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HINTERGRUND/210: Wieso zum Teufel gibt es überhaupt Musik? - Interview mit Martin Rohrmeier (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 2 vom 3. Februar 2015

Wieso zum Teufel gibt es überhaupt Musik?

Das Interview führte Martin Morgenstern


Mit Martin Rohrmeier stellt das UJ den neunten der Open Topic-Professoren vor. Seit 1. September 2014 hat er die Professur für Systematische Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Musikkognition inne.


UJ: Martin Rohrmeier, mehr als 1300 Bewerbungen gingen letztes Jahr für die zehn neuen Professuren der TU Dresden ein, die "open topic", also mit völlig offenem Forschungsthema, ausgeschrieben wurden. Sie haben die Auswahlkommission überzeugt - mit welchen Themen?

Martin Rohrmeier: Mein Forschungsschwerpunkt umfasst die Kognitionsforschung im Bereich der Musik. In Deutschland ist dieser Zweig bisher noch nicht so häufig vertreten. Das Spektrum der Kognitionswissenschaften wird auf Musik angewendet: nicht die Psychologie, nicht die Informatik, nicht die Biologie beschäftigt sich mit ihr, sondern ein ganzes interdisziplinäres Feld. Genau diese Interdisziplinarität reizt mich. Da spielt zum Beispiel auch die Philosophie oder das Thema "Musik und Evolution" eine wichtige Rolle. Eine der Grundfragen lautet: Wie konnte es eigentlich überhaupt dazu kommen, dass wir Musik machen? Um mit meinem Lehrer Ian Cross zu fragen, wieso zum Teufel gibt es überhaupt Musik?


UJ: Auf welchem Wissensstand sind wir in dieser Frage heute? Haben die einzelnen Wissenschaftsbereiche unterschiedliche Antworten parat?

Martin Rohrmeier: In den letzten Jahren gab es eine Art Rückbesinnung auf diese Grundfrage. Die Debatte wurde angeheizt durch die provokative Aussage von Steven Pinker, einem Forscher an der Harvard University: Er stellte die Gegenthese auf, dass Musik "auditory cheesecake" sei, dass sie - überspitzt gesagt - "ganz nett" sei, jedoch von unserem Planeten verschwinden könne, ohne dass es einen Unterschied machte oder jemanden kümmerte. Diese Provokation hat sich letztlich als sehr fruchtbar erwiesen und in den letzten Jahren eine ganze Serie von Publikationen losgetreten.


UJ: Welche Denkansätze würden Sie als wichtig benennen?

Martin Rohrmeier: Wo die Wahrheit liegt, ist gar nicht so einfach herauszufinden. Es gibt jedoch eine Reihe von Ansätzen: von Archäologen, die sich mit menschlicher Frühgeschichte beschäftigen und so zur "Frühgeschichte der Musik" forschen. Es ist doch erstaunlich, dass eines der frühesten menschlichen Objekte, die wir kennen, bereits mit Musik zu tun hat! Oder man schaut in die Neurowissenschaft und betrachtet die großen Überlappungen zwischen Musik- und Sprachverarbeitung. Da stellt sich die Frage, ob Musik nicht nur ein nebensächliches Phänomen ist, sondern vielleicht sogar eine entscheidende evolutionäre Bedeutung hatte. Hier gibt es Hypothesen in jede Richtung: Hat sich die Musik aus der Sprache oder eben sogar die Sprache aus der Musik entwickelt, oder entstanden beide gleichzeitig aus einer gemeinsamen Vorform?


UJ: Wie könnte man als Forscher hier ansetzen?

Martin Rohrmeier: Nun, wenn wir miteinander reden, machen wir genau genommen auch musikalische Dinge. Die Betonungen der Wörter in einem Satz fallen auf ein metrisches Raster, wenn wir im Gespräch interagieren, gibt es genaue Regeln zum Timing. Wir kennen das beim Telefonieren: nach einer Gesprächspause setzen wir plötzlich gleichzeitig ein, im schlimmsten Fall hören wir sofort wieder auf, wieder eine Pause, und dann setzen wir schon wieder gleichzeitig ein. Rhythmus ist nicht nur essenziell für musikalische, sondern eben auch für sprachliche Interaktion. Ohne Rhythmus funktioniert es nun mal nicht!

Davon abgesehen betont Ian Cross die soziale Ebene von Musik und deren Rolle in der Evolution. In allen Kulturen der Welt gibt es Wiegenlieder, und diese sind essenziell für den Umgang von Mutter und Kind sowie für die emotionale Frühentwicklung. Musik leistet darüber hinaus einen erheblichen Beitrag für die soziale Interaktion, sie stärkt die Gruppe. Es kommen also Evidenzen aus verschiedenen Disziplinen zusammen. Ein weiterer Punkt: Wenn Musik und kognitive Fähigkeiten stark korrelieren, kann man davon ausgehen, dass das Ausüben von Musik Vorteile für die kognitive evolutionäre Entwicklung hat. Solche gemischten Faktoren bilden ein "network of evidence", wie es Henkjan Honing nennt. Der Schlüsselbegriff dabei ist die Musikalität.

Musik - oder zumindest vormusikalische Strukturen - finden wir doch auch bei Vögeln. Was macht Musik zu einem menschlichen Phänomen?

Es gibt eine ganze Reihe biologischer Forschungen, die - vom Begriff der Musikalität ausgehend - musikalische Fähigkeiten bei Tieren untersuchen. Die nächste Jubiläumsausgabe der renommierten Zeitschrift Philosophical Transactions of the Royal Society (Biological Sciences) wird sich rein mit dem Thema Musik befassen. Es ist wichtig, den Begriff "Musik" nicht zu eng anzusetzen: Wenn man Musik nicht vorab eng auf den Menschen bezogen definiert, gibt es zahllose Phänomene und Kommunikationsformen bei Tieren, die in ihrer Form und Interaktion eher der Musik als einer "Sprache" zuzuschreiben sind. Überdies sind bestimmte emotionale "Codes" in der Kommunikation über verschiedene Spezies hinweg ähnlich. Auch in menschlicher Sprache und Musik werden ähnliche Mittel benutzt, um beispielsweise Aggression, Trauer oder Schmerz zu kommunizieren. Weiterhin ist Kreativität ein sehr spannendes Thema, bei dem sich die Forschung zum Vogelgesang Anregungen in der Musikforschung holt. Ein spannendes Feld, in dem es noch viel zu entdecken gibt.


UJ: Mit welchen Forschungsfragen werden Sie sich nun zukünftig am Institut für Kunst- und Musikwissenschaft beschäftigen?

Martin Rohrmeier: Ich werde stark mit empirischen und formalen Fragestellungen und Methoden arbeiten. Ein Schwerpunkt meiner bisherigen Forschung besteht in der Frage zum impliziten Erwerb und der Verarbeitung von Musik. Gut, wir sind also in der Lage, Musik zu verstehen und zu verarbeiten - und der größte Teil passiert automatisch, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Im Gegensatz zum Spracherwerb passiert in der Musik aber ein größerer Anteil passiv, weniger interaktiv. Daraus ergibt sich eine interessante und zugleich schwere Frage: Wie schaffen wir es eigentlich, rein aus dem Zuhören - und ohne großes Feedback - die relevanten Strukturen des gehörten Musikstücks zu begreifen und zu lernen?


UJ: Neben der Frage, warum es eigentlich Musik gibt, fragen Sie sich also, wie das Hören, Verstehen und Lernen funktioniert?

Martin Rohrmeier: Ja, es geht um musikalische Kompetenz, und wie wir sie erwerben, wie wir musikalische Strukturen "lernen". Wie kann es sein, dass Probanden in der Interaktion mit Musik bestimmte Fähigkeiten erwerben, ohne es zu bemerken? In Experimenten sagen sie oft, dass sie bei bestimmten musikalischen Fragen einfach geraten hätten; aber dennoch liegen sie mit ihren Ergebnissen signifikant über dem Zufall - und das nach sehr kurzer Zeit. Dieses Paradigma, das sogenannte "implizite Lernen" und das implizite, das heißt unbewusste Wissen ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Daraus entwickeln sich weitere Fragen, etwa wie musikalische Erwartung, wie Vorhersage beim Hören oder Musizieren funktioniert. Weiterhin kreisen meine Forschungsfragen darum, verschiedene aus der Linguistik bekannte Ansätze und Beschreibungsformen auf Musik zu übertragen und zu erweitern. Das ist meine dritte Forschungsachse: Musiktheorie mit Mitteln der Linguistik zu formalisieren, die "musikalische Syntax" zu verstehen und zu sehen, wie man sich die Regeln dafür erarbeitet, und wie man seine Kenntnisse dann formal ausdrücken kann. Damit wird es möglich, formale und kognitive Zusammenhänge zwischen Musik und Sprache zu beschreiben und zu verstehen, welche Strukturen beim impliziten Musikwissen abgebildet sind und wie sie das Hören beeinflussen.


UJ: 2014 haben drei Neurowissenschaftler den Nobelpreis für Medizin gewonnen. Sie erforschten, banal gesagt, die Frage, wie wir wissen, wo wir sind, wie Raumwahrnehmung funktioniert. Welche grundlegenden Fragen stellen sich Kognitionswissenschaftler im Bereich der Musikwahrnehmung?

Martin Rohrmeier: Ich stand vor zwei Jahren vor der Aufgabe, gemeinsam mit meinem Londoner Kollegen Marcus Pearce ein Überblickspapier dazu zu schreiben: "Music Cognition and the Cognitive Sciences". Wir fragten: Wo steht das Forschungsfeld, wie können wir jetzt eigentlich weitermachen? Von Fragen wie etwa der, warum es Musik gibt, oder wie sie funktioniert, kann man viel ableiten: Musik ist ein hervorragendes Mittel um herauszufinden, wie der Geist funktioniert. Musik hilft, wenn man komplexe Strukturen erforscht, ohne dass die Semantik dazwischenfunkt. Ebenso zeichnen sich in der aktuellen Diskussion viele Anhaltspunkte ab, dass Musik eine entscheidende Rolle in der menschlichen Evolution und Frühgeschichte gespielt hat. Überspitzt gesagt: solange wir nicht wissen, warum wir Musik machen, verstehen wir eines der wichtigsten Merkmale des Menschen gar nicht.


UJ: Wie wird nun Ihre Lehr- und Forschertätigkeit am Institut in den nächsten Monaten aussehen?

Martin Rohrmeier: Einer der ersten Punkte, die ich angehen möchte: Im kommenden Semester werden wir mehrere Gastvorträge und Besuche von internationalen Forschern haben. Generell strebe ich eine starke interdisziplinäre Vernetzung innerhalb und außerhalb der Fakultät an. Ich war sehr positiv überrascht festzustellen, wie viele Forscher es bereits an der TU Dresden gibt, die etwas mit dem Thema Musik zu tun haben und auch mit wissenschaftlichen Aspekten von Musik arbeiten oder daran interessiert sind: zum Beispiel in der Mathematik, der Kommunikationsakustik, der Informatik, der Psychologie oder auch der Linguistik. Darüber hinaus gibt es natürlich die Hochschule mit exzellenten Professoren und natürlich auch das Institut für Musikermedizin. Die breite Vernetzung unseres Instituts liegt mir am Herzen. Was ich dabei spannend finde: Von Ian Cross habe ich gelernt, wie ein fruchtbares Institut aussehen kann. Er hat in Cambridge alle, die aus verschiedenen Perspektiven an Musik interessiert waren, zusammengeholt und betreibt das dortige Institut durchweg interdisziplinär. So beforschen meine Kollegen dort etwa Projekte von der musikalischen Archäologie bis hin zur Physik des "Stradivari-Klangs"... Diese interdisziplinäre Breite über traditionelle Grenzen von Geistes- und Naturwissenschaften hinweg finde ich ein sehr erfolgversprechendes Modell, und möchte es auch gern in Dresden verwirklichen.


UJ: Musikwissenschaft ist in Deutschland bis heute ein Fach, das sich stark historisch-geisteswissenschaftlich versteht. Sie hingegen haben nun eine Professur der "Systematischen Musikwissenschaft" inne. Was sind da die fachlichen Perspektiven, und welche ganz konkreten Anwendungsbereiche können wir vielleicht aus den Forschungsfragen ableiten?

Martin Rohrmeier: Musikwissenschaft ist ja bereits aufgrund des Gegenstandes interdisziplinär: weil Musik eben aus dermaßen vielen fachlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Davon kann und sollte das Fach profitieren. Da sind historische Zusammenhänge genau so wichtig wie soziologische, ethnologische, psychologische, biologische, mathematische usw. "Systematisch" soll hier keinesfalls heißen, in Opposition zur Geisteswissenschaft zu treten. Musikwissenschaft verstehe ich als ein Fach, in dem es darum geht, Musik wissenschaftlich zu erforschen. Dabei müssen sich sozusagen die Methoden flexibel den Fragestellungen anpassen und gegenseitig ergänzen.

Meinen ersten Abschluss habe ich in Philosophie, was meinen Zugang zur Musik tief beeinflusst. Ich denke zum Beispiel, zu verstehen, wie das Hören oder wie Musikwahrnehmung funktioniert, ist auch eine zutiefst philosophische Frage. Wenn es gelänge, Musiktheorie sauber zu formalisieren, könnte man überlegen, einen Avatar zu bauen, der mit Musikern improvisieren und neue Formen musikalischer Interaktion möglich machen kann. Dabei ist es spannend, dass Kreativität Kleinkindern spielend leicht fällt, während sie sich der philosophischen wie auch kognitiven Verständnis stets - und gleichsam per definitionem - entzieht. Auch in der Medizin gäbe es eine ganze Reihe von Anwendungen, zum Beispiel, wie man mit Hilfe von Musik Heilungsprozesse unterstützen oder etwas alltägliches wie Zahnarztbehandlungen erträglicher machen könnte. Bei alldem hilft das kognitive Verstehen von Musik und Sprache. Wären das genug "konkrete" Themen für Sie?


UJ: Auf jeden Fall. Vielen Dank für das Gespräch!

*

Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 26. Jg., Nr. 2 vom 03.02.2015, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
Telefon: 0351/463-328 82
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2015

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