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INITIATIVE/060: Ärzte gegen den Krieg - Ein Blick in die Geschichte, Teil 4 (IPPNWforum)


IPPNWforum | 124 | Dezember 2010
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Ärzte gegen den Krieg
- Ein Blick in die Geschichte - (Teil 4)


In den ersten drei Teilen unserer Serie beleuchtete Christian Jenssen die Anfänge ärztlicher Friedensinitiativen und spannte einen weiten Bogen von Henry Dunant zu Rudolf Virchow, über Georg Friedrich Nicolai zu Albert Schweitzer ...



The Nucleoholics

Das 1963 unterzeichnete partielle Teststopp-Abkommen war für Albert Schweitzer "eine Morgenröte. Die Sonne kann aber erst aufgehen, wenn alle Versuchsexplosionen, auch die unterirdischen, aufhören." Die Uhr der Atomic Scientists konnte auf 12 Minuten vor 12 Uhr zurückgestellt werden. Zwei Jahrzehnte später wartete die Menschheit weiter vergebens auf diesen Sonnenaufgang. In den Magazinen der Atommächte lagerten mehr als 10.000 strategische Kernwaffen. Der nukleare Overkill von 15 Milliarden Tonnen TNT - mehr als vier Tonnen TNT für jeden Menschen dieser Erde - wurde täglich durch zehn neue Bomben erweitert. 1980 rückte der Zeiger der Atomuhr wieder auf 7 Minuten vor 12, das Bulletin of the Atomic Scientists beschrieb das Verhalten der Sowjetunion und der USA als das von "Nucleoholics".

Parallel zum atomaren Wettrüsten boomte die nukleare Energieerzeugung. In dieser Situation sammelte der amerikanische Assistenzarzt Ira Helfand im Sommer 1978 zur Unterstützung eines Referendums in Cambridge (Massachusetts) Literatur über die medizinischen Folgen der Atomenergie und wandte sich mit der Bitte um Unterstützung an die australische Kinderärztin Helen Caldicott, die seit 1977 an der Harvard Medical School arbeitete. Caldicott kämpfte bereits seit den französischen Atomtests auf dem Mururoa-Atoll 1971 gegen Atomtests und Uranbergbau.

Wenige Tage nach dieser Begegnung trafen sich zehn Bostoner Ärzte bei Caldicott und beschlossen, als Ärzte die breite Öffentlichkeit über die Risiken der Atomenergie zu unterrichten. Um schnell tätig werden zu können, wurden die Physicians for Social Responsibility (PSR) reaktiviert, die seit 1961 im Vereinsregister eingetragen waren, aber das letzte Mal 1968 im Vietnam-Krieg aktiv gewesen waren. Frühe Gründungsmitglieder wie Bernard Lown und Victor Sidel unterstützten die Gruppe, weitere bekannte Bostoner Ärzte wie der Psychiater Eric Chivian schlossen sich an. Von langer Hand vorbereitet, machte PSR am 29. März 1979 ihre Neugründung mit einer Anzeige im New England Journal of Medicine und einem Treffen in Boston bekannt - zufällig am Tage nach der partiellen Kernschmelze im Reaktor Three Miles Island nahe Harrisburg. Durch dieses Zusammentreffen der Ereignisse war die öffentliche Aufmerksamkeit überwältigend, innerhalb weniger Tage traten 500 Mitglieder bei.


The Final Epidemic

Im Februar 1980 organisierten PSR ein großes Symposium "The Medical Consequences of Nuclear War". Dank der Teilnahme hochrangiger Mediziner fand es ein großes Medienecho, das durch eine Anzeige in der New York Times noch verstärkt wurde. Diese Anzeige beinhaltete Briefe des Symposiums an Leonid Breschnew und Jimmy Carter, deren Antwortbriefe ebenfalls in der New York Times veröffentlicht wurden. Das Symposium wurde in weiteren großen Städten der USA fortgesetzt und als Buch (The Final Epidemic") und Dokumentarfilm ("The Last Epidemic") jedem zugänglich gemacht. Dies alles machte einer breiten Öffentlichkeit deutlich, dass es sich nicht um eine politisch motivierte Kampagne handelte, sondern hier Ärzte aus Sorge um den kritischen Zustand des Planeten "globale Präventivmedizin" praktizierten.

1979 reiste Helen Caldicott nach Großbritannien - auf Einladung von Claire Ryle, der Tochter von Sir Martin Ryle, der 1938 in "The Doctor's View of War" die internationale Ärzteschaft aufgerufen hafte, sich der Mitwirkung in Kriegen zu verweigern (siehe forum 123). Dieser Besuch führte in Großbritannien zur Gründung der Medical Campaign against Nuclear War (MCANW), und in der Folge zu ähnlichen Organisationen in Westeuropa, Skandinavien, Australien, Neuseeland, Kanada und Japan. In der BRD entstanden zahlreiche Ärzteinitiativen gegen Atomenergie, in der DDR fanden sich innerhalb des informellen Netzwerkes der Friedensdekaden der Evangelischen Kirche Gruppen von "Ärzte für den Frieden" zusammen.


International Physicians for the Prevention of Nuclear War

Das atomare Wettrüsten wurde begleitet und ermöglicht durch eine gegenseitige Dämonisierung der Supermächte. Es war Bernhard Lown, der 1979 den Mut hatte, diesen irrationalen Feindbildern eine neue Bürgerdiplomatie auf der Grundlage internationaler medizinischer Zusammenarbeit entgegenzusetzen. Seine Grundidee war, dass sich eine solche Bewegung nur dann würde etablieren können, wenn sie sich direkter politischer Stellungnahmen enthielte und alleine aus medizinischen Gründen auf ein einziges Ziel fokussierte: die Abschaffung der Atomwaffen. Die bestehende Zusammenarbeit auf dem Gebiet des plötzlichen Herztodes ermöglichte Lown 1979 die Kontaktaufnahme zu Jewgenij Tschasow, damals Generaldirektor des kardiologischen Forschungszentrums der UdSSR und behandelnder Arzt des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew. Im Dezember 1980 trafen sich je drei amerikanische und sowjetische Ärzte in Genf und konnten sich trotz unüberbrückbarer politischer Meinungsverschiedenheiten auf eine Agenda einigen. International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) wurden als eine nicht-politische Föderation nationaler Ärzteorganisationen gegründet, die sich alleine der Untersuchung der medizinischen Folgen von Atomwaffen und eines Atomkriegs sowie der Aufklärung von Medizinern, der breiten Öffentlichkeit und der politischen Führungen widmen sollte.

Der erste Kongress der IPPNW im März 1981 vereinigte 72 Ärzte aus 12 Ländern. Vier Arbeitsgruppen diskutierten die medizinischen und ökologischen Folgen eines Atomkrieges, die Rolle der Ärzte nach einem Nuklearschlag, die wirtschaftlichen und psychologischen Kosten des atomaren Wettrüstens und die Möglichkeiten eines ärztlichen Beitrags zur Prävention. Nach eingehender Debatte entschied man sich gegen eine Strategie der diskreten Einflussnahme auf die Regierungen und für ein öffentlichkeitswirksames Auftreten.

Unter der Co-Präsidentschaft von Lown und Tschazow gelang es der IPPNW weltweit Ärzte unter Überbrückung breiter politischer Gräben in einer medizinisch motivierten Bewegung zusammenzuführen. Nationale und internationale medizinische Organisationen und die WHO griffen die Argumentation der IPPNW auf, führende internationale Medizin-Zeitschriften publizierten sie. Die Botschaft der IPPNW wurde im Westen wie im Osten gehört, die IPPNW wurde zu einem Modell der weltweiten Zusammenarbeit und der Überwindung entmenschlichender Feindbilder in einer von der Blockkonfrontation zerrissenen Welt. Dies gelang trotz der Einflussnahme der kommunistischen Parteien auf die IPPNW-Komitees in den Ostblockstaaten (das sich z.B. in der DDR individueller Mitgliedschaft und Einbeziehung der "Ärzte für den Frieden" versperrte) und trotz der zunehmenden Denunziation der IPPNW als Moskau-hörige Organisation durch einflussreiche Medien in den NATO-Staaten.

Ethische und wissenschaftliche Überzeugungskraft der IPPNW sowie die moralische Glaubwürdigkeit ihrer Protagonisten riefen auf beiden Seiten des "eisernen Vorhangs" eine gleichermaßen breite Resonanz bei Ärzten und Medizinstudenten hervor.


Friedensnobelpreis 1985

1985 erhielten die IPPNW, nunmehr 135.000 Ärzte und Medizinstudenten aus 41 nationalen Sektionen, den Friedensnobelpreis für "ihren bedeutsamen Dienst an der Menschheit durch Verbreitung verlässlicher Informationen und Schaffung eines Bewusstseins über die katastrophalen Folgen eines Atomkriegs". Dennoch beließ es die IPPNW nicht bei der alleinigen Beschreibung der fatalen Prognose einer Fortsetzung des nuklearen Wettrüstens. 1985 rief sie zu einem kompletten Moratorium aller atomaren Versuchsexplosionen als einfachem und leicht kontrollierbarem erstem Schritt der atomaren Rüstungskontrolle und Abrüstung auf. Die Ceasefire-Kampagne hat wesentlich dazu beigetragen, dass 1996 ein umfassender Teststopp-Vertrag abgeschlossen werden konnte. Projekte wie SatelLife, East-West Physicians Campaign und Concerts for Peace sind Beispiele für einen sich auch thematisch ausweitenden Dialog zwischen Ärzten aus Ost und West, Nord und Süd.


Atomwaffenfreie Welt, Frieden, Gesundheit, soziale Verantwortung

Als sich 1989 der Kalte Krieg seinem Ende zu neigte, hatte die IPPNW mehr als 200.000 Mitglieder in über 80 Ländern. In einem ideologisch weniger aufgeheizten Umfeld war es nun möglich, die Agenda globaler präventiver Verantwortung zu erweitern. Auch im neuen Jahrtausend setzt sich die IPPNW für eine Welt ohne Atomwaffen ein, z.B. mit der ICAN-Kampagne - nicht nur, weil Atomwaffen Mittel zu grauenhafter Massenvernichtung sind, sondern auch weil sie als Symbole und Symptome für eine Weltordnung stehen, die weiter auf Gewaltandrohung und Krieg, Ungleichheit, rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen baut.

In der Tradition Virchows ruft die IPPNW die Ärzteschaft auf, ihrer medizinischen und sozialen Verantwortung für das Überleben des Lebens auf dem Planeten und für Frieden durch Gesundheit gerecht zu werden. 30 Jahre nach Gründung der IPPNW stehen die Zeiger der Uhr der Atomic Scientists wieder auf 6 Minuten vor 12.

Christian Jenssen
c.jenssen@khmol.de


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Quelle:
IPPNWforum | 124 | Dezember 2010, S. 30-31
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2010