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INITIATIVE/124: "Dein Sternenkind" - Verschenkte Menschlichkeit ... Erinnungsfotos von nichtlebensfähigen Neugeborenen (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 132 - 4. Quartal 2019
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Verschenkte Menschlichkeit

Interview von Cornelia Kaminski mit Oliver Wendlandt


Sternenkinder sind Kinder, die oft nur kurze Zeit leben - manchmal nur Stunden oder Minuten nach der Geburt. Dass Eltern um ein Kind trauern, das sie kaum kennen lernen konnten, stieß lange Zeit auf Unverständnis bei Klinikpersonal. Keineswegs selbstverständlich ist nach wie vor, dass Eltern ein totgeborenes Kind auch beerdigen dürfen. Aber auch für diese Kinder gilt vielfach: Sie sind geliebt, und der Abschied von ihnen ist schmerzhaft. Was Eltern von Sternenkindern fehlt, sind liebevolle Erinnerungen, die helfen können, die Trauer zu bewältigen. Hier setzt die Initiative "Dein Sternenkind" an, mit deren Pressesprecher, Oliver Wendlandt, Cornelia Kaminski dieses Interview führte.


LebensForum: Wie entstand die Idee zur Initiative "Sternenkind"?

Oliver Wendlandt: Kai Gebel, der Gründer der Initiative "Dein Sternenkind", sah 2010 ein Bild, das ihn sehr bewegte - eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm. Irgendwie kam es ihm aber anders vor als die üblichen Mutter-mit-Baby-Bilder, und so suchte er den Fotografen im Internet. Dort erfuhr er, dass es sich um eine Mutter mit einem toten Baby im Arm handelte. Nach Recherchen fand er die Organisation "NILMDTS" (Now I lay me down to sleep), die in den USA schon länger Bilder von Sternenkindern macht, und meldete sich als Fotograf in Deutschland an. Zwei Jahre passierte nichts, dann klingelte das Telefon ... Ein Elternpaar war in Deutschland und erwartete Zwillinge. Kai Gebel fotografierte die Kaiserschnittgeburt - ein Kind überlebte, das andere starb kurze Zeit danach. Dies war für Kai die Initialzündung: Es muss eine Organisation in Deutschland geben, die diese Aufgabe übernimmt. Die Idee zu "Dein Sternenkind" war geboren. 2013 suchte er die ersten Fotografen - aus zwei Dutzend sind mittlerweile über 600 ehrenamtliche Fotografen in Deutschland und Österreich geworden, die flächendeckend rund um die Uhr die ersten und die letzten Bilder dieser besonderen Kinder machen.

Wie groß ist die Nachfrage?

In den ersten Jahren führten wir keine Statistik, wickelten die wenigen Einsätze über eine Facebookgruppe ab. Ende 2015 fiel die Entscheidung, "Dein Sternenkind" strukturierter zu organisieren. Das Forum, quasi unsere Zentrale, wurde Anfang 2016 in Betrieb genommen. Damals wickelten wir etwa 30 Einsätze monatlich ab, 360 im Jahr. Dieses Jahr werden es 2.700 sein. Allein im September bewältigten die Fotografen 277 Einsätze, im Schnitt sind es 2019 immer deutlich über 220 pro Monat, Tendenz steigend. Wir gehen von rund 8.000 stillen Geburten ab der 14. Schwangerschaftswoche aus, einschließlich Frühchen, die es nicht schaffen, und Kindern, die zum Beispiel am plötzlichen Kindstod sterben. Etwa zwei Drittel der Eltern, denen die Klinik uns empfohlen hat, nehmen das Angebot an. Wir rechnen also für die Zukunft mit 5.000 bis 5.500 Einsätzen pro Jahr.

Wie funktioniert das Angebot von "Sternenkind"?

Durch eine zentrale Einsatzerfassung. Man kann über zwei Wege einen Fotografen anfordern: Über ein Webformular auf unserer Homepage oder über unsere Notfallnummer, auf die ein intelligenter Anrufbeantworter aufgeschaltet ist, der sofort nach dem Auflegen einen Alarm beim Koordinationsteam auslöst und die Aufzeichnung gleich mitsendet. In beiden Fällen ruft einer der 17 Koordinatoren von "Dein Sternenkind" meist innerhalb von zwei Minuten die Klinik oder die Eltern zurück. Er klärt wenige organisatorische Dinge, zum Beispiel ob Kleidung vorhanden ist, ob das Kind Fehlbildungen hat. Das sind wichtige Fragen für die Fotografen. Der Koordinator stellt den Einsatz in einen Koordinationsthread im Forum. Jeder Einsatz hat einen eigenen Thread, so dass ihn die Fotografen sofort finden. Ist ein Einsatz beendet, wird er archiviert. Gleichzeitig schickt der Koordinator über eine Alarm-App eine Nachricht an die um den Einsatzort vorhandenen Fotografen. Simultan geht eine entsprechende Information auch per Mail an diese Fotografengruppe.

Die Fotografen schauen sich dann im Forum die Informationen an und entscheiden, ob sie den Einsatz sofort übernehmen können (für den Fall, dass das Kind schon geboren ist) oder ob sie ein Zeitfenster in den nächsten Stunden oder Tagen abdecken können (bei einer eingeleiteten Geburt kann das bis zu drei Tagen dauern). Ein Fotograf meldet sich als Ansprechpartner und hält ab diesem Zeitpunkt als Einziger den Kontakt zu den Eltern oder der Klinik. Die anderen bilden mit ihren Zeitscheiben eine Backup-Kette. Sollte der Kontaktfotograf nach der Geburt gerufen werden und selbst nicht können, informiert er den Fotografen, der sich für diesen Zeitraum gemeldet hat. Das Ganze läuft so 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Auch die Einsatzerfassung durch die Koordinatoren läuft rund um die Uhr.

Auf den Fotos ist zu sehen, dass alle Kinder Kleidung tragen - selbst ganz kleine Frühchen. Wo kommen diese Kleider her?

Es gibt ganz wunderbare Nähgruppen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ebenfalls ehrenamtlich, Kleidung für Sternenkinder und Frühchen zu nähen. Sie stellen diese Bekleidung den Eltern, Kliniken und den Fotografen kostenlos zur Verfügung.

Wie kommt man als Fotograf darauf, solche Bilder machen zu wollen? Was treibt Menschen an, hierfür mitten in der Nacht aufzustehen und oft weite Wege auf sich zu nehmen?

Ich denke, das ist bei jedem anders. Manche sind Betroffene, die anderen Eltern helfen wollen. Andere sehen es als Möglichkeit, sich zu erden. Die Arbeit als Sternenkindfotograf macht demütig. Wieder andere suchen ein Ehrenamt, das anders ist als Feuerwehr oder THW. Es gibt viele Beweggründe, Fotograf oder Fotografin bei "Dein Sternenkind" zu werden. In vielen Gesprächen mit ihnen kristallisiert sich aber ein Grund ganz besonders heraus: Viele sagen, dass sie darin eine Möglichkeit sehen, etwas zurückzugeben. Den Eltern in dieser schweren Zeit mit den Bildern beizustehen, ist für alle sehr erfüllend.

Was sind das für Eltern, die um solche Bilder bitten? Was bewegt sie? Und was bewegen bei den Eltern die Fotografien ihrer Kinder?

Es sind Eltern quer durch alle Bevölkerungsschichten, Ethnien und Altersgruppen. Sie wünschen sich Erinnerungen. Sie sind Eltern geworden, auch wenn das Kind nicht leben sollte. Alle Eltern machen Bilder ihrer Kinder, erleben, wie sie das erste Mal den Kopf heben, anfangen zu krabbeln, zu laufen, wie sie in den Kindergarten kommen, später in die Schule. Es gibt Tausende Gelegenheiten, Erinnerungen zu schaffen. All das haben Eltern eines Sternenkindes nicht. Sie haben ein Kind, das nur für ganz kurze Zeit bei ihnen ist und dann wieder gehen muss. Der Wunsch nach Erinnerungen, nach den vielleicht einzigen Familienfotos mit dem Kind, ist vorhanden - und wir versuchen, diesen Wunsch zu erfüllen. Gerade für junge Eltern ist das sehr wichtig. Sie bekommen oft zu hören: "Ihr seid ja noch jung, macht halt ein Neues." Das sind unbedachte Aussagen, die sehr weh tun. Durch ein Bild, beispielsweise von der Hand oder einem Füßchen des Sternenkindes, wird es auch für Außenstehende aus der Abstraktion herausgeholt: Es wird zum Menschen, über den man redet, es ist nicht mehr ein "Etwas". Die Bilder sind für die Eltern also oft weit mehr als pure Erinnerung. Sie sind Existenznachweis, Trauerhilfe, Hilfe gegen das Vergessen und vieles mehr. Eine Mutter sagte mal zu mir: "Wenn ich mir die Bilder ansehe, dann kann ich meine kleine Tochter wieder riechen und spüren. Ich kann mich an das Gefühl erinnern, ihre Haut zu berühren, sie zu streicheln. Ich kann mich an die Tränen erinnern, aber auch an das kurze Glück, eine Tochter zu haben." Viele Eltern sind stolz auf ihre Kinder, wie alle anderen Eltern auch. Wenn sie gute Bilder von ihren Sternchen haben, werden sie in die Lage versetzt, diesen Stolz auch zum Ausdruck zu bringen.

Gibt es Hindernisse, die Ihnen in den Weg gelegt werden? Haben Sie eine Idee, warum das so sein könnte?

Ja, Hindernisse gibt es mannigfach. Mittlerweile arbeiten viele Kliniken mit uns zusammen und vermitteln den Eltern proaktiv, dass es die Möglichkeit für Bilder gibt, dass sie kostenlos sind und innerhalb kürzester Zeit so einzigartige Erinnerungen geschaffen werden können. Zwei Drittel der Eltern nehmen dieses Angebot, so sie es denn bekommen, an. Allerdings ist das in der überwiegenden Anzahl der Kliniken nicht in den Arbeitsablauf bei stillen Geburten integriert. So ist es in manchen Kliniken davon abhängig, welche Schicht gerade arbeitet oder ob die Eltern das Glück haben, auf empathisches Personal zu treffen. Haben sie Pech, dann haben gerade Menschen Dienst, die unsere Arbeit nicht gutheißen und den Eltern die Information bewusst vorenthalten. Uns ist klar, dass es schwierig sein kann, mit den Eltern über Bilder zu reden. Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach: Was wir tun, muss sehr zeitnah geschehen. Es gibt keine zweite Möglichkeit für die Eltern. Also sollte man ihnen den Flyer früh in die Hand geben, darum bitten, sich das JETZT anzusehen, und 20 Minuten später fragen, ob sie Bilder haben möchten. Wir haben ein kleines Klinikhandbuch zum Download, das dem Personal hilft, diese Gespräche zum richtigen Zeitpunkt zu führen. Aber solange wir Mails und Anrufe von Eltern bekommen, die fragen, warum man sie nicht informiert hat, solange sind diese Hindernisse noch nicht ausgeräumt.

Könnten die Kosten hierbei eine Rolle spielen?

"Dein Sternenkind" bietet die Bilder kostenlos an. Was wir immer wieder erleben, ist, dass die Kliniken das nicht glauben können. Aber weder den Eltern noch den Kliniken entstehen aus unserer Arbeit irgendwelche finanziellen Verpflichtungen. Was wir tun, ist ein humanitäres Geschenk an die Eltern. Alle Beteiligten von "Dein Sternenkind", ob Administrator, Koordinator oder Fotograf, arbeiten ehrenamtlich. Der Dienst von "Dein Sternenkind" ist also vollumfänglich kostenlos. Die Fotografen haben sich schriftlich dazu verpflichtet, keinerlei finanziellen oder ähnlichen Ausgleich für diesen humanitären Dienst zu verlangen oder anzunehmen. Auch das ist ein Grund, warum wir Träger des deutschen Engagementpreises sind, eine der höchsten Ehrenamtsauszeichnungen.

Wie finanziert sich dann Ihre Initiative?

Das ist ganz einfach: Einerseits tragen die Fotografen ihre Kosten selbst. Und durch Spenden. Allerdings bitten wir nicht darum. "Dein Sternenkind" hat ein einziges Mal seit Bestehen um Spenden gebeten: 2013, um das Porto für die ersten Infomappen zu sammeln. Seitdem gab es keinen von uns initiierten Spendenaufruf. Allerdings ist das, was da teilweise von Menschen geleistet wird, die unsere Arbeit für wertvoll und wichtig halten, unglaublich. So gibt es Benefizkonzerte, andere sammeln Kronkorken, sie sammeln an ihrem Geburtstag oder in Kirchen und vieles mehr.

Wir nutzen diese Gelder für Öffentlichkeitsarbeit und zur logistischen Unterstützung der Fotografen. Wir stellen Datenträger für die Fotografen, die Plattform, auf der wir alles organisieren, zur Verfügung, versenden Tausende an Flyern und Infomappen. Die laufenden Kosten für Software-Lizenzen, den Betrieb der eigenen Server etc. zu denken, ist nur dadurch möglich.

Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit der Datenschutz - das ist ja mittlerweile ein ziemlich sensibles Feld geworden?

Die Sicherung der Daten läuft ausfallsicher auf unterschiedlichen Servern an unterschiedlichen Standorten, ebenso die Kommunikation. Dadurch gewährleisten wir den Eltern absolute Diskretion und den Kliniken Datensicherheit. Durch die Sicherung der Bilder auf den zentralen Servern in Seeheim und Hagen ist gewährleistet, dass bei Verlust der Bilder diese wieder zur Verfügung gestellt werden können - damit die Kinder dauerhaft unvergessen bleiben.

Viele Hebammen betätigen sich als Fotografen und machen zum Beispiel die Fotos der Babys, die wir dann in den Babygalerien sehen können. Reicht das nicht aus?

Ein klares Nein. Die Fotos, die die Hebammen machen können, sind begrenzt. Zeit, vorhandene Technik (insbesondere eine lichtstarke Ausrüstung) und Erfahrung spielen eine große Rolle. Das sind alles Voraussetzungen für gute Bilder, die im Klinikalltag in der Regel nicht vorhanden sind. Bei den Fotografen von "Dein Sternenkind" ist das anders: Sie nehmen sich die Zeit, stören dabei nicht den Betriebsablauf in der Klinik. Sie haben eine Ausrüstung, die den Namen verdient: Spiegelreflexkameras, die in der Lage sind, auch bei schlechtem Licht rauscharm ohne Blitz zu fotografieren, lichtstarke Optiken, Makro-Objektive. Und sie haben Erfahrung. Alle Fotografen haben einen Bewerbungsprozess durchlaufen, in dem sie auch ein Portfolio vorzeigen müssen - dies erlaubt, die zu erwartende Qualität der Bilder zu beurteilen. Sie fotografieren ständig, bilden sich weiter, tauschen sich aus. Das Ergebnis sind Bilder, die eben das Kind und die Eltern als Menschen in den Mittelpunkt rücken. Die Details festhalten wie die Haare der Augenbrauen, die Händchen mit den Fingernägeln, die Füße, die kleine Stupsnase. Die Fotografen suchen nach Besonderheiten. Sie sind in der Lage, Fehlbildungen so in Unschärfe oder Dunkelheit verschwinden zu lassen, dass die Schönheit des kleinen Menschen in den Mittelpunkt rückt und die Bilder von der reinen Dokumentation deutlich zu unterscheiden sind. Es sind liebevolle Bilder, keine schnell gemachten Dokumentationen. Die Fotografen benutzen in der Regel keinen Blitz - dadurch gibt es keine dieser typischen Spiegelungen, die zwangsläufig beim Blitzen entstehen.

Gibt es ein besonderes Erlebnis, dass Sie unseren Lesern mitteilen möchten?

Jeder Einsatz ist ein besonderer Einsatz. Ich erinnere mich gerne an meinen ersten, der sich über acht Stunden hinzog, da die Eltern in eine andere Klinik verlegt wurden und die Geburt nicht so richtig in Gang kam. Die Kleine kam mit einer Größe von etwa zehn Zentimetern und keinen 100 Gramm Gewicht auf die Welt. Als ich sie mit den Eltern gemeinsam betrachtete und Bilder machte, fiel uns auf, dass das ein fertiges Kind war. Es hatte in der 14. oder 15. Woche schon Fingernägel! Das Bild, das ich von der Hand der Kleinen auf dem Fingernagel des Vaters machte, berührt mich noch heute sehr. Einige Zeit später durfte ich Familienbilder machen, das kleine Sternenkind hatte einen Bruder bekommen.

Bei unserem herbstlichen Spaziergang erzählten mir die Eltern, dass die DVD mit den Bildern ihrer Tochter ihr größter Schatz ist und dass das Original in einem Bankschließfach verwahrt wird. Ich denke, das verdeutlicht, welchen Stellenwert diese Bilder für die Eltern haben.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Oliver Wendlandt

- Mehr als 600 ehrenamtliche Fotografen machen rund um die Uhr Bilder wie dieses

- Für die betroffenen Eltern geht es um die ersten und die letzten Bilder ihres Kindes

- Die Profi-Fotografen rücken die Schönheit des kleinen Menschen in den Mittelpunkt

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 132, 4. Quartal 2019, S. 18 - 21
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Cornelia Kaminski (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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Internet: www.alfa-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2020

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