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HINTERGRUND/188: Richard Wagner nach 200 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013

Der umstrittenste Künstler der Deutschen
Richard Wagner nach 200 Jahren

Von Hanjo Kesting



Über keinen Künstler der deutschen Kulturgeschichte ist so viel geschrieben und veröffentlicht worden wie über Richard Wagner. Seine Wirkung in den 200 Jahren seit seiner Geburt ist ein großes kulturgeschichtliches Kapitel. Er hat immer wieder Kontroversen entfesselt und blieb jederzeit gegenwärtig und aktuell. Eines dürfte seinem Werk kaum je widerfahren: dass es an Faszination verliert und zum bloßen Bildungsgut erstarrt.

"Keiner scheint so recht zu wissen, was er anfangen soll mit diesem Jubiläum. Es gibt einfach nichts Neues zu sagen über Richard Wagner. Der Fall ist ausgeforscht. Alle Quellen liegen auf dem Tisch. Alle Werke sind durchdiskutiert, die Fronten erkaltet, und der alte Streit, wie antisemitisch ein Künstler sein dürfe, ist ausgefochten." Die überraschenden Sätze waren zum Auftakt des Wagner-Jahres in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Januar zu lesen. Die Wochenzeitung Die Zeit füllte schon tags zuvor volle sieben Seiten ihres Feuilletons mit dem Thema Wagner - viel Platz für einen Künstler, über den es nichts Neues mehr zu sagen gibt. Am Anfang stand ein Hymnus auf den Bayreuther Meister: "Wagner", hieß es da, "kann Menschen verändern, eruptiver als Mozart, sinnlicher als Beethoven, handfester als Bach. Wagner kann überwältigen, Besitz ergreifen, allein durch die Länge und Lautstärke seiner Musik. (...) An seinem Werk könnten wir üben, was uns schmerzlich abhanden gekommen ist: wieder Partei zu ergreifen, mit Herz und Hirn ein Bekenntnis abzulegen."

Völlig offen blieb hier die Frage: Bekenntnis wozu? Partei ergreifen wofür? Wenn Wagner die Menschen verändert oder überwältigt, dann möchte man doch wissen, in welcher Weise er das tut. Simon Rattle, der englische Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, beschrieb sein Wagner-Erlebnis im Zeit-Feuilleton mit den Worten: "Als ich meinen ersten Tristan dirigierte, stand ein Eimer neben dem Pult: Ich hatte das Gefühl, das ist das Tollste, Irrste, was ich je erlebt habe - und gleich muss ich mich übergeben." Man möchte dazu Nietzsches Schrift Der Fall Wagner zitieren: "Wagner ist ein großer Verderb für die Musik. Er hat in ihr das Mittel erraten, müde Nerven zu reizen (...)".

Nietzsche schrieb das vor 125 Jahren, es ist als Wagner-Kritik so wenig überholt wie das Werk Wagners, das hier kritisch untersucht wird. Wagner und Nietzsche: dieses von wechselnden Affekten bestimmte Verhältnis hat für jeden, der tiefer in das Werk des einen wie des anderen eindringen möchte, bis heute nicht an Bedeutung verloren. Und wenn es wirklich zutrifft, dass der Fall Wagner ausgeforscht ist, dann sollten wir wenigstens nicht darauf verzichten, die Ergebnisse dieser Forschungen kennenzulernen, ganz abgesehen davon, dass der Streit, wie antisemitisch ein Künstler sein darf, nie ausgefochten sein kann.


"Zerstören will ich die Ordnung der Dinge..."

Wagners Geburtsjahr war 1813, das Jahr der Völkerschlacht von Leipzig und des siegreichen "Befreiungskrieges" gegen Napoleon. Aber das Wort "Befreiungskrieg" ist Etikettenschwindel und weist in eine falsche Richtung: Nicht um Befreiung ging es, sondern um Restauration, um den Polizeistaat Metternichscher Prägung. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 war er errichtet, nach der Julirevolution von 1830 wurde er weiter verschärft. In diesem historischen Umfeld wuchsen gleich drei bedeutende Dramatiker heran, außer Richard Wagner auch Friedrich Hebbel und Georg Büchner. Und damals kam auch Giuseppe Verdi, der andere große Opernmeister der Epoche, zur Welt, Wagners Antipode, für die italienische Zeit- und Kulturgeschichte nicht weniger repräsentativ und folgenreich als Wagner für die deutsche.

Kulturell und literarisch war es eher eine Zeit des Niedergangs. Die Gipfel der Klassik - Goethe, Schiller, Beethoven - waren noch nah und überragten den Horizont, aber sie verstellten ihn zugleich. Das ganze 19. Jahrhundert stand unter diesem lähmenden, einschüchternden Einfluss der Klassiker, aus dem Komponisten wie Schumann und Brahms oder ein so bedeutender Autor wie Hebbel nie ganz herauszutreten vermochten. Büchner und Wagner waren die Ausnahmen. Der eine, der schon 1837 mit 23 Jahren starb, schrieb den "Hessischen Landboten", der andere kämpfte auf den Dresdner Barrikaden in dem letzten großen Nachhutgefecht der Revolution von 1848. Dadurch geriet er für 13 Jahre ins Exil. War Wagner ein wahrer, ein echter Revolutionär? Über die Frage ist viel gestritten worden, und die Meinungen laufen vielfach überkreuz: zwischen solchen, die den Künstler Wagner dadurch verteidigen wollen, dass sie seine revolutionären Sympathien bagatellisieren, und solchen, denen der Künstler Wagner erst dadurch sympathisch ist, weil er auch ein Revolutionär war. Wieder andere schätzen den Künstler nicht und nehmen schon deswegen seine revolutionären Aktivitäten nicht ernst.

Versuchen wir, uns Wagners Lebenssituation in der Epoche des Vormärz zu vergegenwärtigen. Er war, nach einigen Hungerjahren in Paris, seit 1843 Hof- und Opernkapellmeister in Dresden. Dort komponiert er Tannhäuser und Lohengrin, wie stets sein eigener Textdichter, und entwirft den Nibelungenstoff, ausgehend von Siegfrieds Tod, der späteren Götterdämmerung. Seine Reformideen für Theater und Oper machen ihn bei seinen Vorgesetzten unbeliebt, wachsende Schulden und Verdruss über den Theaterschlendrian gehen einher mit politischer Radikalisierung. Schon in seiner Pariser Zeit hat Wagner die Ideen der Frühsozialisten kennengelernt, Proudhon und Feuerbach gelesen. Deutlich erkennt er die Entfremdung des Menschen von sich selbst, seine Ausbeutung als bloße Arbeitskraft, den Egoismus der besitzenden Klasse, die auch die Kunst in ein bloßes Genussmittel verwandelt. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass erst die Gesellschaft und das politische System verändert und revolutioniert werden müssen, bevor seine revolutionäre Kunst zum Zuge kommen kann. Vier Wochen vor Beginn des Dresdner Aufstands veröffentlicht er einen Aufruf mit dem Titel "Die Revolution", darin die Sätze: "Zerstören will ich die Ordnung der Dinge, die Millionen zu Sklaven von Wenigen, und diese Wenigen zu Sklaven ihrer eignen Macht, ihres eignen Reichtums macht. Zerstören will ich diese Ordnung der Dinge, die den Genuss trennt von der Arbeit, die aus der Arbeit eine Last, aus dem Genusse ein Laster macht, die einen Menschen elend macht durch den Mangel, und den andern durch den Überfluss."

Wagner, der als Künstler alle Grenzen sprengte, war auch in seinem revolutionären Eifer maßlos, eine leicht entzündbare Fackel. Sein revolutionärer Eifer ist auch in seine musikdramatischen Konzeptionen eingegangen und hat sie wesentlich mitbestimmt. Alle großen Werke von Lohengrin über die Meistersinger bis zum Parsifal, auch wenn sie erst Jahre oder Jahrzehnte später ausgeführt und vollendet wurden, sind - mit Ausnahme von Tristan und Isolde - in den drei, vier Jahren vor der Revolution konzipiert worden. Das gilt am stärksten für den Ring des Nibelungen, den man als Kampfansage an die "giftige Geldwirtschaft" (Ludwig Börne) verstehen kann, die am Schluss der Götterdämmerung im Weltenbrand zugrunde geht.


Revolutionär gegen die Aufklärung

Im Zürcher Exil schreibt Wagner seine großen kunsttheoretischen Schriften: Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft, Oper und Drama. Aber er lernt auch die Schriften Schopenhauers kennen und ergibt sich dessen pessimistischer Erlösungsphilosophie, wie so viele enttäuschte Künstler und Intellektuelle nach der gescheiterten Revolution. Bei Wagner erkennt man indes ein Doppelgesicht: hier der tatkräftige, energievolle, von sich selber und seinen künstlerischen Plänen überfließende Willensmensch, dort der leidende, physisch kränkelnde, nach Erlösung lechzende Märtyrer; hier der Arbeitsethiker und Kunstmoralist, der die Askese und notfalls den Umsturz predigt, dort das verschwendungssüchtige Pumpgenie, das sich mit Luxus umgibt, hier der Revolutionär, der der Welt, wenn ihr anders nicht beizukommen ist, eine Feuerkur verschreiben möchte, dort der Sinnenmensch, der Schönheit, Glanz und Licht haben muss und "nicht leben kann auf einer elenden Organistenstelle wie Ihr Meister Bach".

Seine künstlerischen Pläne hat Wagner fast ausnahmslos verwirklicht, seine großen Werke, früh geplant und entworfen, unter Überwindung größter Schwierigkeiten oft erst nach Jahrzehnten vollendet: die Meistersinger nach 23, den Parsifal nach 25, den Ring des Nibelungen nach 28 Jahren. Ein politisches Exil von 13 Jahren Dauer vermochte seine Willenskraft nicht zu brechen. Zu Anfang dieser Zeit außerhalb Sachsens fast unbekannt, stieg er in den Jahren des Exils zu europäischer Berühmtheit auf. Zuletzt verwirklichte Wagner das größte seiner Willenswerke: das Festspielhaus in Bayreuth - ein Vierteljahrhundert, nachdem er in Zürich die erste Idee dazu skizziert hatte.

Der gleiche Widerspruch im Werk! Die Opern von den frühen Feen bis zum späten Parsifal sind voll von oft extremer Bejahung des Willens und streben doch hin zum Erlösungsgedanken, in jener sinnlich-übersinnlichen, mystisch-erotischen Mischung, die ihnen ihre spezifische Aura verleiht. Lebens- und Willensbejahung, Triebhaftigkeit, ewiger Kampf der natürlichen Kräfte auf der einen Seite, Vergeistigung, Verneinung des Willens, Erlösung auf der anderen Seite scheinen sich darin nicht auszuschließen, vielmehr wechselseitig zu bedingen.

Hier liegt auch der wichtigste Unterschied Wagners zu seinem Jahrgangsgenossen Büchner. Wie dieser empfand er das Erstickende der deutschen Verhältnisse, wie dieser las er die Schriften der Frühsozialisten, er stand auf den Dresdner Barrikaden, und sein anarchistisches Potenzial konnte, wie die Tagebücher Cosima Wagners belegen, selbst im Alter immer wieder hervorbrechen. Noch in den letzten Tagen seines Lebens im Februar 1883 in Venedig zitierte er angesichts der vielen unbewohnten Paläste der Lagunenstadt Proudhon. Cosima Wagners Tagebuch hält die Bemerkung fest: "Das ist Eigentum! Der Grund alles Verderbens, Proudhon hat die Sache noch viel zu materiell aufgefasst..." Aber zugleich hatte Wagner das Erbe der Romantik in sich aufgenommen, den romantischen Hang zum Mittelalter, zum Mythos und zum Volkskönigtum, die Abgrenzung und oft auch die Aversion gegen alles Französische, die deutschnationalen Fantasien mit völkischem Bodensatz und offenem Antisemitismus. Wagner war, mit einem Wort, vielleicht ein Revolutionär, aber niemals ein Aufklärer.


Der Sieg des Künstlers über den Ideologen

Der Antisemitismus ist das schwierigste und verstörendste Problem. Da Wagner, nach einem Wort von Liszt, ein "schädelspaltendes Genie" war, sind Mitwelt und Nachwelt mit diesem Antisemitismus sehr unterschiedlich umgegangen. Die Wagner-Biografen, sofern sie nicht selber Antisemiten waren, waren meist bemüht, ihn als bloße Marotte zu verkleinern oder gar zu vertuschen. Seit aber die Nationalsozialisten Wagner zum Kronzeugen ihrer Rassenideologie machten, sind solche Verharmlosungsversuche nicht mehr statthaft. Dass Wagner Antisemit war, ist vielfältig belegt. Eine der widerwärtigsten Streitschriften der Epoche, das Pamphlet Das Judentum in der Musik, stammt von seiner Hand, veröffentlicht 1850 unter dem tückischen Pseudonym "Freigedank", nur ein Jahr nach dem Dresdner Aufstand. Wagner ließ es dabei nicht bewenden. 1869 publizierte er die Schrift erneut, diesmal unter seinem Namen und mit einem rechtfertigenden Vorwort. Auch sonst ließ er bei vielen Gelegenheiten erkennen, dass der Antisemitismus zu einem Fixpunkt seiner Anschauungen, man könnte auch sagen, zu einer finsteren Obsession angewachsen war. Die Tagebücher Cosimas, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod veröffentlicht, bieten dafür zahlreiche Belege, von Wagners Freude über den Tod vieler Juden bei einem Theaterbrand in Wien bis zu dem "heftigen Scherz" (wie Cosima es nennt), es möchten alle Juden in einer Aufführung von Lessings Nathan verbrennen. Im "Lichte historischer Erfahrung" kommt uns dieser "Scherz" unheimlich vor. Wir können unser späteres Wissen nicht abtun, was es doppelt schwer macht, Wagners Antisemitismus mit kritischer "Sachlichkeit" zu begegnen.

Ist er auch in sein Werk eingedrungen? Es gibt darin Figuren wie Alberich, Mime oder Beckmesser, die gelegentlich als Judenkarikaturen interpretiert worden sind. Den Parsifal hat Hartmut Zelinsky vor nun schon 30 Jahren als religiös drapierte Endlösungsfantasie zu enttarnen versucht. Was an solchen Interpretationen befremdet, ist ihre Eindeutigkeit. Wirklich beweisen lassen sie sich so wenig wie sie sich widerlegen lassen. Aber der Künstler Wagner erhebt ständig Einspruch gegen den Ideologen. Man braucht nur ein Textbuch wie das des Rings zu lesen, um sogleich zu erkennen, dass der Dramatiker Wagner, und erst recht der Komponist, allen Figuren - gleichgültig, ob er mit ihnen sympathisiert oder nicht - ein Höchstmaß an dramatischer Gerechtigkeit zukommen lässt. Jeder Akzent der Musik, jeder Laut der Figuren widerlegt eine womöglich vorsätzlich gefasste Verhöhnungsabsicht. Die These sei gewagt, dass Wagner, der Mime und Alberich als Verkörperungen des Ressentiments erfand, sich als Künstler gerade in ihnen, die ja auch Leidende und Zurückgewiesene sind, wiedererkannte. Wagners Werk, und das beweist seinen künstlerischen und geistigen Radius, lässt viele Lesarten und Hörmöglichkeiten zu. So gehört es zu den Paradoxien um Wagner, dass das, was uns von ihm abzustoßen vermag, uns gleichzeitig zwingt, uns immer aufs Neue mit ihm zu beschäftigen.

Was den Komponisten Wagner angeht, so leugnet niemand, der seine musikhistorischen Sinne beisammen hat, die kardinale Bedeutung seiner Musik in der Kunstwelt des 19. Jahrhunderts. Die meisten Komponisten der folgenden Generation kommen in irgendeiner Weise von Wagner her: Gustav Mahler vom Parsifal, Richard Strauss von der Götterdämmerung, Schönberg vom Tristan, Debussy von der Pariser Venusbergmusik des Tannhäuser. Wagner ist der große Knotenpunkt, von dem aus die Fäden in unterschiedliche Richtungen laufen. Und so ist in musikalischer Hinsicht - Melodik, Harmoniekühnheit, Leitmotivik, Ausdrucksreichtum, "Klangrede" - die zu seinen Lebzeiten verbreitete Verspottung Wagners längst verstummt.


Kunst der Unterwerfung

Nicht zuletzt war er ein Erneuerer der Oper, dieser merkwürdig zusammengesetzten, "unmöglichen" Kunstform, und zwar der konsequenteste der Operngeschichte. Die alte Oper war bestimmt von der Eigengesetzlichkeit der musikalischen Formen, vor allem von der Trennung von Rezitativ und Arie. An ihre Stelle tritt bei Wagner ein qualitativ Neues, das mit Begriffen wie "Gesamtkunstwerk" oder "unendliche Melodie" nur unzureichend beschrieben ist. Wagner lehnte es ab, sich einem klassischen Formkanon zu unterwerfen, den er als Fessel empfand. Form, wenn sie überhaupt definiert werden kann, ist beim späteren Wagner der unablässige Wechsel konkreter Gestalten, die sich nach den Notwendigkeiten des Dramas entwickeln, mit der Leitmotivik als strukturbildendem Element. Damit brach Wagner in musikalisches Niemandsland auf, um zu lernen, was für ihn später gleichbedeutend wurde mit kompositorischer Kunst: die Kunst des Übergangs. Für sie kann man seine Ohren niemals genug schärfen.

"Wagner kann überwältigen, Besitz ergreifen, allein durch die Länge und Lautstärke seiner Musik." Bei solchen Phrasen drängt sich die Frage auf: Ist Länge ein Kriterium? Gar Lautstärke? Wagner ist ja auch ein Meister der leisen Töne, der subtilen Nuancen, "der größte Miniaturist der Musik", wie schon Nietzsche ihn genannt hat. Er hat die Sprachfähigkeit der Musik unendlich erweitert, ohne sie zu bloßer Klangmalerei herabzuwürdigen. Um Wagner zu hören, braucht es feine Ohren, nicht solche, die sich durch Schwall und Getöse überrumpeln lassen. Bestimmte Stellen aus seinen Opern sind als Filmmusik benutzt und als Wehrmachtsfanfare missbraucht worden, aber ein Werk wie Die Walküre dauert länger als vier Stunden, und ein Ohr, das sich durch den berühmten "Walkürenritt" überwältigen lässt, ist dadurch noch lange nicht für Wotans langen Monolog gewonnen, den Wagner sich selbst erst mehrfach vorführen musste, um ihn auf dem Theater für möglich zu halten.

Wagner wünschte sich ein naives, durch Bildungsballast oder kulturellen Dünkel unbeschwertes oder unverdorbenes Publikum, aber seine Musik braucht gerade heute, in einer Zeit der Klangteppiche und Klangtapeten, der allgegenwärtigen Musikberieselung, viel mehr an Einübung, Lernwillen, Geduld und Ausdauer, als er es sich hat träumen lassen. Seine Opern werden heute nicht mehr als Reformwerke empfunden, gleichzeitig entwickelt sich das Musiktheater, die Oper als Institution, in eine Richtung, die - gemessen an den Intentionen Wagners - als Rückbildung verstanden werden muss. Wagner schrieb vor 150 Jahren: "Das ist die Kunst, wie sie jetzt die ganze zivilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten (...)" Zu fürchten ist, dass diese Sätze heute noch stärker zutreffen als zu der Zeit, als Wagner sie zu Papier brachte.

Der Kunst des Übergangs verdankt Wagners Musik ihre überwältigende Suggestivkraft, von der er schrieb, dass sie "mit ihren feinen, feinen, geheimnisvoll flüssigen Säften durch die subtilsten Poren der Empfindung bis auf das Mark des Lebens eindringt (...), alles hinwegschwemmt, was zum Wahn der Persönlichkeit gehört, und nur den wunderbar erhabenen Seufzer des Ohnmachtsbekenntnisses übrig lässt." Damit sind wir im innersten Zentrum von Wagners Kunst: Gerade in ihrer höchsten Meisterschaft zielt sie auf das Ohnmachtsbekenntnis des Zuhörers, man könnte auch sagen auf subtile Unterwerfung. Eben das war es, was der junge Nietzsche an Wagner bewunderte und wogegen der spätere Nietzsche sich zur Wehr setzte. Nietzsche war der erste große Kritiker Wagners, an Scharfsinn bis heute unerreicht. Seine Wagner-Kritik wird stets Gültigkeit behalten, genauso wie Wagners Kunst. Darüber werden wir nie hinaus gelangen.


Neue Bücher zum Thema:

- Udo Bermbach: Mythos Wagner. Rowohlt, Berlin 2013, 334 S., 19,95 Euro
- Axel Brüggemann: Genie und Wahn. Die Lebensgeschichte des Richard Wagner. Beltz, Weinheim 2013, 240 S., 16,95 Euro
- Jens Malte Fischer: Richard Wagner und seine Wirkung. Zsolnay, Wien 2013, 19,90 Euro
- Martin Geck: Wagner. Siedler, München 2013, 413 S., 24,99 Euro
- Barry Millington: Der Magier von Bayreuth. Richard Wagner - sein Werk und seine Welt. Primus, Saenstadt 2013, 320 S., 29,90 Euro
- Holger Noltze: Liebestod: Verdi Wagner Wir. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, 448 S., 24,90 Euro
- Eberhard Straub: Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert. Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 351 S. 24,95 Euro


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen."

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013, S. 64-69
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2013