Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → BIOLOGIE

ORNITHOLOGIE/145: Gesang der Vögel als Evolutionsfaktor (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 208, Mai 2009
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gesang der Vögel als Evolutionsfaktor
10 Jahre Zusammenarbeit mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften

Von Frank Erdnüss


Wie neue Arten entstehen, hat Naturwissenschaftler schon immer beschäftigt, aber eine allumfassende Antwort wurde bislang nicht gefunden. In Zusammenarbeit mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften haben Mainzer Zoologen neue Singvogelarten in abgelegenen Gebirgsregionen Chinas entdeckt. Die Forscher bestätigten damit erneut, dass chinesische Gebirge Gebiete mit besonders hoher biologischer Vielfalt darstellen. Wie konnte es zu dieser hohen Artendiversität kommen?


*


In der Natur ist nichts stabil und auf Dauer angelegt - betrachtet man nur die adäquaten Zeiträume, in denen Veränderungen ablaufen. Auch die Gesänge der Vögel machen vor dieser Erkenntnis nicht halt; sie ändern sich, über kurze oder längere Perioden. Da Lautäußerungen ein wichtiges Kommunikationsmittel für Vögel sind, halten sie Populationen zusammen oder trennen diese. Ändern sich die Gesänge, wird die Verständigung von Ort zu Ort immer schwieriger und sie kann zwischen geografisch getrennten Populationen schließlich ganz abbrechen - ein entscheidender Augenblick im Verlauf der Evolution von Vogelarten. Wo lässt sich nun Kommunikation zwischen Vogelpopulationen untersuchen? Prinzipiell natürlich überall, wo es Vögel gibt, also auch bei uns in Mitteleuropa. Besonders spannend ist diese Forschung aber dort, wo die Gebirgsbildung reich und komplex ist und wo die Eiszeiten die Fauna und Flora weniger nachhaltig als in Europa gestört haben. China erfüllt diese Bedingungen besonders gut. Dort wechseln Gebirge mit Tiefländern, das Klima und somit die Vegetation reichen von kühl gemäßigt bis tropisch - ideale Voraussetzungen also, um Lautäußerungen kleiner Vogelpopulationen auf isolierten Gebirgsgipfeln zu untersuchen.

Entsprechend erfreut ist der Leiter der Mainzer Forschergruppe, Prof. Dr. Jochen Martens, über die seit mehr als zehn Jahren andauernde Kooperation mit chinesischen Kollegen. "Es war ein glücklicher Zufall, dass ich im Januar 1999 Prof. Dr. Sun Yue-Hua, einen renommierten Fasanenforscher von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking, für einige Tage in Mainz zu betreuen hatte. Wir "passten" gut zusammen und Prof. Sun berichtete, dass es an Spezialisten zur Erforschung der chinesischen Kleinvögel mangele", so Martens. Martens' Team verfügte schon damals über langjährige Felderfahrungen mit Kleinvögeln in vielen Teilen Asiens, jedoch nicht in China, und so erwies sich die Zusammenarbeit für beide Seiten als äußerst lohnend. "Denn für einen Europäer ist es nahezu unmöglich, die über 4.000 Meter hohen Gebirgssysteme ohne Kenntnis der Landessprache und ohne logistische Hilfe zu erreichen und dann auch noch die 'richtigen' Biotope zu finden", berichtet der Biologe. Erste gemeinsame Erkundungen in Suns Versuchsgebieten verliefen so erfolgreich, dass ein gemeinsames Forschungsprojekt mit dem Titel "Evolution, behaviour and ecology of the endemic birds in the forests of the Qinghai-Tibet Plateau" ins Leben gerufen wurde. Seitdem fanden fast alljährlich gemeinsame Forschungsaufenthalte statt.

Ziel dieser Expeditionen ist vor allem, in möglichst vielen Gebirgssystemen den Gesang von möglichst vielen dort lebenden Singvögeln zu dokumentieren und den Sängern im Freiland Blutproben zu entnehmen. Außerdem werden Belegvögel aus den verschiedenen Populationen gesammelt. Die akustischen Merkmale lassen sich sodann mit dem aus dem Blut gewonnenen Erbgut der einzelnen Individuen in Beziehung setzen und später auch mit äußeren Gefiedermerkmalen abgleichen. "Die Fülle an Datenmaterial aus mittlerweile elf Provinzen ermöglicht profunde Einblicke in das Evolutionsgeschehen südostasiatischer Vögel", erläutert Martens und ergänzt: "Wir wissen inzwischen, dass das Artenspektrum der dortigen Singvögel deutlich größer ist, als bisher angenommen wurde. Bei Laubsängern, Baumläufern, Goldhähnchen, Meisen und Karmingimpeln, die teilweise auch bei uns in Mitteleuropa vorkommen, existieren zum Beispiel "kryptische" Arten. Sie sind nach äußeren Merkmalen so gut wie nicht von ihren nahen Verwandten zu unterscheiden. Erst die genetischen und akustischen Analysen, die meist in Form von Diplom- und Doktorarbeiten in Mainz ausgeführt wurden, brachten uns darauf, dass es sich um eigenständige Arten handelt."

Der Gesang ist also ein wesentlicher Faktor für den Artbildungsprozess bei Vögeln. Ein lebender Vogel vermag uns gleichsam "vorzusingen", welche eigenständige Art er vertritt. Äußerliche Unterschiede, die bei vielen anderen Organismen zur Unterscheidung der Arten dienen, müssen bei nahe verwandten Vogelarten nicht zwingend erkennbar sein. Daher entdeckten die Wissenschaftler neue Arten mittels der Lautäußerungen, die für die Vögel selbst wesentlich sind. Darüber hinaus lassen sich inzwischen allgemeine geografische Differenzierungsmuster erkennen, die in China und seinen Nachbargebieten zur Artentstehung führten; sie beziehen auch die nahe gelegene Himalaya-Fauna mit ein. Weil diese Differenzierungen bereits im Spättertiär und Pleistozän (ungefähr zwei Millionen Jahre vor heute) einsetzten, schließen sich Fragen zum damaligen Klima und zur Vegetationsverteilung an. So könnten Populationen voneinander getrennt worden sein, indem eine bis dahin eisfreie Bergkette durch klimatische Abkühlung vergletscherte und von den Tieren nicht mehr überwunden werden konnte. Dadurch entstanden 'Waldinseln', die getrennte genetische Entwicklungen derart isolierter Populationen einleiteten. "Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Vielfalt an lokalen Formen in chinesischen Gebirgen", sagt Martens.


*


Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 208, Mai 2009, Seite 16-17
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2009