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HINTERGRUND/124: Die wirklichen Stars der Musica Popular Brasileira (Klaus Hart)


Klaus Hart Brasilientexte - 5. März 2008

Die wirklichen Stars der Musica Popular Brasileira - in Deutschland fast unbekannt

Kommerzielle Vorkoster, selbsternannte Experten zeichnen ein schiefes Bild


Deutschsprachige Radiosender mit Weltmusikanteil spielen durchweg, was die Brasilianer am allermeisten mögen, informieren die Hörer kontinuierlich über die neuesten Hits und CDs der populärsten Musiker. Und auch in den deutschen Zeitungen steht alles Wichtige über die Szene in Rio, Sao Paulo, Salvador da Bahia. Richtig? Leider falsch. Wer demnächst beruflich oder privat ins Tropenland kommt, sollte einfach mal testen: Sind Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Buarque, Carlinhos Brown, Chico Cesar, Tom Zè oder Marisa Monte wirklich die großen Namen dieser Musik-Supermacht, liefern sie dem Volke die Ohrwürmer, tanzt man in den Schwoofdielen am liebsten nach deren Titeln, werden deren CDs am meisten verkauft, am meisten im Radio gespielt? Und sind Interpreten, Bands wie Badi Assad, Lenine, Virginia Rodrigues, Daudè, Trio Mocoto oder Olodum, die man in Deutschland so anpreist, in ihrem Heimatland tatsächlich populär? Bebel Gilberto - am Zuckerhut jetzt ein Star, gar die "Königin der neuen brasilianischen Musik"? Sorry, oder besser auf Portugiesisch - sinto muito - alle Genannten machen eine meist interessante, wohlelaborierte Musik, doch verglichen mit den wirklichen Stars und Hitmachern sind einige davon direkt kleine Lichter, sogar Bebel Gilberto.

Schon mal was vom Sänger und Komponisten Roberto Carlos gehört? Seit über drei Jahrzehnten ist er Brasiliens einziger Megastar - von keinem anderen wurden mehr Tonträger, DVDs verkauft, keiner wird so oft nachgespielt. Selbst von Caetano Veloso, dessen Schwester Maria Bethania, von Gal Costa, Marisa Monte, den bekannten Rockbands. Über keinen steht mehr in der Musikpresse. Landauf, landab strahlen Sender tägliche(!) stundenlange Spezialsendungen mit Balladen, Boleros von Roberto Carlos aus. Natürlich hat er den Grammy in der Sparte "bester lateinamerikanischer Sänger", der ganze Kontinent liebt ihn. Theoretisch dürfte er deshalb in keinem internationalen Musikprogramm deutscher Sender fehlen - doch genau das passiert. Roberto Carlos paßt nicht ins Konzept. Denn wider alle Klischees mögen die meisten Brasilianer, auch die jungen, sentimentale bis ultraromantische Stücke weit mehr als hektisch-aufgeregte Titel nach Art der immer schnelleren, marschähnlichen Karnevalssambas. "Politisch korrekt" wäre daher, wenn auch die Weltmusiksparte endlich den dominierenden Musikgeschmack der Brasilianer akzeptieren, entsprechend reflektieren würde, anstatt weiter absurde Klischees von afrobrasilianischer Exotik, vom feurigen, temperamentvollen Brasileiro zu pflegen.

Sentimentales, Langsames von den Beatles, Stones, allen heutigen anglo-amerikanischen Rock- und Pop-Größen legen die deutschen Radios gerne auf - da winkt man in Brasilien ab, wir haben Besseres. Neben Roberto Carlos auch Nana Caymmi, Leandro, Roberta Miranda, Alexandre Pires und viele andere. In dem Tropenland, 24-mal größer als Deutschland, hat einheimische Musik heute einen konstanten Marktanteil von über achtzig Prozent, selten verläuft sich einmal ein nordamerikanischer, britischer Titel unter die ersten Zehn, Zwanzig der Hitparaden. Ricardo Moreira in Rio de Janeiro, Product-Manager von Universal Music Brasil, kennt die Probleme mit der europäischen Weltmusikszene, deren Machern nur zu gut. Er hat die auch in Deutschland erhältliche, sehr empfehlenswerte CD-Serie "Pure Brazil" konzipiert, alle Titel alleine ausgesucht. Doch von Megastar Roberto Carlos ist kein einziger dabei. "Den mag ich unheimlich", sagt Moreira im Exklusivinterview, "Roberto Carlos ist einer der größten Interpreten, den ich kenne, psychologisch-gefühlsmäßig gesehen soooo brasilianisch. Er ist eine Ikone der romantischen Musik ganz Lateinamerikas, hat dort Riesenerfolg. Nicht zu leugnen - die Brasilianer mögen das Tiefromantische, die mögen langsame Titel. Schnellere, zum Tanzen, sicher auch, aber die langsamen, romantischen bleiben immer am längsten in der Hitparade. Wir haben ja diese Tristeza in uns, die vielleicht noch aus der Zeit der Sklavenschiffe herrührt. Aber ich dachte mir eben, wenn ich Roberto Carlos in die Pure-Brazil-Kollektion mit reinpacke, wird das unsere Zielgruppe draußen in der Welt ablehnen. Man muß eben auch Marktaspekte berücksichtigen."

Aus den selben Gründen wagte es der Universal-Manager auch nicht, wenigstens einen einzigen Titel der ultraromantischen Sertaneja-Musik mitzunehmen. Die ist in Brasilien unangefochten Marktführer, war in den meisten Regionen Brasiliens schon immer populärer als Samba, den nur eine Minderheit richtig zu tanzen weiß. Und - man ahnt es schon, auch Sertaneja-Musik wird in den deutschen Radios ebenfalls unterschlagen, nur in absoluten Ausnahmefällen gespielt. Die Megastars dieser enormen Sparte der Musica Popular Brasileira (MPB) sind das Falsett-Duo "Zezè di Camargo e Luciano", der Nation liefern sie einen Ohrwurm nach dem anderen. Nicht zufällig erwählte sie Staatschef Lula strategisch geschickt zu seiner Anheizer-Band für die Kundgebungen im Präsidentschaftswahlkampf - und gewann. "Wir sind mehr MPB als Chico Buarque und Caetano Veloso", sagt Zezè di Camargo. "Das P steht schließlich für populär - und das sind wir viel mehr als die." Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel - von solchen CD-Auflagen können Gil, Caetano, Carlinhos Brown und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse nur träumen. "Sertaneja" ist inzwischen ein weiter Begriff - reicht von der schlichten Gitarrenballade der Viehtreiber nachts am Feuer bis zum brasilianischen Country-Pop, unverkennbar der Einfluß des Bolero, des mexikanischen Maratchi. Auf jede im Laden legal verkaufte CD kommen heute in Brasilien etwa zehn Raubpressungen. Wer in Rio die Copacabana entlanggeht, kann das Angebot der illegalen CD-Straßenhändler begutachten - alles offen auf den Fußwegen ausgelegt. Die "Ambulantes" bieten nur Musik an, die das Volk wirklich mag. Deshalb fehlen nie Roberto Carlos und Sertaneja-Duos wie Zezè di Camargo e Luciano, Xitaozinho e Xororò, Bruno e Marrone und viele andere der Sparte.

Bebel Gilberto, Caetano Veloso? Leider Fehlanzeige. In den Slums an den Großstadtperipherien kennt die kaum einer. Roberto Carlos, Sertaneja-Musik - "vielleicht zu romantisch für coole Europäer", sagt in Sao Paulo der brasilianische Musikexperte Biaggio Baccarin. Da ist was dran. Zudem sind viele coolen Vorkoster, von löblichen Ausnahmen abgesehen, der brasilianischen Landessprache gar nicht mächtig, plappern nur nach, was auf den Waschzetteln der Plattenfirmen steht, bedienen nur den eigenen Geschmack. Motto - das macht doch nichts, es merkt ja keiner. Brasilianer tanzen gerne eng zusammen, pflegen den erotisch-sinnlichen Paartanz wie keine andere Nation weltweit - Deutsche nicht mehr, Erfolg der Amerikanisierung durch die westliche Führungsmacht. Aus teils panischer Angst vor Körperkontakt lieber alleine hopsen in der Disco, dem Treffpunkt der Nichttänzer. Doch die populäre brasilianische Musik ist Tanzmusik, erschließt sich am besten über den Paartanz. Von den Verwaltern der Musica Popular Brasileira in den deutschen Sendern, Printmedien ist nicht bekannt, daß sie sich regelmäßig bei Samba, Bolero, Forrò oder Zouk austoben, gar gelegentlich in Rios seelenvollen Schwoofdielen auftauchen, Kurse bei Brasiliens bestem Tänzer und Tanzlehrer Jaime Aroxa in Rio nehmen.

Vielleicht haben deshalb die wirklichen Stars der MPB sowenig Chancen in Deutschland. In Jaime Aroxas Tanzakademien werden Roberto Carlos & Co. hoch und runter gespielt. Und beim Samba? Natürlich der in Deutschland fast völlig unterschlagene Jorge Aragao, in Brasilien gemäß Branchenstatistiken die Nummer Eins der Sparte, populär wie Alcione, noch so eine große Unbekannte. Der dunkelhäutige Aragao schafft bis zu zweiundvierzig Auftritte pro Monat, kämpft seit jeher für authentischen, sehr gut tanzbaren Samba - und für schwarzes Selbstbewußtsein, ist einer von den ganz politischen Sambistas. Jahrelang schleppt er Kühlschränke und Möbel, macht nur nebenbei Musik. Doch dann läßt er Brasiliens Schwarze vor zwei Jahrzehnten mit dem Lied "Coisa de Pele", die Sache mit der Haut, aufhorchen, protestiert gegen kulturelle Überfremdung. "Als ich diesen Samba schrieb," sagt er im Interview, "wurden in Brasilien zu achtzig Prozent nur ausländische, anglo-amerikanische Titel gespielt - fast nichts von uns, genau das Gegenteil von heute. Dieser Samba steht für eine Zeit, als sich auf einmal die Dinge änderten." Martinho da Vila, Zeca Pagodinho, neugegründete Sambabands feierten zuvor undenkbare Erfolge. Einen Samba-Hit, "Hot-Saia", hat Aragao auf Tanzstar Jaime Aroxa gemünzt: "Der hat mich immer angefeuert, solche Sambas für die Schwoofdielen zu komponieren, für Leute, die gerne zusammentanzen, frei, leicht, fließend. Genau mein Ding."

Schauen wir auf die "Hitparade" der CD-Straßenhändler - Aragao und die göttliche Alcione sind natürlich immer reichlich im Angebot. Brasiliens größtes Nachrichtenmagazin "Veja" schrieb, daß die Erste Welt in Wahrheit gar nicht daran interessiert sei, die echte nationale Musik kennenzulernen. Man wolle doch nur ein bißchen andere Würze, die zum sonst üblichen Musikgeschmack der Nordamerikaner und Europäer passe. Brasilianische Musik guter Qualität klinge nicht exotisch genug, sei gar zu sanft. Um in der Ersten Welt Erfolg zu haben, müßten sich die brasilianischen Musikusse daher den dortigen Stilen, Genres anpassen - das typisch Brasilianische werde dann lediglich zu etwas Temperinho, Würze. Bebel Gilberto - für "Veja" das beste Beispiel. Andere mixen ebenfalls Elektronik, sogar Tecno mit Bossa-Nova, damits ankommt. Nichts für Jaime Aroxa, der gerade in Rio de Janeiro den Zouk, die charmantere, elegantere, sinnlichere Version der Lambada populär macht. Brasiliens schwierigster Paartanz hat seine Wurzeln auch auf den französischen Antillen, fand bereits in Paris viele Anhänger, könnte in der stark vereinfachten europäischen Version von dort aus gar nach Deutschland überschwappen. Eher unwahrscheinlich, daß dort der brasilianische Grundschritt akzeptiert wird - das Bein des Cavalheiro ganz tief zwischen den Schenkeln seiner Partnerin, denn so führt er ja.

"Der Irak ist hier", singt Jorge Aragao auf seiner neuesten CD, "das Volk in den Ghettos hat Angst". Der Sambista bedient keines der in Deutschland so beliebten sozialromantischen Brasil-Klischees - schließlich werden in dem Tropenland mehr Menschen umgebracht als im Irakkrieg. In Brasilien darf man ruhig einen sehr eklektischen Musikgeschmack haben - in der deutschen Szene sturer Puristen nicht. Zum Filmstart von "2 Filhos de Francisco" bekennt der renommierte Psychologe und Kolumnist Contardo Calligaris in der Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo", bereits seit den 80ern Sertaneja zu mögen, dies aber immer verschwiegen zu haben: "Leandro und Leonardo oder Zezè di Camargo e Luciano zu hören, galt in meinen Kreisen als Zeichen extremer musikalischer Vulgarität. Aber ich wette - wenn unsere Sertaneja-Duos englisch sängen, würden sie in Nashville genauso triumphieren wie in unserem Barretos."

Von Klaus Hart, 5. März 2008

Zum Autor:
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent
für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.


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Quelle:
Klaus Hart Brasilientexte, März 2008
Aktuelle Berichte aus Brasilien - Politik, Kultur und Naturschutz
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.hart-brasilientexte.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2008