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STATISTIK/305: Wirtschaftskrisen kosten zehn Monate Lebenszeit (Demografische Forschung)


DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG - Aus Erster Hand - Nr. 2/2010

Wirtschaftskrisen kosten zehn Monate Lebenszeit

Grundstein zu späterem Gesundheitsstatus und Lebenserwartung wird in der Kindheit gelegt

Von Gerard J. van den Berg, Gabriele Doblhammer und Kaare Christensen


Makro-ökonomische Rahmenbedingungen der ersten Lebensjahre wirken sich auf die Gesundheit und die Sterblichkeit bis ins hohe Alter aus. Aufbauend auf historischen Daten kann geschlussfolgert werden, dass Menschen, die in Wirtschaftskrisen - wie der heutigen - geboren werden, einem erhöhten Mortalitätsrisiko ausgesetzt sind. Zwei neue Studien der Universität Mannheim in Zusammenarbeit mit dem Rostocker Zentrum zur Erforschung Universität Odense belegen, dass die Ursachen in der Ernährung, den Lebensbedingungen und in der medizinhygienischen Versorgung zu Beginn des Lebens liegen.


Wirtschaftskrisen haben häufig umfassende Auswirkungen auf die Bevölkerung der betroffenen Regionen. Eine Vielzahl von Studien gibt Hinweise darauf, dass aktuelle sozio-ökonomische Bedingungen die Gesundheit und Lebenserwartung eines Menschen beeinflussen. Inwieweit jedoch frühe Lebensumstände die Gesundheit und Sterblichkeit im Alter beeinflussen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.

Der Grund dafür ist, dass oft der weitere Lebensweg, zum Beispiel der soziale Status, in den ersten Lebensjahren bereits mit angelegt ist. Somit kann nicht unterschieden werden, inwieweit schlechte Gesundheit und höhere Sterblichkeit im Alter tatsächlich auf die ersten Lebensjahre zurückzuführen sind bzw. diese nur den Anfang eines kumulativen Prozesses darstellen und die beobachteten Effekte daher aus dem gesamten Lebenslauf resultieren. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Verwendung sogenannter exogener Indikatoren, die unabhängig von den individuellen Lebensumständen auf alle Mitglieder eines Geburtsjahrganges einwirken. Ein Beispiel dafür ist der Monat der Geburt, aber auch die Geburt in Zeiten von Hungersnöten. Die zugrunde liegende Idee ist, dass jene Personen, die in ungünstigen Jahreszeiten bzw. während des Höhepunktes von Hungersnöten geboren wurden, in ihrer physiologischen Entwicklung beeinträchtigt sind und damit später im Leben eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit haben. Ein weiterer exogener Faktor, der sich langfristig auswirken kann, sind die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt der Geburt und in speziellen Wirtschaftskrisen.

Die Untersuchung auf Grundlage der Daten des Dänischen Zwillingsregisters zeigt, dass der Konjunkturzyklus zum Zeitpunkt der Geburt einen signifikanten Einfluss auf die Mortalitätsrate im späteren Leben hat.

Das Dänische Zwillingsregister ist das älteste und umfassendste seiner Art. Es beinhaltet detaillierte demografische und medizinische Daten von Zwillingspaaren der Geburtsjahre 1870 bis 2000. Aufbauend auf Daten zum Todeszeitpunkt und deren Ursachen können Langzeiteffekte der Sterblichkeit untersucht werden, die auf die Gesamtbevölkerung übertragbar sind.

Die Analysen basieren auf Daten von 7540 Personen der Geburtsjahre 1873 bis 1907, die den Jahresbeginn 1943 erlebten. Als Indikator der Wirtschaftslage dient das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, welches von 1873 an verfügbar ist. Durch die Zerlegung des Indikators in eine kurzzeitige Konjunkturkomponente und eine langfristige Trendkomponente werden Gruppen von Personen gebildet, die in Zeiten kurzfristiger Rezessionen oder Booms geboren wurden.

Unter Verwendung von Methoden der Ereignisdatenanalyse wurde ermittelt, dass die Sterberate von in einer Wirtschaftskrise Geborenen um neun Prozent höher ist als die von jenen Personen, die in Boomzeiten geboren wurden. In Lebenszeit ausgedrückt heißt dies: Personen, die während einer Rezession geboren wurden und das Alter 35 erreicht haben, hatten eine durchschnittlich zehn Monate geringere Lebenserwartung als Personen, die in einem Boom geboren wurden. Dieser Effekt zeigte sich bei Männern ausgeprägter als bei Frauen.

Während Wirtschaftszyklen zum Zeitpunkt der Geburt und auch während der frühen Kindheit die Sterblichkeit bis ins höhere Alter beeinflussen, spielt der Zustand der Wirtschaft in den Monaten vor der Geburt keine Rolle.

Die Analyse nach Todesursachen zeigt, dass der Sterblichkeitsunterschied in einem substanziellen Ausmaß auf ein erhöhtes Risiko tödlicher Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen ist. Die Wahrscheinlichkeit, an diesen Krankheiten zu sterben, ist für die in Rezessionsjahren Geborenen um zwölf Prozent erhöht. Bei der krebsbedingten Sterblichkeit ist eine derartige Spätwirkung nicht auszumachen. Auffällig ist zudem, dass sich der Unterschied in der Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erst im hohen Alter bemerkbar macht (Abbildung 1)(*).

Die Untersuchung verdeutlicht überdies einen weiteren Zusammenhang: Zwillinge, die in wirtschaftlich schlechten Zeiten geboren wurden, zeigten auffällige Ähnlichkeiten im Gesundheitszustand. Genetische Faktoren sowie extern beeinflussende Faktoren wirken bei den in ökonomisch schlechten Zeiten Geborenen stärker als individualspezifische Faktoren. Bei Menschen, die in Boomzeiten geboren wurden, spielen hingegen individuelle Merkmale eine größere Rolle.

Insbesondere die Kombination aus unzureichender Ernährung und einer fehlenden medizinischen Versorgung nach der Geburt ist als ursächlich für den Zusammenhang zwischen den ökonomischen Bedingungen am Beginn des Lebens und dem erhöhten Risiko, im Alter früher zu sterben, anzusehen. Sofern gute hygienische und gesundheitliche Bedingungen zum Zeitpunkt der Geburt gegeben sind, fällt das Einkommen eines Haushalts für diesen Langzeiteffekt weniger stark ins Gewicht. Gleichzeitig kann vermutet werden, dass der Stress, dem ein Elternpaar in Rezessionszeiten ausgesetzt ist, auf die Kinder übertragen wird und somit deren Sterberisiko erhöht ist.

Heute ist für fast alle Menschen in der westlichen Welt der Zugang zu medizinischen Einrichtungen und einem hohen Maß an Hygiene gewährleistet. Dennoch können Risikofaktoren wie eine ungesunde Ernährung oder eine mangelnde medizinische Versorgung im frühen Kindesalter ein erhöhtes Sterberisiko bewirken. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollten daher die Ernährung und die medizinische Versorgung im frühkindlichen Alter noch einmal besondere Aufmerksamkeit erlangen.

Kontakt: gjvdberg@xs4all.nl



Literatur:

Van den Berg, G.J., G. Doblhammer and K. Christensen:
Exogenous determinants of early-life conditions, and mortality later in life.
Social Science and Medicine 68(2009)9: 1591-1598.

Van den Berg, G.J., G. Doblhammer-Reiter and K. Christensen:
Being born under adverse economic conditions leads to a higher cardiovascular mortality rate later in life: evidence based on individuals born at different stages of the business cycle.
Institute for the Study of Labor, Bonn 2008, 43 pp. (IZA discussion paper series; 3635).
http://ftp.iza.org/dp3635.pdf



(*) Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

Abb. 1: Sterberate aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Abhängigkeit vom Alter.
Quelle: Dänisches Zwillingsregister, Geburtsjahrgänge 1873-1907.


*


Quelle:
Demografische Forschung Aus Erster Hand 2010, Jahrgang 7, Nr. 2, Seite 3
Herausgeber:
Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Kooperation mit dem
Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien,
und dem Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels
Konrad-Zuse-Str. 1, 18057 Rostock
Telefon: +49 (381) 2081-143, Fax: +49 (381) 2081-443
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Internet: www.demografische-forschung.org

Demografische Forschung Aus Erster Hand erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2010