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MEDIEN/1059: Internetsucht bei Jugendlichen - Diplom-Psychologin Dr. Isabel Brandhorst im Gespräch (Securvital)


Securvital 4/22 - Oktober-Dezember 2022
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Experten-Einschätzung
Im Gespräch bleiben

Astrid Froese sprach mit der Diplom-Psychologin Dr. Isabel Brandhorst


Eltern können viel tun, um Kindern und Jugendlichen einen gesunden Umgang mit modernen Medien zu vermitteln. Anregungen der Diplom-Psychologin Dr. Isabel Brandhorst.


Securvital: Welche Faktoren begünstigen eine Internetsucht bei Jugendlichen?

Isabel Brandhorst: Wir unterscheiden verschiedene Nutzungsstörungen. Die prominentesten im Kindes- und Jugendalter sind die Computerspielstörung und die Soziale-Netzwerk-Nutzungsstörung. Faktoren, die mit einer Computerspielstörung einhergehen, sind u. a. junges Alter, männliches Geschlecht, geringer Selbstwert, erlebte Einsamkeit oder eine beeinträchtigte Eltern-Kind-Kommunikation.


Securvital: Ab wann ist es eine Sucht?

Brandhorst: Das internationale Diagnosesystem ICD-11 definiert die Computerspielstörung als ein Spielverhalten am Computer, Smartphone oder der Spielekonsole, das immer mehr außer Kontrolle gerät, das andere Aktivitäten wie Hobbys oder familiäre Rituale in den Hintergrund drängt und trotz der negativen Konsequenzen auf das übrige Leben von den Betroffenen nur schwer geändert werden kann.


Securvital: Wie können Eltern vorbeugen?

Brandhorst: Meiner Erfahrung nach gibt es viele Stellen, an denen Eltern ansetzen können. Sie sollten sich dabei aber bewusst machen, dass ihr Einfluss begrenzt ist und für die Entwicklung einer Sucht verschiedene Risikofaktoren zusammenkommen müssen. Hilfreich sind vor allem Aspekte, wie selbst ein gutes Vorbild zu sein. Nicht nur in Bezug auf die eigene Bildschirmnutzung, sondern auch in Bezug auf eine vielseitige Freizeitgestaltung. Im Gespräch bleiben ist ebenfalls wichtig und dass gemeinsam Regeln für die Nutzung festgelegt werden. Hilfestellung gibt etwa der Mediennutzungsvertrag im Netz unter www.mediennutzungsvertrag.de.


Securvital: Und wenn die Jugendlichen sich dagegen wehren?

Brandhorst: Jugendliche müssen mit den Regeln nicht unbedingt glücklich sein, sie sollten sie aber verstehen und akzeptieren können. Zudem sollte die Mediennutzung nicht zum Dauergesprächsthema werden und der Austausch darüber wertschätzend und respektvoll bleiben. Eine Abwertung der Freizeitbeschäftigung des Kindes als "Ballerspiel" oder "blödes Daddeln" erschwert es nur. Dazu sollten Eltern in ihrem Erziehungsverhalten verlässlich sein und für Gefahren im Netz sensibilisieren, wie unerwünschte Kontaktaufnahmen, Pornografie, Gewalt oder Illegales. Eltern sollten zeigen, dass sie ansprechbar sind, wenn dem Kind etwas "Komisches" im Netz begegnet.


Securvital: Ab welchem Zeitpunkt sollten Eltern professionelle Hilfe suchen?

Brandhorst: Dann, wenn sich negative Konsequenzen im Leben der Kinder entwickeln, die klar mit dem Nutzungsverhalten in Zusammenhang stehen. Das sind etwa schlechtere Schulleistungen, die Reduzierung von Sozialkontakten oder Freizeitaktivitäten, überhöhte Geldausgaben, Schlafmangel oder ein dauerhaft verschobener Tag-Nacht-Rhythmus.


Securvital: Welche Hilfe gibt es für Eltern?

Brandhorst: In Tübingen haben wir ein Elterngruppentraining (ISES! Gruppentraining) und ein Onlinetraining für Eltern (ISES! Onlinetraining), deren Jugendliche bereits eine Sucht entwickelt haben (www.elterntraining-internetsucht.de). Außerdem gibt es als Pilotprojekt ein Onlinetraining für Eltern von Grundschulkindern (ISES! Kids), die eine riskante Nutzung zeigen. Bundesweit können sich Eltern in Erziehungs- oder Familienberatungsstellen, etwa von den Jugendämtern, beraten lassen. Wenn bereits eine Sucht vorliegt, kann auch eine Beratung in einer Suchtberatungsstelle vor Ort hilfreich sein.


Securvital: Unterscheidet sich die Computerspielsucht von einer problematischen Social-Media-Nutzung?

Brandhorst: Für die Soziale-Netzwerk-Nutzungsstörung gibt es noch keine offiziellen Diagnosekriterien. Man kann aber die Kriterien der Computerspielstörung gut übertragen. Die Mechanismen, die eine Sucht fördern, sind ähnlich. Die Risikogruppe ist aber eine andere, da Jungs eher Computerspiele spielen und Mädchen eher soziale Netzwerke nutzen. Meiner Erfahrung nach wird die Abhängigkeit von sozialen Netzwerken von Eltern unterschätzt. Soziale Netzwerke haben ein besseres Image als Computerspiele, in denen geschossen wird.


Securvital: Gibt es eine nachweisbare Verbindung zwischen Internetsucht und körperlichen Erkrankungen?

Brandhorst: Grundsätzlich gehen erhöhte Bildschirmzeiten mit weniger Bewegung einher, was wiederum mit Übergewicht assoziiert ist. Ein Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung und Übergewicht lässt sich bereits im Vorschulalter beobachten.


Dr. Isabel Brandhorst
ist Diplom-Psychologin und Leiterin der Forschungsgruppe Internetbezogene Störungen und Computerspielsucht am Universitätsklinikum Tübingen. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit den Risiken neuer Medien für die Gesundheit.

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Quelle:
Securvital 4/22 - Oktober-Dezember 2022, Seite 11
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 9. Dezember 2022

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