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ARTIKEL/467: Hospizarbeit - Der letzte Weg in Würde (welt der frau)


welt der frau 3/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Der letzte Weg in Würde

Von Anna Weidenholzer


In der Begleitung von Sterbenden ist vor allem das Zuhören wichtig. Ein Besuch bei einer ehrenamtlichen Hospizmitarbeiterin und ihrer Patientin.


Auf dem Boden von Herta P.s(*) Wohnzimmer steht ein dicker roter Ordner, er ist gefüllt mit Zetteln mit ihren Krankheiten. "Es sind unheilbare Krankheiten, an denen werde ich auch sterben", sagt die 61-Jährige. Sie sitzt mit Elfi Schinko auf der Couch in ihrem Wohnzimmer. Elfi Schinko ist ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Mobilen Hospiz der Caritas Linz. Sie begleitet Schwerkranke in ihrer letzten Lebensphase, Herta P. seit sechs Monaten.

Die 61-Jährige leidet seit zwölf Jahren an einer chronischen Lungenerkrankung, hat Gewächse in der Schilddrüse und Niere. Sie lebt im ersten Stock eines Mehrparteienwohnhauses, wenige Meter Weg sind für sie beschwerlich wie ein Halbmarathon. Es sind Kleinigkeiten, die Herta P. zu schaffen machen. "Auf gewisse Dinge kommst du als gesunder Mensch nicht. Ich bin auch von heute auf morgen krank geworden. Manchmal bin ich so wild auf mich selbst, wenn ich nicht kann, wenn ich bei den primitivsten Dingen anstehe", sagt sie. Was sie sich wünscht, ist eine flexible männliche Hilfe. Jemand, der sie mit dem Rollstuhl in ein Auto heben kann, der sie schiebt, damit sie mobil sein kann. Sinnvoll einen kleinen Teil seiner Freizeit verbringen, nennt sie es und beschreibt damit auch die Tätigkeit der Frau, die ihr auf der Couch gegenübersitzt.


Eine Kämpferin

Einmal pro Woche kommt Elfi Schinko in die Wohnung von Herta P., zwei- bis dreimal pro Woche telefonieren die Frauen, je nachdem, in welcher Verfassung Herta P. gerade ist. Es sind sehr unterschiedliche Stunden, die der großen Traurigkeit gibt es ebenso wie jene, in denen es bergauf geht, erzählt Elfi Schinko. Was sich Herta P. bewahrt hat, sind ihre Stärke und ihr Humor. Sie ist eine Kämpferin, ein Leben lang ist sie nichts anderes gewesen. Es begann mit der Entscheidung zu einem männlich dominierten Lehrberuf. Dann die erste Krebsdiagnose, als sie knapp über zwanzig Jahre alt war. Sie wurde zur Alleinerzieherin, der Exmann war unauffindbar und zahlte keine Alimente. Sie wohnte mit ihrer Tochter in einer Wohnung mit WC und Wasser am Gang und arbeitete von zu Hause aus. Das alles hat Herta P. geschafft. Jetzt sitzt sie Elfi Schinko gegenüber und erzählt diese Geschichten. Es sind Geschichten aus vergangenen Zeiten, es sind Dinge, die aufgearbeitet werden wollen, und es tut gut, sie zu erzählen. Seit Elfi Schinko in die kleine Wohnung im ersten Stock kommt, ist Herta P. nicht mehr im Krankenhaus gewesen. Sechs Monate, so lange wie schon seit Jahren nicht mehr. Es ist ein besonderes Verhältnis zwischen den beiden Frauen. "Diese Nähe ist für mich sehr neu", sagt Elfi Schinko, die zuvor zwei männliche Patienten betreut hat. Beide sind mittlerweile verstorben.


Über Entscheidung dankbar

Mit 53 Jahren entschloss sich Elfi Schinko, ihre Boutique in Gallneukirchen aufzugeben und sich der Hospizarbeit zu widmen. Eine Entscheidung, für die sie heute sehr dankbar ist: "Seitdem ich Sterbende begleite, hat mein Leben eine neue Qualität bekommen. Ich bin im Alltag viel gelassener geworden, merke, wie unwesentlich viele Dinge sind. Ich bin achtsamer im Umgang mit anderen Menschen, hinterfrage mehr." Der Entschluss dazu kam nicht von heute auf morgen. Für Elfi Schinko stand lange fest, dass sie sich einmal in der Hospizarbeit engagieren würde. Ausschlaggebend war der Tod ihrer besten Freundin, die ein kleines Kind zurückließ. Elfi Schinko wollte mehr wissen, erfahren. Und kam so zum Mobilen Hospizteam der Caritas.


Starke Helferinnen

44 Ehrenamtliche sind dort in der Hospizarbeit tätig, die 39 Frauen eindeutig in der Überzahl. Österreichweit werden von der Caritas jährlich etwa 4.000 Betroffene von 400 geschulten und angestellten MitarbeiterInnen im Bereich Hospiz und Palliative Care betreut. Ein Großteil der Ehrenamtlichen hat bereits Erfahrungen mit Verlusten und Todesfällen gemacht. "Es muss einem selbst gut gehen, dass man so etwas machen kann. Wir nehmen nur psychisch stabile Leute, niemanden, der mitleidet oder ein Helfersyndrom hat", sagt Romana Brix, Palliativschwester und Stützpunktleiterin des Mobilen Hospizes Linz, Linz-Land und Urfahr-Umgebung. Neunzehn mobile Hospizteams gibt es in Oberösterreich, angeboten von der Caritas, dem Roten Kreuz, der Volkshilfe und anderen Trägervereinen. Palliativstationen sind in fünf Krankenhäusern eingerichtet.

Bis zuletzt in der vertrauten Umgebung sein, dabei sollen die PatientInnen mit dem mobilen Hospiz unterstützt werden. "Viele wollen unbedingt weg vom Krankenhaus, dem Geruch", sagt Palliativschwester Romana Brix. Ehrenamtliche und das Palliativteam arbeiten dabei sehr eng zusammen. Es ist sehr unterschiedlich, wie lange jemand betreut wird, so Brix. Rund siebzig PatientInnen werden derzeit vom Mobilen Hospiz der Caritas begleitet. Dazu gehören Besuche am Tag, aber auch Sitzwachen in der Nacht. Denn vor allem in der Nacht kommen die Probleme und Ängste hoch.


Achten auf Bedürfnisse und Würde

Palliativbetreuung bedeutet, den Menschen Sicherheit zu geben. Sterbenden wird ihre Würde gelassen, es wird auf ihre Bedürfnisse geachtet, jeder Schritt wird vorher angekündigt. "Das fängt damit an, die Decke nicht einfach wegzunehmen, ohne vorher etwas zu sagen. Das passiert noch so oft anders", erklärt Romana Brix. Palliativ umschreibt das Gegenteil von kurativ. "Es ist klar, dass es mit den Patienten bergab geht. Symptomkontrolle gehört zur Palliativmedizin wie Schmerztherapie. Der natürliche Prozess, der Sterbeprozess soll zugelassen werden - das ist oft ein Problem in Familien", sagt Lore Falkner. Die Pensionistin arbeitet seit acht Jahren ehrenamtlich beim Mobilen Hospiz Linz.

Es war das Lachen, das sie dorthin gebracht hat. Lore Falkner war zuvor in der Betreuung von Langzeitarbeitslosen im Erdgeschoß des Gebäudes tätig, wo auch das Team des Mobilen Hospizes untergebracht ist. "Ich dachte mir: Wie kann das sein, die beschäftigen sich mit dem Sterben und lachen so oft." Mit sechzig Jahren ging sie in Pension, ein halbes Jahr später trat sie ihr Ehrenamt an. Lore Falkner hat wie Elfi Schinko und alle anderen Ehrenamtlichen zuerst eine Ausbildung, danach ein Praktikum durchlaufen. Die Gruppe kennt sich gut, alle sechs Wochen treffen sich die Ehrenamtlichen, es gibt gemeinsame Ausflüge und Fortbildungen.


Ohne Zeitdruck

Was das Ehrenamt vom sozialen Beruf unterscheidet, ist die Zeit, die einem bleibt. Zeitdruck gibt es in der Hospizarbeit keinen. "Für mich war das eine ganz neue Erfahrung. Wenn die Zeit keine Rolle spielt, können intensive Augenblicke und Gespräche zustande kommen", sagt Elfi Schinko. Und Zeit für Gespräche braucht es. "Sehr oft können Menschen nicht gehen, wenn familiäre Probleme nicht gelöst sind", erzählt Lore Falkner. Es geht um das Zuhören, das Redenlassen. Nicht nur die Sterbenden, auch die Angehörigen brauchen jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten können. Bis zu siebzig Prozent ihrer ehrenamtlichen Arbeit entfalle auf die Angehörigenbetreuung, schätzt Lore Falkner: "Ich stelle mir oft die Frage: Wer braucht mich mehr?"


Beim Sterben helfen

Der Tod ist aus dem Leben der Ehrenamtlichen nicht wegzudenken. Sprechen Romana Brix und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen Elfi Schinko und Lore Falkner über ihn, wird ihm der Schrecken, das Fürchterliche genommen. "Manchmal habe ich das Gefühl, der Tod gehört in meinem Leben einfach dazu. So wie Hebammen bei der Geburt helfen, sind wir Hebammen, die beim Sterben helfen", sagt Lore Falkner. Menschen haben verschiedene Wege zu gehen. "Manche sterben leichter, wenn jemand Außenstehender dazukommt, andere wollen beim Sterben an den Händen gehalten werden, als ob sie rüberspringen, andere wollen wiederum alleine sein", erzählt Palliativschwester Brix. Weh tut es trotzdem, wenn es jemanden aus dem Freundes- oder Familienkreis trifft. "Es wird mir selbst nicht anders gehen als unseren Patienten. Wenn ich eine Krebsdiagnose bekomme, werden mir all diese Dinge, die man durchmacht, nicht erspart bleiben - die Angst, das Weiterleben-Wollen", sagt Elfi Schinko.


Ungeheurer Lebenswille

Einen Tag später sitzt sie wieder auf der Couch in Herta P.s Wohnung. Ein Glas mit Pinseln steht neben den kleinen Figuren auf dem Bücherregal. Herta P. malt Bilder. Ein Stillleben hängt an der Wand, Obst ist darauf zu sehen. Bananen darf Herta P. nicht mehr essen, wie so vieles nicht. Manche Dinge lässt sie sich nicht nehmen, wie ihren Kaffee, ab und zu auch die Bananen. Drei Jahre verbrachte Herta P. mehr Zeit in Krankenhäusern als in ihrem Zuhause. Ein halbes Jahr ist sie jetzt schon nicht mehr im Spital gewesen, das halbe Jahr, seit Elfi Schinko wöchentlich auf ihrer Couch Platz nimmt. "Es ist ein Gefühl, du bist nicht alleine, du hast wen, der hinter dir steht - so wen musst du lange suchen."

Herta P. nimmt keine Psychopharmaka. Sie will wissen, wann sie oben ist und wann unten. "Sonst lebe ich nicht." Und sie erzählt an diesen Nachmittagen in der Wohnung im ersten Stock ihre Geschichten. Wie die von ihrem Hausarzt, der meinte: "Ich habe noch nie jemanden mit so vielen unheilbaren Krankheiten gesehen", als Herta P. ihm zum ersten Mal ihren roten Ordner mit den Krankheiten zeigte. Es sind berührende Geschichten, auch viele, die einen betroffen machen. Und es ist eine unglaublich starke, humorvolle Frau, die sie erzählt. Eine Frau mit vielen Krankheiten und einem ungeheuren Lebenswillen. "Ganz egal, wie ich es nehme, die Krankheiten sind da. Da versuch ich halt, dass ich es besser nehme", sagt Herta P. Sicher, es gibt sie, die Tage, an denen ihr die Kraft zum Kämpfen fehlt. Aber es gibt jetzt auch jemanden, den sie an solchen Tagen anrufen kann.


Erinnerungen

Sieht man Herta P. und Elfi Schinko und folgt der Vertrautheit ihres Umgangs, könnten es auch zwei gute Freundinnen sein, die sich hier gegenübersitzen. Einzig das Siezen stört dieses Bild. An der Wand hinter Herta P. hängt ein sibirischer Schwarzbär. "Der ist von einem Seelenmenschen", sagt sie, mehr nicht. Ihre Augen zeigen die Bedeutung des Satzes. Es beginnt eine Diskussion über Erinnerung, was von vergangenen Tagen bleibt. Herta P. ist überzeugt, dass es nur positive Erinnerungen gibt. "Wenn ich mich an die negativen Dinge erinnern würde, wäre es nicht zum Ertragen. In Erinnerung bleibt der Hauch von Kleinigkeiten, die einen berühren", sagt sie und ein wenig später: "Ich habe viel Glück in meinem Leben."

(*) Name auf Wunsch der Patientin geändert

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
März 2010, Seite 52-55
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2010

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