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STELLUNGNAHME/010: Einladung zum Ethikrat - Anhörung "Wohltätiger Zwang" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Einladung zum Ethikrat -
Eine Herausforderung für mich und meine Rollen

Von Gudrun Tönnes


Zur Anhörung "Wohltätiger Zwang" des Deutschen Ethikrates am 23. Februar 2017 war unsere Autorin als Expertin geladen. Gudrun Tönnes sprach auf der Veranstaltung zum Thema "Erfahrungen mit Zwang sind prägend". Dieser Beitrag dokumentiert das Statement der Autorin. Außerdem beschreibt Frau Tönnes die Reaktionen auf ihren Auftritt und reflektiert über die unterschiedlichen Rollen, in denen sie sich in der Psychiatrie bewegt.


Ende 2016 bekam ich die Anfrage, ob ich bei einer Anhörung des Deutschen Ethikrates als Sachverständige mitmachen würde. Als ehemalige Psychiatriepatientin mit der Erfahrung von Zwang habe ich zugesagt. Ich wurde eingeladen als Begleiterin und erhielt einen Fragenkatalog, aus dem sich, wie auch aus der Teilnehmerliste, ergab, dass das Thema aus sehr vielen verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden sollte. Mir wurde schnell klar, dass ich, obwohl ich eingeladen war, aus der Sicht der Begleiterin zu sprechen, auch auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen würde (erst bei der Vorstellung meiner Person stellte ich fest, dass ich für eine Genesungsbegleiterin gehalten wurde).

Im Vorfeld und im Nachhinein habe ich durch Diskussionen in sozialen Netzwerken eine Ahnung davon bekommen, dass die Akteure von verschiedenen Organisationen einen Vertretungsanspruch für eine bestimmte Perspektive bei sich gesehen haben und mir gegenüber monierten, dass sie nicht eingeladen worden seien. Ist es aber nicht wichtiger, dass Dinge benannt werden, als wer sie benennt?

Eine Menge Material, die Antworten fast aller Beteiligten auf einen langen Fragenkatalog wurden mir zugestellt. Ich bekam Informationen von "offiziellen Betroffenenvertretern", nachdem ich in einer Facebook-Gruppe mit Psychiatriepflegenden im Gespräch war. Das Thema sei hoch brisant, mir wurde mitgeteilt, dass ich benutzt werde und dass die Anhörung des Ethikrates eine Alibiveranstaltung sei. Ich hatte zugesagt, in der Hoffnung, dass es nützt. Es wurden verschiedene Blickwinkel zusammengefügt, und ich war dankbar für die Ausführungen von Herrn Zinkler aus der Praxis, die deutlich machten, dass Zwangsmaßnahmen nicht zwangsläufig Teil der psychiatrischen oder auch sonstigen Behandlung sind.

Die Erfahrungen und Sichtwesen von allen Beteiligten im psychiatrischen Hilfesystem zu dem Thema zu analysieren, ist schwierig und dennoch wichtig und unerlässlich. Es zeigt bei dem Thema "Zwang" ein Spannungsfeld zwischen teilweise verhärteten Fronten auf der Ebene von Betroffenenorganisationen und deren Vertretern und einer anscheinend unwissenden Gesellschaft und den politisch Verantwortlichen. Deutlich ist auch der große Rede- und Verarbeitungsbedarf bei Betroffenen, aber auch bei pflegenden Personen, den ich als Referentin in Fachpflegeausbildungen erlebe. Dass bei der Anhörung des Ethikrates wir als Menschen mit eigenen Sicherheitsbedürfnissen jenseits der akuten Notsituationen von allen Seiten näher zueinanderrücken und uns austauschen, war für mich eine wichtige und in der Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit neue Erfahrung.

Erfahrungen mit Zwang sind prägend*
(* Statement, gehalten auf der Anhörung des Deutschen Ethikrates)

Ich habe bei der Beantwortung des Fragenkatalogs gemerkt, wie belastend es noch immer ist, wenn ich mir den selbst erlittenen Zwang im Rückblick vor Augen führe. In der Situation damals hatte ich einiges nicht als so schlimm empfunden, vermutlich hatte es sich im Vergleich zu den vorangegangenen Gewalterfahrungen nicht so gravierend angefühlt.

Die Androhung und die Ausübung des Zwanges auf mich hatte bisweilen etwas Groteskes. Es begann damit, dass ich mich freiwillig in der Psychiatrie befand und trotzdem auf einer Station eingeschlossen war. Es setzte sich fort mit der Gabe von Medikamenten, über deren Wirkung ich nicht aufgeklärt wurde. Was in mir einen Widerstand auslöste, war das Selbstverständnis, mit dem nach Regeln agiert wurde, über die man mich nicht aufgeklärt hatte.

Der Anlass für meine Fesselung an Händen und Füßen war gewesen, dass ich meinen Gehgips gefährdete, der allerdings bereits überflüssig geworden war. Nachfragen in der früheren behandelnden Klinik und eine behutsame und ernstnehmende Kommunikation hätten das mehrfache Fesseln über den Zeitraum von Stunden überflüssig machen können. Einige Sprüche, wie die Androhung von Erinnerungsbändchen, waren überflüssig und zynisch. Man hätte mir, ohne dass ich darum bitten musste, die Hände freimachen können, nachdem man das Essen hingestellt hatte.

Meine Reaktion damals, die nach außen heiter läppisch gewirkt haben mag, bestand darin, im gefesselten Zustand lauthals das Lied "When Israel was in Egypt's land" zu singen. Damit brachte ich zum Ausdruck, dass ich mich nicht am richtigen Ort befand und mich nicht richtig, behandelt fühlte.

Mich zu wehren gegen Gewalt, hatte ich im? Leben zuvor gelernt. Aber in diesem Setting, wo ich eigentlich Wohltat oder Erholung hätte erfahren sollen, war ich erstens nicht auf Gewalterfahrung eingestellt und zweitens bekam ich sehr schnell den Eindruck, dass ein Zur-Wehr-Setzen in dieser Situation möglicherweise noch weitere "Erziehungsmaßnahmen" nach sich gezogen hätte.

Die wohl meinem Wohl dienenden Maßnahmen haben die beabsichtigte Wirkung komplett verfehlt. Sie führten zunächst zu einer übermäßigen Compliance und Vorsicht, die mich doch relativ schnell die Diagnose der Schizophrenie annehmen ließ - das ist zusammen mit der Zwangsmedikation etwas, was meinen Lebensweg für lange Zeit eingeschränkt und mich in meinen Möglichkeiten nachhaltig behindert hat.

Eine Nachbesprechung zu einzelnen Maßnahmen hatte es nicht gegeben, wohl ein Abschlussgespräch nach zwölf Jahren Schizophrenie-Diagnose. Letztendlich habe ich die Verantwortung übernommen, indem ich die mir über Jahre aufgezwungene Medikation absetzte und meine Psychiatriebehandlung 1994 beendete.

Als potenzielle Patientin habe ich Jahrzehnte später eine Patientenverfügung verfasst und meiner Lebenspartnerin eine Betreuungsvollmacht gegeben. Insofern habe ich die Kontrolle für eine hoffentlich nicht mehr nötige Behandlung übernommen. Das schützt mich aber nicht vor den Mangelzuständen in einem Behandlungssetting.

Von 1998 bis Ende 2009 arbeitete ich als Ergotherapeutin in psychiatrischen Diensten. Ich kam selber nie in die Lage, dass ich Zwang anwenden musste. Außer, dass wir als einzige Alternative die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen anbieten konnten.

Vielstimmigkeit - EX-IN-Genesungsbegleiter als Erfahrungs- und Wissenspool

Seit 2010 bilde ich mit meiner Agentur LebensART EX-IN-Genesungsbegleiter aus. Die ursprüngliche EX-IN-Bewegung kam mit der Aussage in die Welt, dass "Peers die Psychiatrie verändern". Ich denke, dass diese neue Berufsgruppe "Genesungsbegleiter" tatsächlich etwas in der Psychiatrie bewirken kann, und zwar im Hinblick auf die Beziehung zwischen Personal und Patienten. Die Psychiatrie zu verändern, ist Aufgabe der Klinikträger, der Kostenträger, der Berufsverbände und der Politik.

In meiner Arbeit als Veranstalterin von EX-IN-Kursen bin ich in der komfortablen Situation, dass ich ehemalige Patienten direkt zu ihren Erlebnissen befragen kann. Ich habe eine kleine Umfrage erstellt, an der sich innerhalb von zwei Wochen 42 Genesungsbegleiter anonym beteiligten. Ich zitiere einige Aussagen:

Situationen, in denen die Teilnehmer "wohltätigen Zwang" erfahren haben:

"... Einschluss ... also geschlossene Abteilung kein freier Ausgang. Das ist zwar vergleichsweise 'harmlos' ... ist aber letztlich doch 'Freiheitsberaubung'."

"... während meiner Therapie wurde ich auf eine sogenannte Intensivstation im Keller gebracht, hatte ein Bett im Flur, wurde bis auf einen Arm fixiert, auch Bauchgurt, durfte nicht auf die Toilette, bekam im Flur eine Bettpfanne ins Bett und wurde sogar mit dem Bett in ein Raucherzimmer gefahren. Ich hatte (gegenüber) der Therapeutin Suizidgedanken geäußert und wollte nicht auf Station bleiben. Diese Maßnahme war aber dennoch für mich überzogen und grausam. Ich war einen Tag und eine Nacht fixiert. "

"Da ich unter akuter Anorexia nervosa litt und ich stark abgenommen hatte, ließ ich mich erst freiwillig auf einer internistischen Station aufnehmen. Dort nahm ich weiter an Gewicht ab, und die Psychiater meinten, ich müsste erst zunehmen, um auf die Psychotherapiestation zu kommen. Da ich aber nicht zunahm, legten mir die Ärzte eine Magensonde. Ich wurde über mehrere Wochen künstlich ernährt, bis ich auf die Psychotherapiestation verlegt wurde. Diese Art von Zwang war für mich traumatisch."

"Hätte ich die Medikamente nicht genommen, wäre ich entlassen worden."

"Mir wurde gedroht: Wenn Sie die Medikamente nicht nehmen, können wir auch anders."

"Ich war krank und ging nicht mehr zum Arzt und die Nachbarn riefen den Rettungsdienst, und so kam ich ins Krankenhaus und blieb da für sechs Wochen. Fixierung ist mir noch nie passiert, da bin ich sehr froh darüber!"

"... in Fixieren und in Spritzen von Medikationen in Akutfällen. Auch Zwangsernährung durch eine Magensonde."

"Zwang im Sinne von Nichtaufklärung über meine Rechte und moralischen Druck, dass ich die Medikation nehmen solle."

"... wurde wegen akuter Suizidalität eingewiesen ..."

"Ich habe Zwangseinweisung angedroht bekommen in der Klinik."

Wer ist für diese Situationen verantwortlich, wie lassen sie sich verhindern und in Zukunft verändern? Stellen Sie sich die Frage, ob wirklich alle Alternativen ausgeschöpft werden.

Notsituationen auch für Pflegekräfte

Pflegende aus der klinischen Praxis fehlten bei der Veranstaltung des Ethikrates. Eine von mehreren Situationen, die mir Pflegepersonen kürzlich auf folgende Frage schilderten: In welcher Situation halten Sie Zwang für unvermeidbar, der dem persönlichen Schutz des Patienten dienen soll?

"Am eindrucksvollsten fand ich, als ein Patient immer wieder mit Anlauf den Kopf gegen die Stahltür schmetterte, obwohl er zur Eigensicherung schon isoliert war. Jeder Versuch, ihn davon abzuhalten, beantwortete er mit körperlicher Aggression. Da war leider kein Handlungsspielraum mehr, und der Patient musste fixiert werden. Ob es jetzt eine Wohltat für ihn war, würde ich nicht behaupten. Er hat so oder so sehr stark gelitten, insofern passt der Begriff wenig. Der Zwang diente ausschließlich zur Vermeidung von Schlimmerem. Da aber psychische Erkrankungen subjektiv als Schmerz empfunden werden und solche drastischen Verhaltensweisen ja zur Kompensation eben dieser Schmerzen dienen, bin ich mir zunehmend unsicher, wo die Grenze ist. Eine Fixierung oder Isolation heißt auch immer, den Patienten ein Stückchen mit seinem Schmerz alleine zu lassen." (Bodo Richards)

Es gibt die Not des Patienten, der sie vielleicht nicht angemessen ausdrücken kann. Aber eine behandelnde Person muss sich klarmachen, dass es auch die eigene Not gibt. Dafür muss das gesamte behandelnde System inklusive der politischen Entscheider Mitverantwortung übernehmen.

Den Notlagen in der Behandlung muss vorgebeugt werden, damit diese nicht zur Ausrede werden im Sinne von: Ich hatte keine andere Wahl.

Die Behandelnden sollten sich eingestehen, dass durch die Not eines Betroffenen, der beispielsweise selbstgefährdendes Verhalten zeigt, sie selbst in eine Notlage kommen und keine Alternative außer einer Zwangsmaßnahme sehen. In dieser Situation werden Behandler zu Tätern, aber eben nicht zu Wohltätern.

Darum würde ich nicht von "wohltätigem Zwang" sprechen, sondern von "Not wendenden" oder "Not abwendenden Zwang".

Wie beugen wir Notlagen vor?

Wir müssen uns fragen: Warum werden Menschen in Situationen, in denen sie extrem leiden, noch mehr gequält?

Viele Experten aus Erfahrung mussten vor ihren Psychiatrieaufenthalten schon etliche andere Traumatisierungen erleiden. Wie viele nicht geahndete Straftaten an Menschen begangen werden, auch noch in der heutigen Zeit, höre ich immer wieder, wenn meine Kursteilnehmer aus ihrer Vorgeschichte berichten. Keine psychische Krise oder Erkrankung ist einfach nur vom Himmel gefallen.

Ich glaube, dass das Bild des unzurechnungsfähigen Menschen noch sehr prägend ist Auch wenn der Zugang zu einem Menschen in einer akuten Zuspitzung nicht oder kaum möglich ist, heißt das nicht, dass die Person auf ganzer Linie nichts fühlt oder versteht Das Stigma der Unberechenbarkeit von psychisch erkrankten Menschen spielt sicher auch eine Rolle.

Genesungsbegleiter unterstützen auf vielfältige Weise

Der Einsatz von Genesungsbegleitern in stationären und anderen psychiatrischen Arbeitsfeldern kann dazu beitragen, Zwangsmaßnahmen zu verhindern oder Maßnahmen abzumildern. Da, wo Genesungsbegleiter im Einsatz sind, wird von guten Ergebnissen in Bezug auf Verminderung des Zwangs berichtet. Gute Arbeitsbedingungen wären durch Planstellen für mindestens zwei Experten aus Erfahrung auf jeder Station zusätzlich zum Stammpersonal mit einer angemessenen Vergütung gegeben.

Allgemeine Vorteile durch die Beteiligung von Experten aus Erfahrung liegen auf der Hand:

Die pure Anwesenheit eines Experten durch Erfahrung als geachteter Kollege auf einer Station kann das Vertrauen stärken.

Bei sehr unruhigen Patienten würde es helfen, wenn ein
Genesungsbegleiter einfach anwesend und ihm zugewandt ist.

Die Bereitschaft des Genesungsbegleiters, zuzuhören, kann dem Patienten signalisieren, dass er sich mit seiner Geschichte und seinem Erleben anders öffnen kann, als er es sich das bei anderen Mitarbeitern trauen würde (Peer-to-Peer-Effekt). Es entsteht das Gefühl, verstanden und angenommen zu werden, weniger Scham, weniger Angst, sich zu blamieren.

Es kann deeskalierend wirken, wenn ein Experte durch Erfahrung vor Ort dem Patienten vermittelt, dass es um sein Wohlergehen geht und Maßnahmen und Regeln dazu dienlich sein können, dass sein Zustand sich verbessert.

Die Anwesenheit von Genesungsbegleitern kann zunächst eine Vermittlung, ein Brückenbauen darstellen und letztlich die Kommunikationsbarrieren zwischen den akut Betroffenen und den professionell Tätigen abzubauen helfen. Je einfacher es wird, die Bedürftigkeit und die Bedürfnisse zu zeigen, umso leichter fällt es, wirklich zu helfen.

Wir stehen alle vor dem Problem, auch wenn wir uns aktuell unserer Rolle sicher wähnen, jede(r) von uns kann früher oder später durch die eine oder andere Erkrankung, durch Unfall oder Begleiterscheinungen des Alterns in hilflose Ausnahmezustände geraten, und wir müssen uns, einschließlich der Entscheider in der Politik, darüber Gedanken machen, wie denn eine optimale oder zumindest verträgliche Behandlung für uns selbst aussehen sollte.


Gudrun Tönnes, Ergotherapeutin, zertifizierte EX-IN-Trainerin, Expertin aus Erfahrung, Leitung des Weiterbildungsträgers Lebens-ART in Münster

Mehr zur Genesungsbegleiter-Ausbildung bei LebensART:
www.ex-in-lebensart.de

Anmerkung
Zur besseren Lesbarkeit wurden im Text in der Regel die männlichen Formen der Personenbezeichnungen verwendet, selbstverständlich beziehen sich alle Aussagen auch auf die weibliche Form.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, Juli 2017, Seite 11 - 13
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2017

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