit von bis zu zwölf Tagen selektioniert, was eine Anpassung gegen Nesträuber darstellt. Der junge Kuckuck benötigt aber für seine Entwicklung mehr Zeit und kann nicht vor dem 17. Lebenstag ausfliegen. In der Detailanalyse zeigte sich auch, dass Rohrsängerküken bei künstlicher Verlängerung der Nestlingszeit sogar zwei Tage eher verlassen werden als ein Jungkuckuck, ganz offensichtlich, weil dieser seine Stiefeltern mit Hilfe seines akustischen Superstimulus länger hinzuhalten vermag.(9)

Dass junge Kuckucke aufgegeben werden und umkommen, ist jedoch insgesamt ein eher seltenes Ereignis. An den südmährischen Fischteichen kamen auf diese Weise 15 % der Jungkuckucke zu Tode. Während einige Rohrsänger als sogenannte Deserter vorzeitig aufgaben, war die Mehrzahl dieser Population bereit, auch über die verlängerte Zeitspanne am Nest zu füttern. Für den jungen Kuckuck hängt es vom Zufall ab, ob er die kritische Phase ab dem 12. Lebenstag überlebt. Er selbst hat keinen Einfluss darauf. Es ist vorstellbar, dass mit zunehmender Dauer und Intensität der Brutparasitierung in einer Rohrsängerpopulation die Rate an "Desertern" zunimmt.(7)

Kuckucksküken kommen also zu Tode, nicht weil sie als fremd erkannt worden sind, sondern weil ihre Entwicklung länger als das hierfür vorgesehene Zeitprogramm von Wirtsvögeln dauert. Dieses Phänomen heißt "chick discrimination without recognition". Hierbei handelt es sich nicht um einen Bestandteil des koevolutionären Wettrüstens. Stattdessen wird der junge Kuckuck mit der kurzen Nestlingszeit von Teichrohrsängern als wirtsspezifischer Eigenschaft konfrontiert, die sich für ihn nachteilig auswirken kann. Sie ist auch zunächst nicht "absichtsvoll" gegen den Parasiten gerichtet. Grim und seine Mitarbeiter haben somit eine weitere Dimension in der Beziehung von Parasit und Wirt entdeckt. Gegen das Instrument der chick discrimination durch nachlassende Fütterungsaktivität kann der Parasit so schnell nichts entgegensetzen, weil ihm entwicklungsphysiologische Grenzen gesteckt sind. Für die Wirte wiederum entstehen aus dieser Form der Ablehnung keine Kosten wie in der Eiphase, wo versehentlich auch schon mal eigene Eier entfernt oder gar ganze Gelege verlassen werden. Auch, wenn eine solche chick discrimination spät greift, so kann sie doch wenigstens einen Teil der Strapazen, die durch die Aufzucht des Parasiten entstehen, einsparen.



... und in Australien

Noch krasser sind die Verhältnisse beim australischen Prachtstaffelschwanz (Malurus cyanus), der häufig vom Rotschwanzkuckuck (Chalcites bzw. Chrysococcyx basalis) und gelegentlich vom Bronzekuckuck (Chalcites bzw. Chrysococcyx lucidus) parasitiert wird. Der gebüschlebende Prachtstaffelschwanz ist in Australien weit verbreitet und baut kugelige Nester ähnlich wie unser Zaunkönig. In drei Untersuchungsgebieten bei Canberra beträgt die Parasitierungsrate bis zu 37 %. Trotz der häufigen Parasitierung werden die gut angepassten Kuckuckseier von den Staffelschwänzen ausnahmslos akzeptiert. Möglicherweise gibt es deshalb keine Ablehnung der Kuckuckseier, weil sie im Dunkel der Nestkugel nicht von den Wirtseiern zu unterscheiden sind.(19, 22)

Ebenso wie die Cuculus-Arten entfernen auch die Chalcites-Nestlinge nach ihrem Schlupf alle anderen Eier bzw. Jungen aus dem Nest und werden von den Wirten allein aufgezogen. Überraschenderweise stellen aber viele Staffelschwänze nach drei bis sechs Tagen die Fütterung ein. Auf diese Weise kommen 40 % der Rotschwanzkuckucksküken und sämtliche Bronzekuckucksküken um. Stets ist es das Staffelschwanzweibchen, das mit dem Füttern aufhört und innerhalb weniger Stunden mit dem Bau eines neuen Nestes beginnt. Wie kann das passieren? Adulte Staffelschwänze geben nämlich ihr Nest nie auf, wenn es mehrere Jungvögel enthält. Sie tun dies jedoch häufig dann, wenn sich darin nur ein einziger Jungvogel befindet, und das ist eigentlich immer der junge Kuckuck.

In einer Reihe von Experimenten zeigten Langmore und Mitarbeiter, dass die Staffelschwänze den jungen Kuckuck letztlich doch als fremd erkennen und stellen damit eine berühmte Hypothese von Lotem in Frage.(23) Als Unterscheidungskriterium dienen dabei weder das Aussehen noch die Größe des jungen Kuckucks. Stattdessen zählt, ob sich nur ein einziger Jungvogel im Nest befindet und ob dieser auch noch einen fremden Bettelruf hat. Trifft beides zu, dann wird das Nest aufgegeben. Die meisten jungen Rotschwanzkuckucke lernen früh, die Bettelrufe von Wirtsnestlingen mehr oder weniger gut zu imitieren, was jungen Bronzekuckucken nicht gelingt. Deshalb wurden letztere im Experiment immer aufgegeben. Umgekehrt werden Staffelschwanz-Einzelkinder, die den richtigen Bettelruf haben, praktisch nie verlassen.(19, 22)

Staffelschwänze sind flexibel. Ältere, d. h. erfahrene Weibchen lehnen Jungkuckucke viel effektiver ab und reagieren umso empfindlicher, je häufiger sie Kuckucke in ihrem Lebensraum antreffen. So werden Erkennungsfehler bzw. Fehlentscheidungen seltener. Die Nachahmung der Bettelrufe durch den Jungkuckuck und das akustische Unterscheidungsvermögen der Wirte gehören in diesem Exempel zu den Instrumenten des evolutionären Wettrüstens der beiden Kontrahenten. Weil die Parasitierungschancen der Kuckucke um so geringer werden, je länger sich diese in den Staffelschwanzterritorien aufhalten, wandern individuelle Kuckucksweibchen alle zwei bis sechs Wochen weiter und suchen sich neue Brutreviere.(20)

Da die meisten Wirtsvögel des europäischen Kuckucks Zugvögel sind und nur eine kurze Brutzeit haben, liegt bei ihnen das Schwergewicht der Ablehnung des Parasiten in der Eiphase. So können sie den Schaden noch halbwegs begrenzen, denn ihr Zeitfenster für Nachgelege und Zweitbruten ist schmal. Die australischen Prachtstaffelschwänze haben dagegen das Wettrüsten in der Eiphase eigentlich verloren. Trotzdem ist es für sie lohnend, den Parasiten erst während der Nestlingsphase abzulehnen. Ihre Brutzeit dauert bis zu sechs Monate, während der sie bis zu drei Bruten aufziehen können. Falls sie versehentlich ein arteigenes Einzelkind verlassen haben sollten, dann können sie diesen Fehler anschließend durch ein Nachgelege kompensieren. Deshalb sind die Kosten einer fälschlichen Ablehnung gering. Den Rotschwanz- und Bronzekuckucken ist es zwar gelungen, die Abwehr ihrer Staffelschwanz-Wirte während der Eiphase weitgehend auszuschalten, doch während der Nestlingsphase "schlagen diese zurück".(19)



Wo hat es der junge Parasit am besten?

Nicht immer lassen es Form und Anlage von Wirtsnestern zu, dass sich der junge Kuckuck seiner Nestgeschwister entledigen kann, so sehr er sich auch anstrengt. Schon in den tief ausgeformten Drosselrohrsängernestern ist es für ihn viel anstrengender als in den flacheren Teichrohrsängernestern, Eier bzw. kleine Rohrsänger über den Nestrand zu schieben.(14) In den Höhlennestern des Gartenrotschwanzes, dem häufigsten Kuckuckswirt in Nordeuropa, gelingt es jedoch nur 54 % der Jungkuckucke, Eier und Nestgeschwister aus dem Nest zu befördern. Die andere Hälfte der Kuckucke muss die elterliche Fürsorge mit Rotschwanzjungen teilen. In solcher Konstellation schaffen es die Jungkuckucke auch nicht, ihre Stiefgeschwister durch vermehrtes Betteln oder durch den Größenunterschied zu übervorteilen.(26, 12) In experimentell erzeugten Mischbruten (ein Kuckuck und vier Rotschwänze) erhalten die Parasiten weniger Futter und wachsen langsamer als wenn sie allein im Nest sitzen. Sie fliegen vier Tage später aus und haben dabei ein um 30 % geringeres Gewicht. Die Hälfte von ihnen überlebt das nicht, während 95 % der zusammen mit ihnen aufgewachsenen Gartenrotschwänze zum Ausfliegen kommen. Mehr noch, es ist anzunehmen, dass die Mortalität der geschwächten Jungkuckucke auch nach dem Verlassen des Nestes hoch ist. Selbst bei einem größeren Wirt wie dem Drosselrohrsänger wuchsen die Jungkuckucke in experimentellen Mischbruten gemeinsam mit Rohrsängerjungen langsamer und blieben leichter.(13) Es ist für den jungen Parasiten also absolut lebensnotwendig, seine Stiefgeschwister auszuschalten und als Einzelkind aufzuwachsen. Demgegenüber sind die Kosten des Alleinseins durch evtl. verminderte Fütterungsaktivität vernachlässigbar.

Obwohl der Gartenrotschwanz in Nordeuropa der häufigste Kuckuckswirt ist, hat der Kuckuck bei diesem Wirt nur einen geringen Bruterfolg. In Südmähren, wo vier Rohrsängerarten nebeneinander vorkommen und allesamt vom Kuckuck parasitiert werden, hat der Kuckuck beim Sumpfrohränger einen Bruterfolg von nur 4 %, beim Teichrohrsänger einen von 16 % und beim Drosselrohrsänger einen von 30 %. Der niedrige Bruterfolg bei Sumpfrohrsängern erklärt sich durch deren Eiablehnung in 72 % der Fälle. Der hohe Bruterfolg beim Drosselrohrsänger ist auf den höheren Ausfliegeerfolg der Jungkuckucke bei diesem Wirt zurückzuführen. Junge Kuckucke wachsen in den Nestern der größeren Drosselrohrsänger schneller und sind zum Zeitpunkt des Ausfliegens schwerer als solche, die bei den kleineren Teichrohrsängern groß werden. Bei einem derartigen Fitnessvorteil ist es nicht verwunderlich, dass in dem mährischen Untersuchungsgebiet die Parasitierungsrate bei Drosselrohrsängern dreimal so hoch liegt wie bei Teichrohrsängern.(17, 18)

Die Zusammenschau aller dieser faszinierenden Studien zeigt klar, dass das evolutionäre Wettrüsten zwischen Parasit und Wirt keinesfalls auf die Eiphase beschränkt bleibt, sondern viel weiter gespannt ist. Auch auf der Nestlingsebene gibt es ein dramatisches Wettrüsten, in dessen Ausgestaltung sowohl Parasit als auch die Wirte bislang ungeahnte Mechanismen anwenden. Dabei muss der Kuckuck, wenn er überleben will, seinem Wirt immer um eine Schnabellänge voraus sein. Die Anpassungen und Gegenanpassungen in diesem koevolutionären System sind sehr komplex und noch lange nicht verstanden. Deshalb garantieren sie auch in Zukunft eine attraktive Herausforderung an die Kreativität und experimentelle Innovation von Evolutionsbiologen.


Hauptberuflich ist Dr. Karl Schulze-Hagen Arzt. In seiner Freizeit beschäftigt er sich seit über 40 Jahren mit der Biologie und Ökologie von Rohrsängern. Unausweichlich hat er deshalb auch oft mit dem Kuckuck zu tun. Weitere Arbeitsthemen sind die Geschichte der Ornithologie und der Landschaft.

Kaspar Delhey, Juha Haikola, Bernd Leisler, Oldrich Mikulica, Jarkki Rutila, Bard Stokke und Keita Tanaka haben bei der Entstehung des Beitrages beziehungsweise mit Bildmaterial großzügig geholfen.


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Literatur zum Thema:

(1) Brooke, M. de L. & N. B. Davies (1989): Provisioning of nestling cuckoos Cuculus canorus by reed warbler Acrocephalus scirpaceus hosts. Ibis 131: 250-256.

(2) Davies, N. B. (2000): Cuckoos, cowbirds and other cheats. Poyser. London.

(3) Davies, N. B. & M. de L. Brooke (1988): Cuckoos versus reed warblers: adaptations and counteradaptations. Anim. Behav. 36: 262-284.

(4) Davies, N. B. & M. de L. Brooke (1989): An experimental study of co-evolution between the cuckoo Cuculus canorus and its hosts. II Host egg markings, chick discrimination and general discussion. J. Anim. Ecol. 58: 225-236.

(5) Davies, N. B., R. M. Kilner & D. G. Noble (1998): Nestling cuckoos Cuculus canorus exploit hosts with begging calls that mimic a brood. Proc. R. Soc. Lond. B 265: 673-678.

(6) Davies, N. B., J. R. Madden, S. H. M. Butchart & J. Rutila (2006): A host-race of the cuckoo Cuculus canorus with nestlings attuned to the parental alarm calls of the host species. Proc. R. Soc. London B 273: 693-699.

(7) Grim, T., O. Kleven & O. Mikulica (2003): Nestling discrimination without recognition: a possible defence mechanism for hosts towards cuckoo parasitism? Proc. R. Soc. Lond. B 270 (Suppl. biology letters): 1-3.

(8) Grim, T. (2006): Cuckoo growth performance in parasitized and unused hosts: not only host size matters. Behav. Ecol. Sociobiol. 60: 716-723.

(9) Grim, T. (2007a): Experimental evidence for chick discrimination without recognition in a brood parasite host. Proc. R. Soc. B 274: 373-381.

(10) Grim, T. (2007b): Equal rights for chick brood parasites. Ann Zool Fennici 44: 1-7.

(11) Grim, T. (2007c): Wing-shaking and wing-patch as nestling begging strategies: their importance and evolutionary origins. J. Ethol. 26: 9-15.

(12) Grim, T., J. Rutila, P. Cassey & M. E. Hauber (2009): Experimentally constrained virulence is costly for common cuckoo chicks. J. Ethol. 115: 14-22.

(13) Hauber, M. E. & C. Moskat (2008): Shared parental care is costly for nestlings of common cuckoos and their great reed warbler hosts. Behav. Ecol. 19: 79-86.

(14) Honza, M., K. Voslajerova & C. Moskat (2007): Eviction behaviour of the common cuckoo Cuculus canorus chicks. J. Avian Biol. 38: 385-389.

(15) Kilner, R. M. & N. B. Davies (1999): How selfish is a cuckoo chick? Anim. Behav. 58: 797-808.

(16) Kilner, R. M, D. G. Noble & N. B. Davies (1999): Signals of need in parent-offspring communication and their exploitation by the common cuckoo. Nature 397: 667-672.

(17) Kleven, O., A. Moksnes, E. Roskraft & M. Honza (1999): Host species affects the growth rate of cuckoo (Cuculus canorus) chicks. Behav. Ecol. Sociobiol. 47: 41-46.

(18) Kleven, O., A. Moksnes, E. Roskraft, G. Rudolfsen, B. G. Stokke & M. Honza (2004): Breeding success of common cuckoos Cuculus canorus parasitizing four sympatric species of Acrocephalus warblers. J. Avian Biol. 35: 394-398.

(19) Langmore, N. E., S. Hunt & R. M. Kilner (2003): Escalation of coevolutionary arms race through host rejection of brood parasitic young. Nature 422: 157-160.

(20) Langmore, N. E. & R. M. Kilner (2007): Breeding site and host selection by Horsfield's bronce-cuckoos, Chalcites basalis. Anim. Behav. 74: 995-1004.

(21) Langmore N. E., G. Maurer, G. J. Adcock & R. M. Kilner (2008): Socially aquired host-specific mimicry and the evolution of host races in Horsfield's bronze-cuckoo Chalcites basalis. Evolution 62: 1689-99.

(22) Langmore N. E., A. Cockburn, A. F. Russell & R. M. Kilner (2009): Flexible cuckoo chick-rejection rules in the superb fairy-wren. Behav. Ecol. 20: 978-984.

(23) Lotem, A. (1993): Learning to recognize nestlings is maladaptive for cuckoo Cuculus canorus hosts. Nature 362: 743-745.

(24) Madden, J. R. & N. B. Davies (2006): A host-race difference in begging calls of nestling cuckoos Cuculus canorus develops through experience and increased host provisioning. Proc. R. Soc. B 273: 2343-2351.

(25) Noble, D. G., N. B. Davies, I. R. Hartley & S. B. McRae (1999): The red gape of the nestling cuckoo Cuculus canorus is not a supernormal stimulus for three common hosts. Behav. 136: 759-777.

(26) Rutila, J., R. Latja & K. Koskela (2002): The common cuckoo Cuculus canorus and its cavity nesting host, the redstart Phoenicurus phoenicurus: a peculiar cuckoo-host system? J. Avian Biol. 33: 414-419.

(27) Schulze-Hagen, K., B. G. Stokke & T. R. Birkhead (2009): Reproductive biology of the European Cuckoo Cuculus canorus: early insights, persistent errors and the aquisition of knowledge. J. Ornithol. 150: 1-16.

(28) Soler, M. (2009): Co-evolutionary arms race between brood parasites and their hosts at the nestling stage. J. Avian Biol. 40: 237-240.

(29) Tanaka, K. D., G. Morimoto & K. Ueda (2005): Yellow wing-patch of nestling Horsfield's hawk cuckoo Cuculus fugax induces miscognition by hosts: mimicking a gape? J. Avian Biol. 36: 461-464.

(30) Tanaka, K. D. & K. Ueda (2005): Horsfield's hawk-cuckoo nestlings simulate multiple gapes for begging. Science 308: 653.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 12/2009
56. Jahrgang, Dezember 2009, S. 449 - 455
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2009