Schattenblick →INFOPOOL →MUSIK → FAKTEN

HINTERGRUND/181: Venezuela - Jugendorchestersystem wächst unbegrenzt, Interview mit Gründer Abreu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Oktober 2012

Venezuela: Jugendorchestersystem wächst unbegrenzt - Interview mit Gründer Abreu

von Humberto Márquez


José Antonio Abreu mit Kindern, die im venezolanischen Jugendorchestersystem musizieren - Bild: Fundamusical Bolívar

José Antonio Abreu mit Kindern, die im venezolanischen Jugendorchestersystem musizieren
Bild: Fundamusical Bolívar

Bonn, 4. Oktober (IPS) - Das von José Antonio Abreu vor 37 Jahren in Venezuela begründete Jugendorchestersystem schickt mittlerweile schon seine dritte Musikergeneration in die Welt hinaus. Beim Beethovenfest in Bonn begeisterte Anfang Oktober die 'Sinfónica Juvenil de Caracas' unter Leitung des aufstrebenden jungen Dirigenten Dietrich Paredes das Publikum. Sein erst 22-jähriger Kollege Andrés Rivas dirigierte ein Workshop-Konzert mit Bonner Schulorchestern.

Wie Abreu im Gespräch mit IPS erklärte, ist 'El Sistema' von Beginn an nicht nur ein erstklassiges künstlerisches Projekt, sondern vor allem eine soziale Bewegung gegen Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung. Mittlerweile gebe es Kooperationen mit ähnlichen Programmen, in Lateinamerika und in europäischen Ländern wie Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Schottland und Spanien.

Der Musiker, Ökonom und Politiker Abreu, der von 1989 bis 1993 Kulturminister in Venezuela war, hatte sein Projekt 1975 mit elf Jugendlichen in einer Garage in Caracas begonnen. Inzwischen spielen landesweit rund 400.000 junge Instrumentalisten in 90 Vorschul-, 130 Kinder- und 288 Jugendorchestern. Hinzu kommen 30 professionelle Klangkörper.

Vor ihren Auftritten in Bonn war die Sinfónica Juvenil de Caracas in sechs europäischen Städten zu erleben, unter anderem in Sankt Petersburg, Prag und Wien. Abreu, der für seine Arbeit mit zahlreichen internationalen Preisen geehrt wurde, sprach mit IPS über die bisherigen Errungenschaften und die künftigen Ziele von El Sistema.

IPS: Wie gelingt es einem Orchestersystem, das sich in erster Linie als Sozialprojekt versteht, auch musikalische Qualität zu exportieren?

José Antonio Abreu: Das ist für uns die größte Herausforderung. Wir entwickeln ein Musiksystem von höchster Qualität, das sich an Exzellenz orientiert und zugleich allen venezolanischen Kindern und Jugendlichen aus mittleren und unteren Einkommensschichten einen vollständigen und kostenlosen Zugang garantiert.

IPS: Bedeutet das Streben nach Exzellenz nicht auch, dass diese Musik für eine Elite bestimmt ist?

Abreu: Die Musik muss aufhören, eine Kunst für eine Elite zu sein. Sie darf nicht mehr ein Monopol von Minderheiten sein, sondern sollte allen gehören, insbesondere den Armen. Eine Kultur für die Armen kann keine arme Kultur sein. Sie hat ein sehr hohes ästhetisches, pädagogisches und soziales Niveau erreicht.

IPS: Wie schafft es El Sistema, junge Menschen aus Armut, Ausgrenzung und dem Teufelskreis von Kriminalität und Drogen zu befreien?

Abreu: In dem Moment, in dem ein Kind ein Instrument in die Hände bekommt und ihm ein Lehrer zu Seite steht, ist es in jeder Hinsicht gerettet. Vor ihm liegt der unendliche Weg der Kunst. Kunst bedeutet Perfektion, und der Weg dorthin stößt an keine Grenzen. Unsere Aufgabe ist es, für Bildung, eine angemessene Infrastruktur, Instrumente von guter Qualität und Lehrer zu sorgen sowie das Kind dazu anzuspornen, weiterzumachen.

IPS: Auf diese Weise werden Kinder aus der Armut gerettet?

Abreu: Ja, denn es gibt nicht nur materielle Armut. Es ist viel schrecklicher, niemand zu sein. Mutter Teresa aus Kalkutta hat oft darüber gesprochen, dass das Fehlen einer Identität die schlimmste Form der Armut sei.

Der Künstler nimmt dagegen in der Gesellschaft eine besondere Identität an. Kinder spielen von klein auf ein Instrument und geben mit ihren Orchestern Konzerte. Sie sind stolz auf das, was sie sind und was sie tun, und streben nach einer besseren Zukunft für sich selbst und für die Gemeinschaft.

IPS: Welche Bilanz ziehen Sie fast 40 Jahre nach den Anfängen von El Sistema?

Abreu: Inzwischen sind 400.000 Kinder und Jugendliche Teil des Netzwerks aus Orchestern und Chören. Da somit 400.000 Familien eingeschlossen sind, hat das Sozialprojekt eine außerordentliche Größe erreicht. Und das Sistema wächst weiter, ohne an Grenzen zu gelangen. Neue Lehrer und Strukturen kommen hinzu. Es werden neue Einrichtungen eröffnet und weitere Instrumente angeschafft.

IPS: Arbeitet El Sistema mit anderen Ländern in Lateinamerika zusammen?

Abreu: Wir kooperieren bereits mit Peru, Kolumbien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Brasilien, ganz Zentralamerika, Mexiko, ebenso wie mit Spanien und Portugal. Außerdem sind wir auch mit ähnlichen Systemen verbunden, die gerade in anderen Teilen der Welt entstehen: in Frankreich, Griechenland, Italien und Schottland. Es handelt sich dabei um Kooperations- und Austauschprogramme für Jugendliche in Europa.

IPS: Sollte sich das Repertoire Ihrer Orchester nicht noch mehr auf lateinamerikanische Kompositionen konzentrieren?

Abreu: Unbedingt, denn El Sistema bietet nicht nur jungen Musikern, sondern auch Komponisten Platz. Überhaupt eröffnet die Entwicklung der Orchester und Chöre dem Komponieren immense Perspektiven. Ich bin sicher, dass die Musik Lateinamerikas in den kommenden Jahren in einem enormen kreativen Glanz erstrahlen wird. Die jungen Komponisten von heute werden die Meister von morgen sein.

IPS: Werden Sie nicht auch dafür kritisiert, dass so viele Stücke europäischer Komponisten auf dem Programm stehen? Die Sinfónica Juvenil de Caracas führte jetzt auf ihrer Tournee Werke von Saint-Saëns, Tschaikowsky und Schostakowitsch auf.

Abreu: Eine solche Kritik basiert auf Ignoranz und Mittelmäßigkeit. Diejenigen, die auch nur annähernd über uns informiert sind, wissen beispielsweise, dass wir landesweit das Programm 'Alma Llanera' umsetzen, das sich ausschließlich auf die Förderung venezolanischer Instrumente konzentriert. Zudem ist erst vor kurzem eine enorme Summe dafür bereitgestellt worden, im gesamten Land den Umgang mit einheimischen Instrumenten und venezolanischer Musik zu fördern. Eine solche Kritik kommt von denjenigen, die niemals unsere Konzerte besuchen.

IPS: Halten Sie El Sistema inzwischen für so gefestigt, dass es auch weiterbestehen könnte, wenn Sie und Ihr Gründungsteam es nicht mehr leiten könnten?

Abreu: Zweifellos. Wir bilden gerade eine Mannschaft aus Angehörigen jüngerer Generationen, die uns ablösen kann. Das Simón Bolivar-Orchester, das an der Spitze von El Sistema steht, ist inzwischen erwachsen. Alle seine Mitglieder sind bereits Lehrer. Dadurch, dass El Sistema weiterwächst, nimmt auch die Zahl der Dozenten unbegrenzt zu. Dies sichert uns Kontinuität.

IPS: Ist das Orchestersystem, das sich durch öffentliche Zuschüsse finanziert, Sache des Staates oder einer Regierung?

Abreu: Von Anfang an hat der Staat Kindern und Jugendlichen immer ein Recht auf musikalische Bildung garantiert. Für uns ist es inzwischen so, als sei dieses Recht in der Verfassung festgeschrieben. Der Staat gewährleistet die Ausübung dieses Rechtes, so wie er auch den Zugang zu Schulen, Universitäten und Krankenhäusern garantiert. Es handelt sich um konsolidierte und unwiderrufliche soziale Rechte. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.beethovenfest.de/programm/youth-orchestra-of-caracas/698/
http://www.fesnojiv.gob.ve/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101654

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. Oktober 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2012