Fraunhofer-Gesellschaft, Fraunhofer ITEM, Nikolai-Fuchs-Str. 1, 30659 Hannover - 17.10.2018
Medizintechnik: Europäische Medizinprodukteverordnung bremst Innovationsstandort Deutschland
Die Sicherheit von Patienten ist das oberste Ziel der Medizin und Medizintechnik. Um diese zu erhöhen, wurde 2017 auf europäischer Ebene die »europäische Medizinprodukteverordnung« (MDR) eingeführt. Im Rahmen einer Veranstaltung des Fraunhofer-Leistungszentrums Translationale Medizintechnik unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM wurden die Herausforderungen und Folgen der MDR von Experten diskutiert. Die Branchenvertreter erwarten bedeutende negative Konsequenzen durch die Verordnung und schlagen konkrete Maßnahmen zur Überarbeitung der MDR vor.
Die Sicherheit von Patienten ist das oberste Ziel der Medizin und Medizintechnik. Um diese zu erhöhen, wurde 2017 auf europäischer Ebene die »europäische Medizinprodukteverordnung« (MDR) eingeführt. Im Rahmen einer Veranstaltung des Fraunhofer-Leistungszentrums Translationale Medizintechnik unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM wurden die Herausforderungen und Folgen der MDR von Experten, Vertretern kleiner und mittlerer Unternehmen, den Vorstandsvorsitzenden des akademischen Dachverbandes DGBMT, des Industrieverbandes BVMed sowie von Vertretern der acatech und der GMM im VDE diskutiert. Die Branchenvertreter erwarten bedeutende negative Konsequenzen durch die Verordnung und schlagen konkrete Maßnahmen zur Überarbeitung der MDR vor.
Ausgangspunkt der Veranstaltung war die Vorstellung erster Ergebnisse einer Marktbefragung von deloitte, mdr-competence und Fraunhofer, die ein aktuelles Bild zur Stimmung und Einschätzung absehbarer Konsequenzen der MDR zeichnet. »Eingeführt mit dem Ziel, die Patientensicherheit zu erhöhen, zeigt die MDR in ihrer jetzigen Form gravierende negative Effekte«, sagt Prof. Dr. Theodor Doll, Leiter des Fraunhofer-Leistungszentrums. »Die Folgen sind einerseits aufkommende Unsicherheit der Patientenversorgung mit bestehenden Produkten, da diese teilweise aufgrund erneuter klinischer Bewertungen wieder vom Markt genommen werden, und andererseits die bereits eingetretene Innovationshemmung aufgrund zu hoher Eintrittshürden in der EU.«
Mit den aktuellen Daten differenziert die Studie die bisherigen Einschätzungen der Industrieverbände Spectaris und BVMed bei gleichbleibendem Tenor:
Die Folgen für die deutsche und europäische Medizintechnik sind massiv:
»Die Zahlen machen deutlich, dass die Verordnung mittelfristig zu einer
Abwanderung in den FDA-geregelten amerikanischen Markt führen und den
Innovationsstandort Deutschland zum Erliegen bringen wird«, erläutert
Prof. Doll.
Als innovativer Motor der Branche gelten die kleinen und mittleren Unternehmen, die 93 Prozent der MedTech-Unternehmen (KMU) ausmachen. Doch gerade sie spüren die negativen Wirkungen der MDR und stehen vor kaum überwindbaren Herausforderungen. »Die Kosten für die Entwicklung und die Entwicklungsdauer erhöhen sich stark, sodass die Perspektiven von Start-ups und KMU in der Branche sich deutlich verschlechtern«, weiß Prof. Prof. Dr. Thomas Lenarz, Vorstandsvorsitzender der DGBMT. »Auch für Investoren wird es deutlich unattraktiver, in innovative MedTech-Entwicklungen zu investieren.«
Auf Grundlage der Marktbefragung erarbeiteten Wirtschaft, Verbände und Wissenschaft Vorschläge für konkrete Maßnahmen, die sowohl die aktuelle Situation entspannen als auch das Vertrauen in den Fortbestand des Innovationsstandorts Deutschland wiederherstellen können. Diese beinhalten unter anderem:
- Beschleunigung der Akkreditierung von Notified Bodies:
Die sogenannten Notified Bodies (benannte Stellen) - staatlich überwachte
private Prüfstellen, die Hersteller begleiten und kontrollieren - müssen
so schnell wie möglich wieder akkreditiert und somit in die Lage versetzt
werden, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Für eine beschleunigte
Akkreditierung der Notified Bodies muss die EU die Ausstattung der »Joint
Assessment Teams« (JAT) deutlich ausbauen, um die Handlungsfähigkeit der
benannten Stellen für ihre eigentliche Aufgabe als verlässlicher
Dienstleister für die Patientenversorger im zukünftig absehbaren
Arbeitsvolumen darzustellen.
- Korrektur der Fristen für Hersteller:
Die Medizinprodukthersteller und -entwickler sind unmittelbar abhängig von
der Handlungsfähigkeit der Notified Bodies. Durch deren verzögerte
Akkreditierung sind gegenwärtige Fristsetzungen inkl. Übergangsfristen für
Hersteller nicht haltbar und müssen neu terminiert werden - und zwar ab
der Neubenennung (Handlungsfähigkeit) der dann existierenden Notified
Bodies. Maß- und sinnvoll sind wenigstens 2,5 Jahre ab diesem Zeitpunkt,
um nicht die Existenz der Hersteller über die absehbar weiter begrenzten
Kapazitäten der Notified Bodies unverschuldet zu gefährden.
- Erarbeitung von Umsetzungshilfen:
Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, bedürfen Start-ups,
Kleinstunternehmen (bis 25 MA) und KMU eines Beratungs- und
Unterstützungsprogramms, um weiterhin in der Lage zu sein, Medizinprodukte
zu entwickeln. Ein solches Programm könnte ähnlich ausgestaltet sein wie
die REACH-Korrekturen der EU in 2013.
- Weiterführung von Förderungen:
Die erfolgreiche Förderung des »Innovationsmotors Medizintechnik« der
vergangenen Jahre sollte angesichts der MDR-Situation verlängert bzw.
ausgeweitet werden, um einen Innovationseinbruch und die Abwanderung in
andere Märkte zu verhindern. Diese soll auch die schnelle Entwicklung
neuer Prüfmethoden, den Datenaustausch zwischen Unternehmen und die
Förderung erster klinischer, kostenintensiver Phasen umfassen.
- Sonderregelung für die Konformitätsbewertung:
Die MDR benötigt eine Sonderregelung für die Konformitätsbewertung
hochinnovativer Produkte (»Fast Track«) für seltene Krankheiten bzw.
Anwendungen, um einen frühen Marktzugang zu ermöglichen.
- Augenmerk auf »Sondergruppen«:
Medizinprodukte für Kleinkinder, Kinder und andere Sondergruppen werden
bereits von der Gesundheitswirtschaft vernachlässigt, weil die
Zulassungskosten dem Return on Investment in diesen kleineren
Marktsegmenten kritisch gegenüberstehen. Eine verbesserte MDR sollte dies
nicht weiter verschärfen, sondern gegensteuern, um im Sinne der
Patientensicherheit auch die Versorgungssituation dieser Gruppen zu
verbessern.
- Vermeidung nicht nachvollziehbarer Folgen für bereits etablierte Produkte:
Insbesondere Produkte, die schon seit Jahrzehnten mit sehr geringer Anzahl
»unerwünschter Vorkommnisse« im Markt sind, dürfen nicht mittels einer
pauschalisierten Forderung zur Durchführung »neuer klinischer
Bewertungen/Prüfungen« aus dem Markt gedrängt und die resultierende
Patientenversorgung gefährdet werden.
- Vermeidung kartellähnlicher Strukturen:
Einzelne Institutionen in der Medizintechnikbranche dürfen nicht
gleichzeitig als Prüfdienstleister, Notified Body, nationaler Berater
(NAKI), Berater in der EU-Legislative und als akkreditierte
Schulungsstelle auftreten. Die FDA-Regelungen, welche die Rolle vertikaler
kartellähnlicher Strukturen beschränken, können hier als erstes Vorbild
dienen.
Weitere Informationen finden Sie unter
https://www.item.fraunhofer.de/de/presse-medien/presseinformationen/pm-medical-device-regulation.html (Pressemitteilung)
https://www.item.fraunhofer.de/de/angebot/medizintechnik/europaeische-medizinprodukteverordnung-mdr.html (Europäische Medizinprodukteverordnung)
https://www.item.fraunhofer.de/de/leuchtturm-projekte/leistungszentrum-translationale-medizintechnik.html (Leistungszentrum Translationale Medizintechnik)
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution96
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Fraunhofer-Gesellschaft, Fraunhofer ITEM, Nikolai-Fuchs-Str. 1, 30659 Hannover - 17.10.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2018
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang