Schattenblick →INFOPOOL →MUSIK → FAKTEN

HINTERGRUND/174: Die Sprache der Straße - Rapper wecken bei Jugendlichen politisches Bewusstsein (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Dezember 2011

Nahost: Die Sprache der Straße - Rapper wecken bei Jugendlichen politisches Bewusstsein

von Simba Russeau


Kairo, 8. Dezember (IPS) - Im 'Arabischen Frühling' ist Rap mit politischen Inhalten zur geheimen Waffe geworden. Die Musik wird zum Ventil der Wut Jugendlicher auf die Regierungen im Nahen Osten und im Maghreb.

Auch für andere soziale Protestbewegungen spielt Musik eine große Rolle. Bei den jüngsten Unruhen, die in der arabischen Welt zum Sturz von drei Langzeit-Machthabern führten, hat vor allem Rap große Wirkung entfaltet.

"Natürlich gibt es auch andere Formen von Musik, die Botschaften übermitteln. Rap spricht aber ganz direkt und unverblümt die gesellschaftlichen Missstände an und verschafft der Stimme der Straße Gehör", sagte Martin Fernando Jakobsen, der die palästinensische Jugendinitiative 'Turntables in the Camp' gegründet hat. "Bei den Aufständen im Nahen Osten und Maghreb haben kritisch denkende Rapper viel bewirkt, weil sie das Leiden der Bevölkerung zum Ausdruck brachten."

Dass in mehreren arabischen Staaten gleichzeitig Unruhen ausbrachen, ist kein neues Phänomen. Als 1919 tunesische Oppositionelle eine neue Verfassung forderten, traten auch Ägypter in den Streik und zogen durch die Straßen, bis die Regierung abtrat.

In der jüngeren Vergangenheit hat Rap neben rasch anwachsenden sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook politischen Einfluss auf arabische Jugendliche in den Städten genommen. Am 7. November 2010 veröffentlichte der 22-jährige Hamada Ben Amor, auch bekannt als 'El General', einen offenen vertonten Brief mit dem Titel 'Rais Lebled'. Präsident Zine el-Abidine Ben Ali wurde darin aufgefordert, der Korruption und Armut im Land ein Ende zu setzen. Verbreitet wurde dieser 'Brief' am Jahrestag von Ben Alis Machtübernahme.


Kampfeshymne für 'Jasmin-Revolution' in Tunesien

Die Melodie wurde rasch zur Kampfeshymne für die tunesische 'Jasmin-Revolution', die später von Jugendlichen in Kairo und Bahrain kopiert wurde. Nach der Selbstverbrennung des jungen Straßenhändlers Mohammed Bouaziz, die die Revolte in Gang brachte, veröffentlichte El General am 22. Dezember das Lied 'Tounes Bladna' (Tunesien, unser Land).

In den Morgenstunden des 6. Januar stürmten Dutzende Sicherheitskräfte seine Wohnung in der südlichen Hafenstadt Sfax und brachten den Rapper in das Innenministerium in Tunis, wo er tagelang festgehalten und verhört wurde.

"Ich glaube, dass Musik etwas verändern kann. Das, was in Tunesien geschah, ist das beste Beispiel dafür", sagte Edd Abbas, der Leadsänger der libanesischen Rap-Gruppe 'Fareeq al Atrash', im Interview mit IPS. "El General war der Auslöser dafür, dass die Leute auf die Straße gingen, um den Rücktritt von Ben Ali zu fordern."

Nach Ansicht von Abbas ist Rap etwas Besonderes, weil die Künstler die Sprache der Bevölkerung verwenden, um die politischen Führer herauszufordern. "Die Musik überschreitet Grenzen. Wenn ich über etwas spreche, das im Libanon passiert, erkennen sich auch andere Araber darin wieder, weil sie ähnliche Probleme haben."

Etwa 60 Prozent der Menschen in der arabischen Welt sind unter 30 Jahre alt. Wie aus einer Untersuchung hervorgeht, die das PR-Unternehmen 'Asda'a Burson-Marsteller' im vergangenen Jahr in neun arabischen Ländern durchführte, ist es jungen Menschen in der Region am wichtigsten, in einem demokratischen Staat zu leben.

Die meisten jungen Leute sind demnach der Politik in ihrer bisherigen Form überdrüssig und haben sich einer pulsierenden Underground-Szene zugewandt. Diese schafft es gemeinsam mit sozialen Netzwerken im Internet, eine politikbewusste Generation auf die Straßen zu treiben.


Rap ersetzt politische Parteien

Einigen von ihnen bieten die Rapper, die immer schon die Grenzen der Ausdrucksfreiheit erweitert haben, so etwas wie eine neue politische Partei. Palästinensische Aktivisten wie Da Arab MC's (DAM) und die Rapperin Shadia Mansour haben die Musik dazu genutzt, auf die schwierige Lage ihres Volkes und sein Streben nach Freiheit aufmerksam zu machen.

"Bereits vor Beginn der Unruhen sprach der Rap von Widerstand, der Notwendigkeit eines Wandels und der Befreiung Palästinas. Er ist ein wirkungsvolles Instrument, mit dem wir unsere Frustrationen freisetzen können. Unterhaltung verbinden wir mit einer Botschaft", erklärte der Rapper Boikutt aus Ramallah. "So machen wir Politik."

"Veränderungen geschehen nicht über Nacht", meinte der ägyptische Rapper MC Deeb. "Die Mehrheit der Ägypter, die sich jeden Tag mit geringem Einkommen durchschlagen, werden unser Konzept nicht verstehen." (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.turntablesinthecamps.org/
http://www.youtube.com/watch?v=L9CprNPl93I
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106122

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. Dezember 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2011