Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → SOZIALES

POLITIK/102: Kein kostenloses Obst an Schleswig-Holsteins Schulen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2010

Absage der Landesregierung
Kein kostenloses Obst an Schleswig-Holsteins Schulen

Von Jörg Feldner


Das Kieler Landwirtschaftsministerium hält den Verwaltungsaufwand für zu hoch, um Schüler mit kostenlosem Obst zu versorgen.


Europas Landwirte ernten mehr, als sie profitabel verkaufen können. Die EU versucht seit Jahrzehnten, diesem Missstand abzuhelfen: mal mit Subventionen für Tabakbauern in Griechenland, mal mit kostengünstigem Obst für Schüler. Beim Schulobstprogramm macht Schleswig-Holstein nicht mit.

Weil der Verwaltungsaufwand unverhältnismäßig hoch sei - unter anderem muss sichergestellt sein, dass kein Lehrer sich einen EU-Apfel nimmt, auch darf das Obst nicht als Nachtisch in der Schulmensa angeboten werden - hat das Landwirtschaftsministerium im Dezember auf die Teilnahme verzichtet. Das Antrags-, Bewilligungs- und Auszahlungsverfahren ist tatsächlich bombastisch; das Volumen des Angebotes - 7,50 Euro pro Jahr und Kind, wenn der gesamte Etat allein an Grundschulen ausgegeben wird - ist vergleichsweise mickrig. Da kann man Landwirtschaftsministerin Juliane Rumpf schon verstehen.

Andererseits sagte Gesundheitsminister Heiner Garg fast zeitgleich: "Die Weichen für gesunde Ernährung werden in der Kindheit gestellt." Und er fügte hinzu: "Bei den Schuleingangsuntersuchungen 2007 waren in Schleswig-Holstein zehn Prozent der Kinder übergewichtig, vier Prozent schwer übergewichtig." Gargs Ministerium fördert in Plön und Ostholstein zusammen mit dem Kinderschutzbund Programme zur Ernährungserziehung besonders in Familien aus sozial schwierigen Verhältnissen und in Familien mit Migrationshintergrund. "Kinder und Jugendliche aus diesen Gruppen sind besonders betroffen", schreibt das Sozialministerium. Beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte heißt es dazu: "Je älter Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, den Teufelskreis aus falscher Ernährung, mangelnder Bewegung und Übergewicht zu durchbrechen."

Gegessen wird also genug, oft sogar insgesamt zuviel und vom Richtigen zu wenig. 200 bis 230 Gramm Obst und Gemüse täglich, empfiehlt das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. Dass dies in vielen Familien nicht die Realität ist, sehen Kinderärzte täglich in ihren Praxen. Liegt es am Geld? Vermutlich auch, jedoch nicht ausschließlich: In den Problemfamilien weiß häufig niemand, dass es nicht nur gesünder, sondern auch billiger ist, Obst und Gemüse lose zu kaufen und frisch zuzubereiten, als Fertiggerichte auf den Tisch zu bringen. Wenn "süß" die einzige von Kindern geschätzte Geschmacksrichtung ist und "würzig" (Kohlrabi, Paprika) generell abgelehnt wird, dürfte das auf Gewöhnung zurückzuführen sein.

Stephan Esser, bei der Bildungsgewerkschaft GEW in Kiel zuständig für Kindergärten und Vorschulerziehung, sagt dazu: "In vielen Familien wird in der Küche nur noch aufgewärmt." Wie man eine Suppe selber kochen oder einen Pfannkuchen backen kann, erleben viele Kinder zum ersten Mal in der Schule. Und selbst in vielen Schulen, die Verbraucherkunde oder Hauswirtschaft unterrichten - das tun längst nicht alle - gibt es ein schulspezifisches Problem: den Pausenkiosk des Hausmeisters mit fertig belegten Weißmehlbrötchen und zuckerhaltigsten Müsliriegeln. - Schon besser sieht der Umgang mit Obst und Gemüse in Kindertagesstätten aus, wo der selbst geschnippelte - und aus dem eigenen Etat bezahlte - Rohkostteller fast selbstverständlich geworden ist.

Kostenloses Schulobst, am besten von den Kindern selbst verzehrfertig zubereitet, wäre "nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser als nichts", sagt die GEW. Viele Lehrer bleiben skeptisch, weil sie nicht wissen, wie sie diese zusätzliche Aufgabe in den Stundenplan einbauen können. - Vielleicht am besten mit Elterninitiative wie an der Rudolf-Tonner-Schule in Neumünster: Seit drei Jahren schneiden dort fünf Mütter und eine Großmutter jeden Tag sechs bis sieben Kilo Äpfel, Möhren, Paprika und Orangen, die dann von einer Klasse in der großen Pause verteilt werden. "Die Kinder stehen Schlange", berichtet die Presse. Das Geld für Obst und Gemüse erwirtschaftet die Elterninitiative mit ihrer Milch- und Brötchenbar: zehn Cent Überschuss pro Brötchen machen's möglich.


*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201001/h100104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


*


Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2010
63. Jahrgang, Seite 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2010