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SUCHT/603: Online in die Abhängigkeit? Computerspiele und Sucht (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 135 - Heft 1, Januar 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Online in die Abhängigkeit?
Computerspiele und Sucht

Von Jens Wiemken


Wenn über Spielsucht im Zusammenhang mit Computerspielen gesprochen wird, geht es um Verhaltenssucht, eine stoffunabhängige Sucht, und nicht um Drogen. Computerspiele machen nicht körperlich abhängig, und nicht jedes Computerspiel macht gleich süchtig. Kinder und Jugendliche, die in einem normalen Zeitumfang, und sei es auch täglich, ihr Spiel spielen, sind nicht sofort suchtgefährdet, sondern gehen ihrem Hobby nach. Auch eine länger andauernde, intensive "Daddelphase" kann kein Hinweis auf Spielsucht sein, wie mir Klaus seinerzeit klarmachte.


Vom Computerspiel zum Online-Rollenspiel ...

Klaus gehörte zu den ersten Computerkids in einem wöchentlich stattfindenden Computerspieletreff in einem Jugendzentrum. Als er von seiner Mutter angemeldet wurde, war er elf Jahre alt. Er spielte intensiv, kannte alle Spiele und war mit Leib und Seele dabei. Selbst die Geräusche der Spiele ahmte er nach. Es klang fast wie im Original. Wir spielten oft zusammen, und ich versuchte ebenfalls die Geräusche zu imitieren, was mir aber nicht so gut wie ihm gelang. Klaus gefiel dies jedoch, und er genoss das Spielen mit mir. Als anderthalb Jahre nach Eröffnung des Jugendzentrums alle Computer gestohlen wurden und ich den Kids ankündigte, ich wisse nicht, wie und ob es überhaupt weitergehen würde, hatte Klaus Tränen in den Augen. Zum Glück ersetzte die Versicherung die gestohlenen Geräte, und das Projekt wurde fortgesetzt. Klaus erschien wöchentlich, spielte weiterhin auch zu Hause intensiv, aber wir konnten uns mit der Zeit auch ohne die Imitation von Spielgeräuschen gut über Spiele und ganz einfach das Leben unterhalten. Er ging auf das Gymnasium und lieferte zu Hause gute Schulleistungen ab. Kurz nach seinem 16. Geburtstag kam er zu unserem wöchentlichen Treffen und sagte mir, dass er jetzt nicht mehr kommen werde. Ich sah ihn überrascht an. Klaus erklärte, er würde jetzt Modellbau machen. Und ging. Er besuchte mich noch ein paarmal, um sich mit mir auszutauschen und die "Neuen" anzuschauen.

Die Geschichte mit Klaus fand in den Neunzigern statt. Da gab es noch keine Online-Rollenspiele, die rund um die Uhr laufen. Diese im Gegensatz zu normalen Rollenspielen nie endenden Spiele verführen bestimmte Spieler zu besonders exzessivem Spiel, weil sie anscheinend permanent Bestätigung einheimsen. Spieler mit bestimmten Veranlagungen wie zum Beispiel mangelnder Impulskontrolle oder Spieler, denen es an Erfolgserlebnissen fehlt, können ihre Belohnung eigenhändig kontrollieren, indem sie einfach das Onlinespiel starten und im Spiel bleiben. Denn für einen erfahrenen Spieler ist es ein Leichtes, im Onlinespiel auf Levels, Schwierigkeitsgrade und Punkte Einfluss zu nehmen. In der Wirklichkeit stellt die Fähigkeit, seine Belohnungswünsche den Regeln und Ordnungen der Gesellschaft anzupassen, eine Lern- und Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche dar. Im wirklichen Leben erhält kein Kind alle Viertelstunde von den Eltern für jede Tätigkeit ein Lob. Ein Online-Rollenspiel schafft dies.


Wann ist Spielverhalten pathologisch?

Im Sommer 2007 lehnte die American Psychiatric Association (APA) die Klassifizierung der exzessiven Nutzung von Internet- und Computerspielen als Sucht ab. Die Organisation entschied, Computerspielsucht in die für 2012 geplante Neuauflage des Kriterienkatalogs psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz: DSM) nicht mit aufzunehmen.(1) Eine Anerkennung im DSM wäre auch für deutsche Suchtexperten richtungsweisend gewesen, da auch sie sich an dem Kriterienkatalog orientieren. Dies reichte aber nicht, um die Diskussion zu Computerspielsucht verebben zu lassen.

Computerspielsucht wird von Eltern oft an der Dauer des Spiels festgemacht. Dabei muss aber selbst nach Meinung der Experten eine erhebliche Zeit aufgebracht werden, bevor auch sie von Spielsucht reden. Im Flyer der 'Sabine M. Grüsser-Sinopoli Ambulanz' in Mainz, die im Rahmen eines Modellprojektes erstmalig in Deutschland auch gruppentherapeutische Behandlungsangebote für das Störungsbild "Computerspiel- bzw. Internetsucht" anbietet, heißt es gar, Anzeichen für Spielsucht lägen vor, wenn der Spieler mindestens über einen Zeitraum von zwölf Monaten "in einer von der Norm abweichenden Form und über das Maß hinaus" dem Computerspiel frönt. Wenn Kinder beispielsweise nach Neuerscheinen eines lang erwarteten Computerspiels ein paar Wochen intensiv spielen, kann auch nach Expertenmeinung noch nicht von Spielsucht gesprochen werden.

Hilfreich wäre es, hier Verständnis für die Spielfaszination der kleinen Spieler aufzubringen und das Etikett "von der Norm abweichend" kritisch in Augenschein zu nehmen. Stundenlanges Computerspiel weicht in einer Gesellschaft der Buch- oder Filmgeneration von der Norm ab - stundenlanges Lesen oder gar Fernsehschauen nicht. Der "Bücherwurm" ist gesellschaftlich kompatibler als der "Computerspielwurm".

Die Experten sind sich darüber einig, dass Spielverhalten erst dann als krankhaft einzuschätzen ist, wenn weitere Faktoren hinzukommen: Spätestens dann, wenn sich die schulischen Leistungen verschlechtern, der Filius seine Freunde vernachlässigt, das Spiel nicht mehr von sich aus beenden kann und zugleich körperliche Symptome wie Unruhe und Nervosität zeigt, falls er mal eine längere Zeit nicht spielt, sollten Erwachsene aktiv werden. Eines der wichtigsten Merkmale für Spielen mit Suchtcharakter ist der fehlende Spielspaß. Schon der Spielforscher Huizinga machte in seiner Spieltheorie den Spaß am Spiel als ein wichtiges Merkmal aus.


Was Eltern beachten sollten

Bevor Eltern jedoch Suchtberatungen aufsuchen, sollten sie zunächst einmal offen und ehrlich mit ihrem Kind reden und dabei Schuldzuweisungen und Beschimpfungen unterlassen. Eltern sollten tunlichst vermeiden, ihr angeblich spielsüchtiges Kind als "dumm" zu bezeichnen und herabzuwürdigen. Auch sollten die Eltern nicht das Spiel, von dem ihr Kind gerade nicht lassen kann, für alles verantwortlich machen, denn in der Regel ist es nicht der wahre Grund für das Suchtverhalten. Wenn sich Eltern vorab schon einmal informieren, können sie ihrem Kind erklären, was Spiel- und Onlinesucht ist, wie es dazu kommen kann, und dann vielleicht gemeinsam nach den Gründen und Ursachen suchen.

"Wichtig ist, dass Eltern herausfinden, was ihre Kinder in der virtuellen Welt eigentlich suchen"

Wichtig ist, dass Eltern überlegen und herausfinden, was ihre Kinder in der virtuellen Welt eigentlich suchen und welche Bedürfnisse sie am Computer erfüllt finden. Wolfgang Bergmann und Gerald Hüther haben in ihrem Buch "Computersüchtig"(2) schon früh aufgezeigt, was Computerspieler in den Spielen suchen:

- klare und verlässliche Strukturen und Regeln, die man einhalten muss, wenn man ans Ziel kommen will;
- eigene Entscheidungen, die man treffen muss und für die man - sollten sie sich als falsch erweisen - ganz allein verantwortlich ist;
- aufregende Entdeckungen, die man machen, und spannende Abenteuer, die man erleben kann;
- Gefahren, Ängste und Bedrohungen, die man überwinden kann;
- Ziele, die man erreichen kann;
- Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man erwerben und sich aneignen kann;
- Kleinigkeiten am Rande, auf die man achten muss;
- Vorbilder, denen man nacheifern kann;
- eigene Erfahrungen, auch Fehler, die klug machen;
- Geschicklichkeit, die man zunehmend besser entwickeln kann;
- Leistungen, auf die man stolz sein kann.


Verbieten?

Den einzigen Weg, Online-Spielsucht zu verhindern, sucht man in Deutschland mal wieder - und das gilt leider auch für einige Fachleute - in Verboten. Der Deutsche Familienverband beispielsweise befürwortete den Vorschlag, den Zugang zu kostenpflichtigen Onlinespielen und zu rund um die Uhr laufenden Onlinewelten und -plattformen generell erst ab 18 Jahren zu öffnen, sodass Minderjährige nur mit Zustimmung der Eltern darauf zugreifen können.(3) Ein Verbot bringt aber bei Online-Rollenspielen noch weniger als bei Offline-Computerspielen, denn viele Kinder und Jugendliche, die im Internet spielen, sind aufgrund ihres geringen Budgets schon zu kostenlosen Onlinespielen gewechselt oder spielen eigentlich kostenpflichtige Rollenspiele selbstorganisiert auf kostenlosen Privatservern. Da die kostenlosen Varianten zum größten Teil nicht über deutsche Internetserver laufen, sind sie von deutschen Verboten überhaupt nicht betroffen.


"World of Warcraft" & Co.: Was an Online-Rollenspielen fasziniert

Über elf Millionen Spieler spielten im November 2008 das bekannteste Online-Rollenspiel, "World of Warcraft". Wer sich an dem Spiel beteiligen möchte, muss monatlich zwischen 10 und 13 Euro für die Servernutzung zahlen. Der Hersteller dürfte auch ohne die inzwischen erschienenen Programmerweiterungen, die ebenfalls von den Spielern gekauft worden sind, die 50 Millionen Dollar Produktionskosten längst eingespielt haben.

In Online-Rollenspielen bewegt sich der Spieler in einer fortlaufenden Welt. Er beginnt das Spiel nicht und kann es auch nicht beenden. Damit brechen Onlinespiele mit dem Spielprinzip, das Kinder als Kennzeichen von Spielen kennen gelernt haben. Der Anfang und das Ende des Spiels werden nicht vom einzelnen, sondern von der Masse der Spiele bestimmt. Gelingt es dem Hersteller, durch seine Vorabwerbung die potenzielle Spielergemeinde so richtig begierig zu machen, dann steigt nach Erscheinen dieses Spiels die Spielerzahl enorm an. Da ist dann was los in der virtuellen Welt. Sinkt die Zahl der Spieler auf den Spielservern, verringert sich auch das Interesse an dem Spiel. Irgendwann sind es dann so wenige, dass das Spiel für den Betreiber nicht mehr rentabel ist. Der Spieler kann in diesem Punkt das Spiel nicht mehr kontrollieren. Er steuert lediglich seinen Charakter und versucht ihn stärker und stärker zu machen. Dazu greift er zunächst einfache Computergegner an oder tötet kleinere Monster oder gefährliche Tiere. Ab einem gewissen Level kommt der Spieler allein nicht weiter. Das Spielprogramm eröffnet ihm neue Aufgaben, so genannte neue Rollenspielquests, die er aber nicht allein lösen kann. So lassen sich beispielsweise die größeren Aufgaben in "World of Warcraft", hier heißen sie "Instanzen", nur in einer Gruppe bewältigen. Der Spieler schließt sich einer Gruppe von Spielern an, man spricht dann von einer "Gilde". Die Gilde ist gewissermaßen ein Verein, dessen Mitglieder die gleichen Ziele verfolgen. In einer Gilde gilt es, komplizierte Aufgaben mit klarer Rollenverteilung zu lösen. Die Ziele bestehen bei den meisten Online-Rollenspielen darin, seinen Helden stärker zu machen, "hochzuleveln". Ein hohes Level bedeutet in der virtuellen Spielwelt auch, einen Status innezuhaben. Erst dann kann der Spieler wirklich erfolgreich in der virtuellen Welt agieren. Gilden müssen sich intern organisieren. Es muss einen Gildenführer geben, es muss Spieler geben, die schon länger dabei sind und mehr Rechte in der Gilde haben, und es gibt die Neulinge. Vom Gildenführer wird vor allem Führungsstärke erwartet: Jeder Heiler und jeder Krieger muss an seinem Platz sein, oft müssen 30 Spieler perfekt zusammenspielen - wie in einer großen Firma. Eines der angesehensten Wirtschaftsmagazine der Welt, die in Boston erscheinende "Harvard Business Review", meinte einmal, ob jemand fähig sei, ein Unternehmen zu gründen und zu leiten, zeige sich vornehmlich daran, dass er bei "World of Warcraft" den Rang eines Gildenführers bekleidet habe.(4) Zumindest in Amerika scheint es daher möglich, aus dem Online-Rollenspiel eine Sprosse für eine Karriereleiter zu machen. Für das Gros der Mitspieler heißt es jedoch, sich mühsam und unter hohem Aufwand hochzuarbeiten, auch das eine Erfahrung, die sie im wirklichen Leben so vielleicht nicht machen.

Ein Offline-Spieler ist mit dem Computer allein, im Online-Rollenspiel wird ein Spieler gebraucht, um in seiner Gilde zusammen gegen große Monster zu kämpfen. So mancher 13-Jährige fühlt sich geehrt, wenn seine Gilde, in der er mit Abstand der Jüngste sein mag, ihm mitteilt, sie brauche seinen Charakter unbedingt am Samstagabend im Kampf gegen den blauen Drachen. Das hebt sicherlich sein Selbstbewusstsein, und so wird er sich dann auch pflichtbewusst pünktlich um 22 Uhr am Samstagabend einfinden, um mit seiner Gilde in einen zweieinhalb bis acht Stunden dauernden Kampf zu ziehen.

Durch immer neue Verbesserungen und Erweiterungen des Programms kann der Spieler bzw. sein Charakter wachsen und immer stärker werden. Die Anerkennung und der Respekt, die ihm die Gilde zollt, zeigen dem Spieler, wie wertvoll er für sie ist. Wirklich sterben kann man in einem Online-Rollenspiel nicht. Man kann nur seine Talente und Fähigkeiten verbessern und immer weiter wachsen. Dafür bietet der Hersteller, der ja schließlich ein Interesse daran hat, die Spieler bei der Stange zu halten, durch Spielerweiterungen immer neue Entwicklungsmöglichkeiten.

Problematisch ist der große Altersunterschied in der Spielwelt "World of Warcraft". Das Spiel wurde von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) ab zwölf Jahren freigegeben, dementsprechend tummeln sich viele Minderjährige in einer Welt, in der sich auch Erwachsene ergehen. Die erwachsenen Mitglieder einer Gilde treffen sich natürlich gern am Samstagabend, um eine größere "Instanz" in Angriff zu nehmen. Die Kämpfe ziehen sich bis in die Nacht hinein. Erscheint der Zwölfjährige nicht oder verlässt er das Spiel mitten im Kampf, könnten ihm durchaus Konsequenzen vonseiten der Gilde drohen. Leider fehlt es an Online-Spielwelten, die nur minderjährigen Spielern vorbehalten sind.


Kostenlose Onlinespiele: Jugendschutz bleibt auf der Strecke

Durch die Verbreitung des Internets sind Onlinespiele zu einem Massenphänomen geworden: entweder in Form von Rollenspielen mit prinzipiell endloser Spielhandlung oder als Flash-Spielchen für zwischendurch. Vor allem bei den vielen kostenlosen Onlinespiel-Angeboten, die sich im Internet präsentieren, bleibt der Jugendschutz bisweilen auf der Strecke. Bei den kostenlosen Spieleseiten im Netz fehlen solche Kontrollen schlicht, weil sie zum einen über internationale Server laufen, also außerhalb der deutschen Gerichtsbarkeit liegen, und zum anderen die Betreiber nicht dazu bereit sind, ihre Spiele der USK zur Prüfung vorzulegen. Eine USK-Prüfung ist stets mit Kosten verbunden, zirka 1000 Euro pro Spiel. Bei einer Internetspieleseite, die über 1000 kleine Spiele anbietet, ist dies für einen Privatmann, der eine kostenlose Seite betreibt, nicht finanzierbar.

Hinzu kommt noch ein weiteres Problem: Die Werbung, die von den Seitenbetreibern zur Finanzierung ihrer Dienstleistung mehr oder weniger automatisch eingeblendet wird, richtet sich eher an Erwachsene und nicht an Kinder. Wenn sich auf derselben Liste auch mal Erotikspiele befinden, hat das zur Folge, dass auf solchen Portalen für diverse Erotik-Angebote geworben wird. In anderen Kategorien wird aufgeregt auf Gewinnspiele und Geldpreise hingewiesen oder über ein Werbebanner der Sofortgewinn garantiert. Würden sich die Anbieter an die Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Hörfunk und Fernsehen halten, dürften sie so genannte aleatorische Werbemittel, also etwa Gratisverlosungen oder Preisausschreiben, gar nicht bringen, wenn sie davon ausgehen, dass gerade Kinder solche Seiten aus Spielleidenschaft aufsuchen.

Die Finanzierung dieser vermeintlich kostenlosen Angebote geschieht aber nicht nur über problematische Werbung, sondern auch über zusätzliche Dienstleistungen, für die dann Gebühren anfallen. Eines der neuen Erfolgsrezepte in der kommerziellen Spielebranche heißt "Free to Play". Das Onlinespiel selbst ist dabei kostenlos, aber wer für seine Spielfigur neue Waffen und Kleider haben will oder spannendere Abenteuer als die in der Kostenlosversion vorliegenden erleben will, muss dafür in die Tasche greifen. Statt also den Spieler mit einem Verkaufspreis oder Abo-Gebühren für das Spiel abzuschrecken, locken die Anbieter mit kostenlosen Angeboten und lassen den Spieler, der gewinnen will oder mehr vom Spiel erleben will, nach und nach immer mehr Geld bezahlen. Einige Online-Rollenspiele wie beispielsweise "Free Realms" richten sich dabei ganz bewusst an die Gruppe der 9- bis 14-Jährigen. Andere Online-Rollenspiele schränken die kostenlose Teilnahme auf einen gewissen Zeitraum oder bis zu einem bestimmten Level ein. Wieder andere gestalten ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) so, dass sich die Nutzerdaten zu Marketingzwecken nutzen lassen.

Diese verwenden große international operierende Firmen wie Zynga, die Spiele in der Community Facebook zur Verfügung stellen. So genannte Social Games wie "CityVille", in Hochzeiten von über 70 Millionen Menschen gespielt, gaukeln das soziale Spiel nur vor. Insider meinen: In erster Linie geht es um das Ausnutzen der Freunde - mehr als das gemeinsame Spiel. Hinzu kommt der Druck, täglich in das Spiel zu schauen.


"Gefährlicher Abenteuerspielplatz"

Der zwölfjährige Heinz spielt mit seinen über Facebook vernetzten Schulfreunden gemeinsam das Bauernhofaufbauspiel "Farm-Ville". Kurz bevor er zur Schule geht, muss er noch einmal schnell seine virtuellen Getreidefelder überprüfen. Verpasst er den richtigen Erntezeitpunkt, verdorrt sein Getreide, und er bekommt keine Punkte. Da seine Netzwerk-Freunde zu dieser Zeit die Schulbank drücken, kann keiner ihm die Aufgabe abnehmen. Seine Klassenkameradin Sieglinde hat einen Ausweg gefunden. Sie hat ein gemeinsames Nutzerkonto mit ihrer Mutter eingerichtet, und ihre Mutter hat versprochen, die virtuelle Farm am Vormittag im Blick zu behalten.

Bei den kostenlosen Onlinespielen, die schon bei Kindern ab sieben Jahren beliebt sind, fängt der Abenteuerspielplatz Internet an, gefährlich zu werden. Hier sind dann die Eltern gefordert, denn im Bereich "kostenlose Onlinespiele" fehlt fast jede staatliche Regulierung. Eltern sollten, möglichst von Anfang an, mit ihrem Kind ein Zeitkontingent auch für die kleinen Onlinespiele vereinbaren, denn selbst der Versuch, den Highscore zu schlagen und in die Bestenliste aufgenommen zu werden, kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Eltern sollten sich zusammen mit ihren Kindern verschiedene Spielseiten anschauen, ein paar Spiele ausprobieren und gemeinsam eine Auswahl treffen. Bei Kindern unter zwölf Jahren sollte darauf geachtet werden, ob Möglichkeiten des Austausches oder der Kontaktaufnahme zu anderen Spielern bestehen und ob diese von den Betreibern betreut werden. Kindgerechte Spielseiten sollten ganz auf Kommunikationsmöglichkeiten verzichten. Auch sollte auf kindgerechten Spielseiten anonym, also ohne Registrierung, gespielt werden können. Erlaubt die Seite kein Spiel ohne Registrierung, sollten Eltern entweder eine andere Spielseite suchen oder selbst das Spielkonto für das Kind anlegen. Vor der Registrierung sollten die wichtigsten Abschnitte der AGB mit dem Kind durchgelesen werden.

Da sich sehr viele kostenlose Angebote über Werbung finanzieren, ist es ratsam, Kinder über "falsche" Aussagen, Lockangebote usw. der Werbung aufzuklären und ihnen beizubringen, sich dafür taub und blind zu stellen. Kinder klicken ja schneller als Erwachsene unbedacht auf Bilder und Links und probieren gern neue Angebote im Netz aus. Außerdem sind sie nicht imstande, die Geschäftsverträge im Internet zu verstehen oder zu merken, dass sie, ohne es zu wollen, zu etwas ihre Zustimmung gegeben haben. Deshalb sollten Kinder unter zehn Jahren gezielt Kinderangebote mit Onlinespielen besuchen und auch dies nicht allein.


Jens Wiemken ist Diplom-Pädagoge und seit vielen Jahren in der Jugendarbeit und in Schulen im Bereich neue Medien tätig. Er ist u.a. Initiator des "Hardliner-Projekts", in dem Jugendliche angeleitet werden, die begrenzte sinnliche Erfahrung, die Onlinespiele vermitteln, durch authentisches Erleben in der Praxis nachzuempfinden. Der Beitrag ist die ergänzte und bearbeitete Fassung eines Kapitels aus seinem 2009 im Patmos-Verlag erschienenen Buch "Computerspiele & Internet - der ultimative Ratgeberfür Eltern".
Kontakt: E-Mail: jens.wiemken@web.de
Mehr Infos unter: www.byte-42.de


Anmerkungen:

(1) Dies belegen mehrere seriöse Quellen im Internet, beispielsweise www.aerzteblatt-studieren.de im Beitrag "US-Mediziner: Computerspielsucht nicht erwiesen" vom 26.6.2007; vgl. www.aerzteblatt-studierende/doc.asp?docid=105871 (13.10.2008).

(2) Bergmann, Wolfgang/Hüther, Gerald: Computersüchtig. Düsseldorf: Patmos-Verlag, 2008.

(3) Stellungnahme des Deutschen Familienverbandes zu dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes; vgl. www.deutscher-familienverband.de/index.php?id=2457 (13.10.2008).

(4) Dies schreiben zumindest Thomas Lindemann und Florian Stein in dem Beitrag "Vom Gildenführer zum Geschäftsführer" in "politik und kultur", Zeitung des Deutschen Kulturrates, H. 5, 2008, S. 14.


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 135 - Heft 1, Januar 2012, Seite 29 - 32
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2012