Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PSYCHIATRIE

THERAPIE/309: Psychotherapie - Auf dem Prüfstand (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 9/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Auf dem Prüfstand

Von Carsten Spitzer, Rainer Richter, Bernd Löwe, Harald Freyberger


Rund jedem zehnten Patienten geht es nach einer Psychotherapie schlechter als davor. Die Psychotherapeuten Carsten Spitzer, Rainer Richter und Bernd Löwe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sowie Harald Freyberger von der Universität Greifswald informieren über Risiken und Nebenwirkungen der Behandlung seelischer Leiden.


Auf einen Blick:

Riskante Behandlung
1. Bei etwa jedem zehnten Patienten verschlimmern sich die Beschwerden nach der Psychotherapie.
2. Therapeuten unterschätzen die Zahl ihrer Misserfolge; Psychotherapieforscher kümmern sich bislang zu selten um das Problem.
3. Warum eine Therapie scheitert, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich spielen nicht nur die Probleme der Patienten und die Fähigkeiten der Therapeuten eine Rolle, sondern auch, wie gut beide zueinander passen.


Die panischen Angstzustände des Patienten ließen trotz intensiver Behandlung nicht nach. Er konnte nirgendwo hingehen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass ein Arzt in unmittelbarer Nähe war. Seit 30 Jahren suchte er regelmäßig psychiatrische Kliniken auf. Dort konfrontierten ihn die Therapeuten jedes Mal vorsichtig mit seiner Furcht vor Menschen: Er übte, nach und nach wieder ins Dorf zu gehen, unter Leute - eigentlich eine bewährte Methode.

Die behandelnden Ärzte waren jedoch unerfahren und hatten kein durchdachtes Konzept. Sie bemerkten nie, dass ihr Patient große Angst vor seinem gewalttätigen Vater hatte. Das erfuhr erst die Therapeutin Erica Brühlmann-Jecklin, als sie eines Tages vertretungsweise die Visite übernahm und den ihr unbekannten Mann kurz nach seiner Geschichte fragte. »Bis heute bin ich überzeugt davon, dass bei diesem Patienten ein massiver Behandlungsfehler begangen wurde«, berichtet sie in dem Buch »Therapieschäden « (siehe Literaturtipp S. 37, in der Printausgabe), in dem etliche ähnliche Fälle geschildert werden.

Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass Psychotherapie vielen Menschen helfen kann. Demgegenüber ist nach wie vor unzureichend geklärt, was sie wann bei wem und wie bewirkt. Sie hilft nicht immer - und schlimmstenfalls kann sie sogar schaden.

Psychotherapeuten selbst haben zu den möglichen Misserfolge und Nebenwirkungen ihrer Behandlung ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits geben sie an, dass nur bei einem vergleichsweise geringen Prozentsatz ihrer Patienten ungünstige Therapieverläufe vorkommen. Das fand Michael Märtens - damals an der Fachhochschule Frankfurt am Main - in einer 2005 publizierten Arbeit heraus. Andererseits weisen Studien 20 bis 40 Prozent negative Effekte nach. Dies ergaben zum Beispiel Untersuchungen von Norman und Ann Macaskill. Sie befragten Psychotherapeuten nach den persönlichen Erfahrungen, die sie bei Ausbildungstherapien gesammelt hatten. Zu den unerwünschten Folgen zählten etwa Eheprobleme und depressive Episoden.

Dabei ist die Wahrnehmung vom Gelingen oder Misslingen sowie von Nebenwirkungen einer Psychotherapie sicher abhängig von der jeweiligen Perspektive. Was ein Therapeut als Fortschritt auf dem Weg zur Genesung betrachtet, mag in den Augen des Patienten eine Belastung darstellen. Wohl auch deshalb spielt die Auseinandersetzung mit diesem Problem trotz der augenscheinlich großen Relevanz sowohl im klinischen Alltag als auch in der Psychotherapieforschung kaum eine Rolle. Doch keine Disziplin darf sich nur an ihren Erfolgen, sondern muss sich auch an ihren vergeblichen Bemühungen messen lassen.

Unerwünschte und schädliche Wirkungen finden sich in allen Psychotherapierichtungen. Sie reichen von Symptomverschlimmerungen bis zu bleibenden negativen Veränderungen der Persönlichkeit (siehe Kasten S. 34 in der Printausgabe; hier: am Ende des Artikels). Daneben kommt es zu indirekten Problemen, etwa wenn ein Patient von Freunden oder Angehörigen schief angesehen wird, weil er eine Therapie macht. Abgesehen davon leiden Betroffene besonders darunter, wenn körperliche und psychische Beschwerden zunehmen oder neue dazukommen. Wer sich in Psychotherapie begibt, sollte daher genauso vor Risiken und Nebenwirkungen gewarnt werden wie vor den unerwünschten Effekten eines Medikaments. Doch während die Beschreibung von Nebenwirkungen bis hin zu Häufigkeitsangaben in der Pharmazie standardisiert ist, steht eine verbindliche Systematik für die Psychotherapie aus.


Eine Frage der Schule

Die spärlichen Angaben zur Häufigkeit von Symptomverschlechterungen variieren erheblich, weil sie in den verschiedenen Therapieschulen unterschiedlich definiert und erfasst werden. So reagieren Verhaltenstherapeuten alarmiert, wenn sich die Stimmung verschlechtert, während Analytiker dies unter Umständen als Teil des Heilungsprozesses betrachten. Letztere werden dafür bei Veränderungen der Persönlichkeit hellhörig. Bei einer Gruppentherapie wiederum fallen neue Probleme im Umgang mit Mitmenschen eher auf als im Einzelgespräch.

Auch die Art, wie Psychotherapieforscher typischerweise vorgehen, macht es schwierig, Misserfolge systematisch zu erheben. Meist werden zwei oder mehr Patientengruppen mit unterschiedlichen Verfahren behandelt und die Ergebnisse miteinander verglichen. Das klassische Beispiel ist die so genannte randomisierte klinische Studie, bei der Probanden mit einer bestimmten Erkrankung zufällig der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugewiesen werden. Die Patienten in der Interventionsgruppe erhalten das Psychotherapieverfahren der Wahl, während die übrigen einer anderen Behandlung unterzogen werden. Beim Vergleich der beiden Gruppen gehen jedoch die Einzelschicksale unter, weil sich die individuellen Fälle beim statistischen Mitteln »verlieren«.

Bei vielen Psychotherapiestudien fallen die Misserfolge unter den Tisch. Denn die Forscher blicken vor allem auf den Durchschnitt der Patienten

So könnte es etwa sein, dass eine Behandlung bei der Mehrheit der Patienten ganz hervorragend wirkt, beim Rest jedoch überhaupt nicht. Wird nun die Gruppe als Ganzes betrachtet, zeigt sich im Durchschnitt ein gutes Behandlungsergebnis, was im Einzelnen aber nicht unbedingt zutrifft. Genau hier liegt das Problem bei der Beurteilung von Nebenwirkungen und Symptomverschlechterungen.

Einen Meilenstein der Psychotherapieforschung stellt die einflussreiche Menninger-Studie dar, welche die Wirkung von klassischer Psychoanalyse mit der einer einfachen unterstützenden Begleitung verglich. Zu ihrem Namen kam die 1954 begonnene Langzeitstudie, weil sie in der Menninger Clinic in Houston (Texas, USA) durchgeführt wurde. Zwar hat die Untersuchung ihre methodischen Mängel, aber sie ging zum ersten Mal zwei zentrale Schwierigkeiten der Nebenwirkungsforschung an: Um von den subjektiven Beurteilungen der Patienten und Psychotherapeuten wegzukommen, schätzten unabhängige Beurteiler die Behandlungseffekte ein. Vor allem aber sahen sich die Forscher die Resultate der einzelnen Patienten an - und da herrschte nicht nur Grund zur Freude. Während sich bei etwa 60 Prozent der behandelten Fälle positive Effekte zeigten, wurden 27 Prozent der Patienten in Psychoanalyse und 25 Prozent der unterstützend Begleiteten in die Gruppe »Zustand verschlechtert« eingeordnet. Mit anderen Worten: Bei einem Viertel der Patienten blieben heilsame Wirkungen nicht nur aus - die Beschwerden nahmen sogar zu!

Auch neuere Forschungsarbeiten gingen der Frage nach, bei wie vielen Patienten sich die Symptome während einer Psychotherapie verschlimmern. Um das herauszufinden, befragen Ärzte ihre Probanden meist zu Beginn und am Ende der Behandlung mit Hilfe von standardisierten Fragebögen. Mit dieser Methode zeigten Henning Schauenburg von der Universität Heidelberg und seine Mitarbeiter 1998, dass sich bei etwa sechs Prozent der Patienten in ambulanter Kurzpsychotherapie die Symptome so stark verschlechtert hatten, dass dies nicht mehr durch zufällige Schwankungen erklärbar war.

Für psychoanalytisch orientierte Gruppentherapien in Kliniken berichteten die Arbeitsgruppen um Susanne Davies-Osterkamp und Franziska Geiser 1996 beziehungsweise 2001 von einer Negativquote von 8,5 und 14 Prozent. Wir kamen 2008 in einer eigenen Studie zur stationären Psychotherapie zu vergleichbaren Ergebnissen: 15 von 130 untersuchten Patienten (11,5 Prozent) berichten zum Ende der Behandlung von signifikant mehr Beschwerden als zu Beginn. Jeder Proband hatte sich bei der Aufnahme selbst eingeschätzt und unterschiedliche Symptome wie beispielsweise Depressivität oder Angst auf einer Skala bewertet. Bei der Entlassung füllten die Patienten den Fragebogen erneut aus. Wer sich bei »Depressivität« anfangs eine »10« gegeben hatte und nun eine »2« ankreuzte, hatte von der Behandlung profitiert. Patienten, die jetzt die »18« wählten, litten mittlerweile stärker unter der Depression.

Diese Befunde werfen die Frage auf: Weshalb erlebt etwa jeder zehnte Patient während seiner Psychotherapie zumindest subjektiv eine Zunahme der Beschwerden? Schon Sigmund Freud beobachtete, dass es zu einer »Verschlimmerung während der Kur« kommen kann. In »Das Ich und das Es« von 1923 prägte er dafür den Begriff der »negativen therapeutischen Reaktion«. Laut Freud gesteht sich ein Patient beispielsweise nicht ein, dass er Schuldgefühle hat, und fühlt sich stattdessen krank. Wer aber die Ursache seiner Probleme nicht sehen wolle, dem könne die Psychoanalyse auch nicht helfen.

Symptomverschlechterungen während der Therapie wären damit ausschließlich dem Patienten anzulasten und nicht etwa auf Fehler des Therapeuten oder das Behandlungskonzept zurückzuführen. Aber stimmt das? In Wirklichkeit beeinflussen sowohl die Eigenarten und das Verhalten des Patienten als auch des Therapeuten das Behandlungsresultat.


Zwischenmenschliche Probleme

60 bis 70 Prozent der Unterschiede in den Behandlungsergebnissen lassen sich auf Patientenmerkmale zurückführen, wie der Therapieforscher Bruce Wampold von der University of Wisconsin 2001 in seiner umfassenden Analyse gezeigt hat. Welche Merkmale genau das Risiko einer Beschwerdezunahme erhöhen können, untersuchte der Mediziner David Mohr von der Northwestern University in Chicago (USA) schon 1995 genauer. Als schlechtes Zeichen stellte sich die so genannte Borderline-Persönlichkeitsorganisation heraus. Dieses Konzept wurde von dem prominenten Psychoanalytiker Otto Kernberg entwickelt und deckt sich nicht ganz mit der Borderline-Störung, wie sie die aktuellen Diagnosesysteme definieren. Nach Kernberg haben Betroffene die kindliche Unterteilung der Welt in Gut und Böse nicht richtig überwunden, können schlecht mit Aggressivität umgehen und besitzen auch kein sicheres Gefühl für ihr eigenes Selbst. Solche Patienten zeigen in traditionellen Therapien besonders ungünstigste Behandlungsverläufe, wenn sie zusätzlich auch noch große Probleme im Umgang mit anderen Menschen haben. Moderne Behandlungskonzepte wie die dialektisch-behaviorale Therapie können dagegen auch Borderline-Patienten gut helfen.

Das Zwischenmenschliche spielt überhaupt eine große Rolle für den Therapieerfolg - allerdings in beiden Richtungen: Patienten mit vielen interpersonalen Problemen profitieren zwar stark von Psychotherapie. Doch sind auch Symptomverschlechterungen in dieser Gruppe ungewöhnlich häufig. Insbesondere misstrauische Patienten entwickeln Folgebeschwerden, möglicherweise weil sie auf wichtige Bestandteile der Therapie nicht ansprechen.

In einer klassischen Studie ging es 27 Prozent der Patienten nach einer Psychoanalyse schlechter als vorher

Ein weiterer Risikofaktor auf Seiten der Patienten ist die Vorstellung, dass Psychotherapie ein schmerzloses Verfahren sei. So schildert die amerikanische Verhaltenstherapeutin Edna Foa von der Temple University in Philadelphia (USA) beispielsweise ungewöhnliche Probleme bei der Behandlung eines Zwangspatienten. Der 29-jährige Laborarzt wusch sich jedes Mal minutenlang, wenn er mit etwas in Berührung kam, das aus der Stadt stammte, in der er Medizin studiert hatte. Damals war es in seinem Labor zu einem nicht weiter gefährlichen Zwischenfall mit radioaktivem Material gekommen. Danach hatte der Arzt auf einmal Angst, Labortiere könnten ihn mit einer gefährlichen Krankheit anstecken. Eine Konfrontationstherapie schlug an, aber eine neue Furcht entstand. Der Mediziner ließ sich wiederholt behandeln - immer mit demselben Ergebnis: Nach schnellen Fortschritten bei der Bewältigung der alten Phobie entstand bald eine neue. Wie sich hinterher herausstellte, löste die Konfrontation mit den Zwangsgedanken jedes Mal starke Schamgefühle bei dem Patienten aus. Um die tief gehende Auseinandersetzung mit der Angst zu vermeiden, übertrug er seine Furcht unbewusst von einer Vorstellung auf eine andere.

Die wenigen bekannten Risikofaktoren für eine Therapie spiegeln sich nur bedingt in unserer eigenen Untersuchung wider: Wir konnten kaum Patienteneigenschaften herausarbeiten, die mit einer Symptomverschlechterung bei stationärer Psychotherapie in Zusammenhang standen. So unterschieden sich Betroffene, die negative Effekte erlebten, weder hinsichtlich Geschlecht noch Alter von denjenigen, die von der Behandlung profitierten; auch bei Familienstand, Bildung, Ausbildungsgrad und aktueller beruflicher Situation gab es keine relevanten Abweichungen vom Durchschnitt. Klinische Merkmale wie die zur Therapie führende Hauptdiagnose oder weitere Nebendiagnosen standen ebenfalls nicht in Zusammenhang mit der Beschwerdezunahme. Allerdings litten Patienten, bei denen sich der psychische Zustand verschlechterte, minimal häufiger unter einer Persönlichkeitsstörung.

Wir untersuchten auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Patienten sowie ihr Bindungs- und Kommunikationsverhalten - keiner der Faktoren hatte einen messbaren Einfluss darauf, ob sich die Symptome während der Therapie verstärkten. Dies hing auch nicht davon ab, ob die Betroffenen vorher besonders schwere Störungen oder außergewöhnlich viele Probleme in ihren Beziehungen zu anderen hatten. Es scheint daher kein signifikanter Zusammenhang zwischen einer Persönlichkeitsstörung und dem Auftreten von unerwünschten Effekten zu bestehen.

Zusammengefasst bedeutet das: Keiner der zu Behandlungsbeginn erfassten Parameter auf Patientenseite gibt sicher Aufschluss darüber, ob die Therapie gelingen wird. Wir glauben daher nicht, dass Patientenmerkmale wie beispielsweise ein unbewusstes Strafbedürfnis für einen ungünstigen Behandlungsausgang verantwortlich sind.

Vielmehr vermuten wir, dass problematische Aspekte auf Seiten des Therapeuten erheblich zum Misslingen einer Psychotherapie beitragen. Laut David Mohrs Analyse von Mitte der 1990er Jahre sind ein Mangel an Empathie und ungünstige bewusste und unbewusste Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten besonders kritisch. Wenn Enttäuschung, Ärger, Feindseligkeit oder Langeweile die Beziehung zwischen Patient und Arzt bestimmen, entsteht das, was in der Fachliteratur als »negativer therapeutischer Prozess« bezeichnet wird. Jeffrey Binder und Hans Strupp, beide Psychotherapeuten und Psychotherapieforscher, fassten ihre Erfahrungen zu diesem Thema 1997 zusammen. Sie kamen zu dem Schluss, dass der negative therapeutische Prozess deutlich häufiger vorkommt und vor allem schwerer zu überwinden ist, als allgemein anerkannt wird. Er stellt also ein unterschätztes Problem dar!


Therapeut-Patienten-Verhältnis

Dass darüber hinaus unethisches und unprofessionelles Verhalten des Therapeuten das Leid des Patienten vergrößern kann - etwa in Form von finanziellem oder sexuellem Missbrauch -, versteht sich von selbst. Damit eine therapeutische Beziehung gelingt, müssen die Protagonisten gut zueinander passen. Wie Mohr herausfand, profitieren misstrauische Patienten eher von distanzierten und weniger von warmherzig-zugewandten Therapeuten.

In diese Richtung weisen indirekt auch Befunde aus unserer Studie. Denn der Argwohn der Patienten kann von Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend herrühren. Die betroffenen Patienten verhalten sich in ihren Beziehungen oft widersprüchlich. Menschen, die erfahren haben, dass Personen, die sie eigentlich schützen und trösten sollten, sie auch jederzeit bedrohen, ängstigen und verletzen können, begegnen anderen natürlich mit großer Vorsicht. Aber eben auch mit dem stark ausgeprägten Wunsch nach Unterstützung, Hilfe und Halt.

Unserer Studie zufolge ging es nach einer Psychotherapie tendenziell solchen Patienten schlechter, die sexuell missbraucht oder emotional stark vernachlässigt worden waren. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie eher warmherzige Therapeuten hatten. Wenn Patienten misstrauisch sind und sich zugleich nach Unterstützung sehnen, ergibt dies eine »explosive« Mischung für die Gestaltung von Beziehungen. Sie kann zu einer erheblichen Belastungsprobe für die therapeutische Arbeit werden. Dies zu erkennen und aus dem Weg zu räumen, ist eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben des Therapeuten. Scheitern Patient und Behandelnder daran, kommt es zu Therapieabbrüchen oder Symptomverschlechterungen.

Wenn Patienten keine großen Mühen und Probleme in ihrer Therapie erwarten, scheitern sie offenbar eher

Bisher untersuchten nur wenige Forscher, ob auch unvorhersehbare Wechselwirkungen zwischen Therapie, medizinischen oder sozialen Interventionen und dem ganz normalen Leben des Patienten zu einem negativen Ergebnis beitragen. Selbstverständlich können auch unliebsame Ereignisse, die außerhalb und vollkommen unabhängig von der Psychotherapie vorkommen, ungünstig wirken. Interessanterweise haben negative Erlebnisse, die während der Therapie auftreten, einen stärkeren Effekt auf das Behandlungsergebnis als positive, wie Paul Pilkonis und seine Mitarbeiter von der University of Pittsburgh in Pennsylvania (USA) bereits 1984 nachgewiesen haben.

Schließlich ist auch denkbar, dass sich hinter einer Beschwerdezunahme eine so genannte spontane Verschlechterung verbirgt. Damit ist gemeint, dass der natürliche Verlauf der Krankheit mit einer Verschlimmerung der Symptome einhergeht. Über dieses Phänomen wissen wir jedoch noch viel zu wenig.

Was bedeuten die dargestellten Befunde für die Praxis? Etwa jedem zehnten Patienten geht es nach seiner Psychotherapie schlechter als vorher - dieser Missstand muss klar als solcher benannt werden. Therapeuten und Forscher sollten sich intensiver und offensiver als bisher mit dem Risiko auseinandersetzen. Menschen, die eine Psychotherapie erwägen, sollten sich über mögliche Nebenwirkungen mit ihrem Therapeuten austauschen und ihre Sorgen und Bedenken artikulieren.

Die wichtigste Empfehlung bleibt jedoch, sorgfältig darauf zu achten, ob »die Chemie stimmt« - denn der größte Risikofaktor ist eine problematische Beziehung zum Therapeuten. Als Faustregel gilt: Wer in den ersten Sitzungen keinen guten Draht zum Behandelnden bekommt, sollte sich einen anderen suchen. Stellen sich die Probleme jedoch später ein, sollten Patient und Therapeut erst einmal gemeinsam nach Ursachen und Auswegen suchen.


Carsten Spitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Rainer Richter ist Psychologe und Psychoanalytiker und Bernd Löwe ist Facharzt für Innere sowie Psychotherapeutische Medizin. Sie arbeiten am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Harald Freyberger lehrt Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Greifswald.


Quellen:

Binder, J.L., Strupp, H.H.:
»Negative Process«: A Recurrently Discovered and Underestimated Facet of Therapeutic Process and Outcome in the Individual Psychotherapy of Adults.
In: Clinical Psychology: Science and Practice 4, S. 121- 139, 1997.

Hoffmann, S.O. et al.:
Unerwünschte und schädliche Wirkungen von Psychotherapie.
In: Psychotherapeut 53, S. 4 - 16, 2008.

Mohr, D.C.:
Negative Outcome in Psychotherapy: A Critical Review.
In: Clinical Psychology: Science and Practice 2, S. 1 -27, 1995.

Spitzer, C., et al.:
Symptomverschlechterung während stationärer Psychotherapie: Wer ist betroffen?
In: Psychodynamische Psychotherapie 7, S. 3-15, 2008.

Weitere Literaturhinweise im Internet:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/1039582

Literaturtipp:
Märtens, M., Petzold, H. (Hg.):
Therapieschäden. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie.
Matthias-Grünewald, Mainz 2002.
Eine Orientierungshilfe für Patienten, Psychotherapeuten und Krankenkassen



ZUSATZINFORMATIONEN

Misserfolge, Nebenwirkungen, Schäden

In Psychotherapien kann viel passieren, was nicht beabsichtigt war.
Die Therapeuten Sven Olaf Hoffmann, Gerd Rudolf und Bernhard Strauß schlugen 2008 eine Sprachregelung vor, um die verschiedenen unerwünschten Wirkungen differenziert zu betrachten:

Misserfolge: Die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Behandlungsziele werden nur schlecht oder gar nicht erreicht.
Nebenwirkungen: Es treten Effekte auf, die nicht erwünscht waren und für die Patienten nachteilig sind.
Schäden: Die nachteiligen Auswirkungen der Therapie halten lange an und sind für die Patienten erheblich.

Hoffmann und Kollegen erstellten auch eine Liste der wichtigsten Nebenwirkungen:

Verschlechterung oder Chronifizierung der vorhandenen Symptome
Auftreten neuer Symptome
Auftreten von Suizidalität mit der Folge von Suizidversuchen oder Suizid
Missbrauch der Behandlung durch den Patienten, ohne dass der Therapeut dies verhindert. Ein Patient kann beispielsweise die Therapie benutzen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen und über seine Probleme nur zu reden statt aktiv zu werden
Überforderung des Patienten durch irreale Ziele des Therapeuten
Abhängigkeit vom Behandelnden
Vertrauensverlust des Patienten durch schwere Enttäuschungen in der Therapie
bleibende nachteilige Persönlichkeitsveränderungen

Die Ursachen therapeutischer Fehlschläge lassen sich nach
Hoffmann so einteilen:

Nebenwirkungen einer angemessenen Therapie (wobei im Einzelfall nur schwer feststellbar ist, ob wirklich die Behandlung an den neuen Problemen schuld ist)
Patient und Therapeut harmonieren nicht
Schäden durch unprofessionelle Durchführung der Therapie (im Prinzip justiziabel, aber schwer zu beweisen)
unethisches Verhalten des Behandlers (in schweren Fällen sind Klagen aussichtsreich)

Informationen zu den im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen und Grafiken:

Abb. S. 32: BERUFSPESSIMIST: »Natürlich mache ich auch eine Psychoanalyse, aber erst 15 Jahre. Ich gebe meinem Analytiker noch ein Jahr, dann pilgere ich nach Lourdes«, lästerte Woody Allen in seinem Film »Der Stadtneurotiker« von 1977.

Abb. S. 35: STERN MIT SCHATTEN: Mehrere Therapeuten konnten Marilyn Monroe offenbar nur wenig helfen. 1962 starb die Schauspielerin vermutlich durch Suizid.

Abb. S. 36: DER WOLFSMANN: Sigmund Freuds Patient Sergei Konstantinovitch Pankejeff, wurde von einem Traum geplagt, in dem er Wölfe auf einem Baum sitzen sah. Zur Therapie malte »der Wolfsmann« seine Visionen, doch Freud konnte ihm nicht helfen. Später versuchten Psychoanalytiker, diesen Misserfolg zu vertuschen.

Grafik S. 36: Vielen geht's besser,einigen nicht
Die Praxisstelle für Psychotherapie der Universität Bern analysierte das Behandlungsresultat von 363 Patienten. Der Zustand jedes Patienten wird durch einen Punkt symbolisiert. Je weiter rechts dieser liegt, desto höher war die Symptombelastung vor der Therapie. Je weiter oben die Markierung erscheint, desto stärker waren die Beschwerden nach der Behandlung. Sind beide Werte etwa gleich und liegen demnach auf der Diagonalen, blieben die Symptome etwa gleich. Allen Patienten, deren Punkte in die linke obere Diagrammhälfte fallen, ging es schlechter als vorher, den anderen (zumindest etwas) besser.


© 2010 Carsten Spitzer, Rainer Richter, Bernd Löwe, Harald Freyberger, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
GEHIRN&GEIST 9/2010, Seite 32-37
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
Telefon: 06221/91 26-776, Fax 06221/91 62-779
E-Mail: redaktion@gehirn-und-geist.de
Internet: www.gehirn-und-geist.de

GEHIRN&GEIST erscheint zehnmal pro Jahr.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro,
das Abonnement 68,00 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2010