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BEITRAG/004: Die Entsorgungsgesellschaft - Nichteinverständnis vorausgesetzt ... Teil 1 (SB)


"Sterbefasten" bedeutet, daß eine entscheidungsfähige Person freiwillig und bewußt auf Essen und Trinken verzichtet, um den Tod frühzeitig herbeizuführen. In Abhängigkeit vom Alter, der körperlichen Verfassung und den Vorerkrankungen dauert der Sterbeprozess in der Regel zwischen 7 und 21 Tagen. Dabei können bösartige Tumorerkrankungen, ein sehr hohes Lebensalter und völliger Flüssigkeitsverzicht schon ab dem ersten Fastentag die Frist verkürzen. Der Flüssigkeitsverlust führt letztlich zu einer irreversiblen Schädigung der Nieren. Die Ionenkonzentrationen in Blut und Gewebe verändern sich und führen zu einem Herzstillstand. In den ersten vier Tagen ist es in der Regel noch möglich, das Fasten abzubrechen, ohne daß es zu bleibenden Schäden kommt.



Das Ölgemälde des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (1853-1918) zeigt die sterbende Valentine Godé-Darel am 24. Januar 1915 - Foto: gemeinfrei

Die Geliebte des Künstlers Valentine Godé-Darel am Tag vor ihrem Tod am 25. Januar 1915
Gemälde von Ferdinand Hodler (1853-1918) - Öl auf Leinwand, Sammlung Kunstmuseum Basel
Foto: gemeinfrei

Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Ärzte

Bislang galten für das "Sterbefasten" bzw. den "Freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken" (FVET) in Deutschland rechtlich die gleichen Voraussetzungen wie für den Suizid. Und zurecht hat sich die Ärzteschaft in Deutschland in den bisherigen Debatten zum Thema Sterbehilfe stets nicht nur gegen die "Aktive Sterbehilfe" ausgesprochen, sondern auch gegen die "Beihilfe zum Selbstmord". Daß Suizidbeihilfe nicht zu den ärztlichen Aufgaben zählt, ist daher auch Bestandteil der Berufsordnungen der Landesärztekammern: Ärzte sollen Leben erhalten und Sterbenden Beistand und Hilfe beim Sterben, nicht aber zum Sterben, leisten.

Unabhängig von diesen berufsrechtlichen Normen der Ärzteschaft wurden strafrechtlich bereits Fakten geschaffen, um das Sterbefasten mit ärztlicher Begleitung in Deutschland zu legitimieren. Ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sorgt nun dafür, daß durch eine neue Bewertung des Sterbefastens als eigene Handlungskategorie - und nicht mehr als Suizid -, diese Methode, aus dem Leben zu scheiden, als "Natürlicher Tod" anerkannt werden kann. Damit erfolgt nach der rechtlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung mit diesem Positionspapier nun auch das berufsständische Placet.

Natürlich lassen sich ethisch-moralische Bedenken durch die Neudefinition eines Begriffs nicht mit leichter Hand beiseite wischen, dennoch läßt sich kaum bestreiten, daß das Positionspapier höchstwahrscheinlich eine breite Akzeptanz des Sterbefastens auch in der Ärzteschaft zur Folge haben wird.

Ein Blick in die Geschichte der deutschen Rechtsprechung ...

Noch vor ein paar Jahren wäre die Aufnahme der ärztlichen Begleitung des Sterbefastens in den Maßnahmenkatalog der Palliativmedizin undenkbar gewesen. Doch nun scheint dieser Schritt lediglich eine notwendige Konsequenz zu sein, die sich logischer Weise aus der sukzessiven Aufweichung der deutschen Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten ergibt.

Im Jahr 1984 hatte ein Urteil des Bundesgerichtshofs entschieden, daß Ärzte sich der Tötung durch Unterlassung schuldig machen können, wenn sie bewusstlose Patienten nicht zu retten versuchen, und zwar auch dann, wenn der Bewußtlose, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, die Situation selbst herbeigeführt hat. Die Konsequenz daraus war, daß der Arzt im Falle eines Selbstmords zum Handeln verpflichtet war, sobald der Betroffene das Bewußtsein verliert.

Trotz dieser Rechtslage ergab eine Umfrage der Akademie für Ethik in der Medizin der Uni Göttingen im Jahr 2015, daß bereits zu diesem Zeitpunkt viele Hausärzte und Palliativmediziner Patienten beim Sterbefasten begleiteten. 62 Prozent der Befragten gaben an, mindestens eine Person beim freiwilligen Verzicht von Essen und Trinken in den letzten fünf Jahren betreut zu haben, 21 Prozent hatten sogar mehr als fünf Sterbewillige begleitet.

Im November 2015 wurde dann eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, die es Ärzten von diesem Zeitpunkt an ermöglichte, eindeutig sterbewilligen todkranken Patienten im Einzelfall beim "Assistierten Suizid" behilflich zu sein, ohne sich strafbar zu machen. Mit dem § 217 des Strafgesetzbuches wurde die "geschäftsmäßige" Suizidbeihilfe jedoch unter Strafe gestellt, was bedeutete, daß die Sterbehilfe keinesfalls als gängige Therapieoption oder gar als standardmäßige Möglichkeit einer ärztlichen Betreuung dargestellt werden durfte.

Da der "Freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken" juristisch nach wie vor als Selbsttötungshandlung bewertet wurde, blieb die rechtliche Grauzone für Ärzte, Pflegende und Hospizhelfer, die beim Sterbefasten mitwirkten, jedoch erhalten, denn es konnte nicht ausgeschlossen werden, daß § 217 auf sie angewendet wird.

Im Juli 2019 wurde das Urteil aus dem Jahr 1984 ohne großes Aufheben durch eine Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs revidiert, die das Selbstbestimmungsrecht des Menschen nun deutlich höher bewertet und besagt, daß der Wille des Patienten auch dann respektiert werden müsse, wenn dieser nicht mehr bei Bewusstsein sei. Schließlich könnten Menschen heute auch in einer Patientenverfügung festlegen, was Ärzte im Falle ihrer Bewusstlosigkeit tun oder unterlassen sollen.

Mit diesem neuen Urteil wurden die letzten juristischen Hürden, die eine strafrechtlich unbedenkliche medizinische Begleitung des Sterbefastens bislang unmöglich gemacht hatten, aus dem Weg geräumt. Doch das Stigma des Selbstmords blieb und hatte zur Folge, daß der Arzt, der den Totenschein ausstellt, als Todesursache konsequenterweise "nicht natürlich" ankreuzen muß und damit verpflichtet ist, die Kriminalpolizei zu holen - ein Vorgang, der für viele Hinterbliebene ein Schock und in jedem Fall mehr als unangenehm ist.

Um hier Abhilfe zu schaffen, wurde im Oktober nun das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken mit Stand vom 7.2.2019 öffentlich gemacht, in dem erklärt wird, warum es sich aus ärztlicher Sicht beim sogenannten Sterbefasten doch nicht um einen Suizid handelt:

"FVET weist eine Reihe von Merkmalen auf, die den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken deutlich von einem Suizid unterscheiden. FVET beendet das Leben nicht durch einen äußeren Eingriff. Es werden vom Sterbewilligen keine tödlich wirkenden Substanzen zugeführt noch wird anderweitig Gewalt angewendet. FVET bewahrt die körperliche Integrität und erhält die Selbstbestimmung. Das durch FVET herbeigeführte Sterben geschieht nicht abrupt, es reißt nicht aus dem Leben, sondern zieht sich über einen nicht frei bestimmbaren Zeitraum. Es verbleibt die Möglichkeit des Abbruchs des Verzichts bzw. der Wiederaufnahme von Essen und Trinken über einen längeren Zeitraum." [1]

Daraus wird geschlußfolgert, daß es

"deshalb auch keine strafbare Handlung [ist], den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken von Palliativpatient*innen medizinisch zu begleiten und gegebenenfalls die erforderliche Basisversorgung zur Linderung von Durst- und Hungergefühlen zu leisten (Tolmein und Radbruch 2017). Die behandelnden Ärzt*innen unterlassen hier eine von Patient*innen ausdrücklich abgelehnte medizinische Behandlung (Ernährung und Flüssigkeitszufuhr über Sonde oder durch Infusionslösungen). Es wird hier keine Beihilfe zum Suizid geleistet, sondern es werden im Rahmen der Palliativversorgung belastende Symptome gelindert." [2]

Nach dem konsequenten Abbau der strafrechtlichen Hürden für das Sterbefasten in den letzten Jahren folgt nun mit dem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken auch die berufsrechtliche Legitimation.

Unter Inanspruchnahme der medizinischen Deutungshoheit wird dem Sterbefasten auf diese Weise zu einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz verholfen und zugleich erhält die ärztliche Begleitung eines solchen Sterbeprozesses Eingang in das offizielle Behandlungsspektrum der Palliativmedizin.

Dazu erklärte Prof. Dr. phil. Alfred Simon von der Akademie für Ethik in der Medizin der Universität Göttingen gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt:

"Die Begleitung eines Patienten beim Sterbefasten stellt nach Einschätzung der Bundesärztekammer eine Form der Sterbebegleitung und keine Hilfe bei der Selbsttötung dar. Die Begleitung beim Sterbefasten unterliegt deshalb auch keiner berufsrechtlichen Einschränkung." [3]

Das Positionspapier und mögliche Konsequenzen ...

Liest man in das Papier hinein, klingt alles, was da geschrieben steht, plausibel. Wer wollte einem sterbenskranken Menschen und nur für solche hat dieses Positionspapier Gültigkeit, seinen freien Willen absprechen. Schaut man jedoch genauer hin, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, daß unter dem Vorwand, nur das Beste für den Betroffenen im Blick zu haben, und selbstverständlich mit Verweis auf die ethisch-moralischen Grundwerte unserer Gesellschaft und den freien Willen des Menschen, ein entscheidender Schritt in Richtung Legitimation der Sterbehilfe nun auch von ärztlicher Seite gemacht wurde. Es könnte also sein, daß das so eloquent und juristisch sauber formulierte Positionspapier, sollte es denn auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, wovon auszugehen ist, als Werkzeug mißbraucht wird und als Wegbereiter einer Zukunft dient, in der Sterbehilfe jeglicher Art auch in Deutschland wieder zum Alltag gehört.

Denn die Entwicklung, die sich abzeichnet, hört nicht beim Sterbefasten auf. Auch die Suizidbeihilfe bleibt ein medizinethisches Dauerthema. Verschiedene Sterbehilfevereine, Ärzte und Patienten haben eine Verfassungsbeschwerde eingereicht und noch in diesem Jahr wird ein grundsätzliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts erwartet, das darüber entscheidet, ob der 2015 beschlossene § 217 des Strafgesetzbuches, der die "geschäftsmäßige" Suizidbeihilfe unter Strafe gestellt hat, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Natürlich gilt es nicht, den freien Willen des Menschen in Frage zu stellen, und selbstverständlich bleibt jedem die Entscheidung, Essen und/oder Trinken einzustellen, um einen schnelleren Tod herbeizuführen, selbst überlassen. Doch die offizielle Entscheidung einer ärztlichen Gesellschaft, diesen Wunsch nicht nur zu akzeptieren, sondern ärztlich zu begleiten und u.a. auch Familienangehörige, die in Deutschland kein Vetorecht gegenüber der Entscheidung der Patienten haben, und eventuell dem "Behandlungsplan für die Symptomkontrolle" nicht zustimmen können, weil sie Probleme mit dem Sterbefasten haben, "auf Kurs" zu bringen, indem ihnen alle erdenklichen Informationen zu "Risiken und Nebenwirkungen" dieser Todesart und psychologische Unterstützung zur Verfügung gestellt werden, mutet zynisch an.

Erste Pflicht eines Arztes und Grundlage jeder palliativmedizinischen Unterstützung sollte es doch sein, genau zu prüfen und zu schauen, mit welchen Mitteln die Situation eines kranken oder sterbenden Menschen erträglich gestaltet werden kann, damit der Wunsch nach dem Sterbefasten oder einer anderen Methode des Suizids gar nicht erst auftaucht. Natürlich wird genau das auch in dem Positionspapier gefordert. Jedoch wird dort eine ärztliche und pflegerische Handlungsdirektive unter optimalen Voraussetzungen beschrieben, die in der bundesdeutschen Realität so nicht gegeben sind. Die vorhandenen Kapazitäten wie auch die medizinischen und pflegerischen Möglichkeiten der Palliativmedizin, nicht nur im privaten Bereich, sondern vor allem auch in den staatlichen und privaten Pflegeheimen, lassen sich mit dem, was dort geschrieben steht, nicht in Deckung bringen.

Dazu ein paar aktuelle Zahlen [4]:

  • Rund 3,7 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Ein Viertel davon wird stationär im Pflegeheim betreut.
  • Die Ausgaben der Pflegeversicherung sind zwischen 2015 und 2018 von 29 auf 41 Milliarden Euro gestiegen.
  • Der Eigenanteil, den Pflegebedürftige für die Pflege im Heim zahlen müssen, betrug im ersten Quartal 2019 im Bundesschnitt 662 Euro.

Bei einer Bevölkerungsumfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach gaben fast 80 Prozent der Befragten an, daß sie trotz Pflegeversicherung bei einer Pflege im Heim sämtliche Ersparnisse verlieren würden.

Wer wollte bestreiten, daß in dieser Situation, aus Angst vor Altersarmut oder davor, der Familie auf der Tasche zu liegen, oder angesichts der unzumutbaren Verhältnisse in vielen Pflegeheimen, in denen auch ohne Sterbefasten alte Menschen hungern müssen oder anderweitig vernachlässigt werden, des vorherrschenden Personalmangels, der völlig überforderten Pflegekräfte und der steigenden Zahl der alten und pflegebedürftigen Menschen in den kommenden Jahren bei dem einen oder anderen - und nicht nur aus rein ökonomischen, sondern aus vielerlei Gründen - der Wunsch aufkommen könnte, "selbstbestimmt" vorzeitig aus dem Leben zu scheiden?

In einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin vom 16.10.2019 betont der DGP-Vizepräsident Urs Münch, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoonkologe:

"Ein lebensbedrohlich erkrankter Mensch, der auf Essen und Trinken verzichtet, um das Sterben zu beschleunigen, sucht in der Regel nach einem Ausweg aus einer Situation, in der er Angst vor Leiden und vor dem Verlust seiner Würde und Autonomie hat. Als Gesellschaft sollten wir Rahmenbedingungen für alle zugänglich machen, damit Leid gelindert, Autonomie gewährt und Menschen in Würde sterben können. Die Charta zur Betreuung von schwerst kranken und sterbenden Menschen ist der Auftrag an die gesamte Gesellschaft, diese Bedingungen zu schaffen und zu kommunizieren." [5]

Solange die prekären Verhältnisse vieler alter und kranker Menschen nicht in Angriff genommen werden, könnte man, wenn man böswillig ist, ein Zitat wie das obige auch als Drohung auffassen, und nicht, wie es nahezuliegen scheint, als Hilfsangebot und ethische Stütze. Warum dieser Gedanke nicht ganz unberechtigt zu sein scheint, zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), in der die Praxis des Sterbefastens, das in der Schweiz schon lange zum Maßnahmenkatalog der Palliativmedizin gehört, im Rahmen eines Forschungsprogramms von Professor André Fringer unter die Lupe genommen wird. Die Ergebnisse dieser Studie werden in Teil 2 dieses Kommentars vorgestellt.

Fortsetzung folgt ...

Fußnoten:

[1] Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, Oktober 2019, Seite 5
https://www.dgpalliativmedizin.de/phocadownload/stellungnahmen/DGP_Positionspapier_Freiwilliger_Verzicht_auf_Essen_und_Trinken%20.pdf

[2] Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, Oktober 2019, Seite 3
https://www.dgpalliativmedizin.de/phocadownload/stellungnahmen/DGP_Positionspapier_Freiwilliger_Verzicht_auf_Essen_und_Trinken%20.pdf

[3] Richter-Kuhlmann, Eva: Thema Ärztliche Sterbebegleitung, Kontroverse Sterbefasten, Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 41, 11. Oktober 2019
https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=210310

[4] Pflegereform: DAK-Konzept deckelt Eigenanteile bis 2045, DAK-Gesundheit - Pressemitteilung vom 16.10.2019
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/soziales/m7pf0787.html

[5] Pressemitteilung DGP Aktuell vom 16.10.2019: "Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin positioniert sich erstmals zum Sterbefasten"
https://www.dgpalliativmedizin.de/dgp-aktuell/deutsche-gesellschaft-fuer-palliativmedizin-positioniert-sich-erstmals-zum-sterbefasten-achtung-des-patientenwillen-hoert-nicht-beim-freiwilligen-verzicht-auf-essen-und-trinken-auf.html

8. November 2019


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