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INITIATIVE/068: Migranten - Große Hilfsbereitschaft in Kiel für Menschen ohne Papiere (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7/2011

Migranten
Große Hilfsbereitschaft in Kiel für Menschen ohne Papiere

Von Dirk Schnack


Das Medi-Büro in Kiel hat Kontakt zu rund 40 Arztpraxen, die bereit sind, illegalisierten Menschen zu helfen. Positive Resonanz des Migrantenforums.


Nicht jeder Mensch in Deutschland hat Zugang zum Gesundheitswesen. Laut Schätzungen gibt es Hunderttausende Migranten und Flüchtlinge, die sich ohne Papiere in Deutschland aufhalten. Für Schleswig-Holstein variieren die Schätzungen zwischen 1.000 und 10.000. Aus Angst vor Entdeckung trauen sich die illegalisierten Menschen auch bei schwerwiegenden Erkrankungen nicht in das deutsche Gesundheitssystem. Die Folgen sind oft Verschleppung, Ansteckung und eine Verschlimmerung des sozialen Elends.

An bundesweit 30 Standorten helfen ehrenamtliche Mitarbeiter in sogenannten Medi-Büros diesen Menschen, einen anonymen Zugang zum deutschen Gesundheitswesen zu bekommen. Die größte Hürde dabei ist die Angst, entdeckt zu werden. "Ärzte dürfen keine Daten an Ausländerbehörden weitergeben", betonen deshalb Mona Golla und Surya Stülpe vom Kieler Medi-Büro. Sie stellten ihr Angebot im Juni dem Kieler Migrantenforum vor und erhielten dafür breite Anerkennung.

Wie wichtig die Arbeit der Medi-Büros ist, wird aus dem Arbeitshintergrund der illegalisierten Menschen deutlich. Weil sie ohne Papiere keine sozialversicherungspflichtige Anstellung finden, sind sie auf schwere Tätigkeiten angewiesen, die sie zum Teil unter unzureichendem Gesundheitsschutz ausführen müssen, etwa bei der Arbeit mit Gefahrenstoffen. Weil sie zudem schlecht bezahlt werden, arbeiten sie zum Teil deutlich länger als acht Stunden täglich und sind damit anfälliger für Erkrankungen.

Wer sich trotz Angst vor Aufdeckung der wahren Identität in eine Praxis traut, zahlt entweder bar oder nutzt fremde Krankenversicherungskarten. Die meisten aber scheuen dieses Risiko und nehmen damit in Kauf, etwa Rückenprobleme nicht auszukurieren und weiterhin Tätigkeiten auszuführen, bei denen sie schwer heben müssen.

Durch Mund zu Mund-Propaganda hat sich in manchen Städten das Vermittlungsangebot der Medi-Büros unter den Menschen ohne Papiere herumgesprochen. Die Mitarbeiter in den Büros vermitteln außer zu Ärzten Zugang auch zu Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Hebammen und im Einzelfall zu Kliniken. Einer der jüngsten Standorte ist Kiel, wo das Büro einmal pro Woche öffnet. Es ist mit zwei ehrenamtlich tätigen Personen besetzt, wovon immer eine weiblich ist und eine über eine medizinische Ausbildung verfügt. Untersuchungen finden im Büro nicht statt, auch Medikamente werden nicht abgegeben, es wird nur in Praxen vermittelt. Kontakte bestehen in Kiel zu insgesamt 40 Praxen, darunter sieben Hausärzte, sieben Gynäkologen und fünf Pädiater. In den vergangenen Monaten wurden 45 Menschen vermittelt, darunter 13 schwangere Frauen und vier Kinder. Neben der unentgeltlichen ärztlichen Tätigkeit ist das Medi-Büro auch auf Spenden angewiesen, um etwa die Kommunikation zu ihrer Zielgruppe und zu den helfenden Einrichtungen und Arztpraxen zu ermöglichen. Der Kieler Ärzteverein hatte sich bei der Anschubfinanzierung engagiert.

Auf Bundesebene fordert der Verbund der Medinetze die Abschaffung des nach seiner Ansicht diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und des § 87 AufenthG, der die Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen an die Ausländerbehörde vorsieht. Was viele nicht wissen: Auch viele hier lebende EU-Bürger haben keine oder nur unzureichende Krankenversicherungen und erhalten deshalb häufig nicht die nötige gesundheitliche Versorgung. "Wenn Deutschland im eigenen (wirtschaftlichen) Interesse die EU-Osterweiterung vorantreibt, muss es auch für die gesundheitliche und sozialrechtliche Absicherung der nach Deutschland immigrierenden EU-Ausländer sorgen", forderte das Medinetz-Bundestreffen. In Kiel entfällt nach Angaben der ehrenamtlichen Mitarbeiter jede zweite Vermittlung des Medi-Büros in eine Arztpraxis auf einen EU-Bürger.

Info: www.medi-bueros.org


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201107/h11074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juli 2011
64. Jahrgang, Seite 24
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2011