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MELDUNG/036: Aufklärung über die Verbrechen der Psychiatrie im Nationalsozialismus (idw)


Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) - 04.10.2011

Über die Verbrechen der Psychiatrie im Nationalsozialismus aufklären und den Opfern gedenken


Eine Ausstellung soll künftig über das Schicksal und Leid von psychiatrischen Patienten in der Zeit des Nationalsozialismus aufmerksam machen. Für das Vorhaben werben zahlreiche Verbände der deutschen Ärzteschaft, darunter die Bundesärztekammer, im Rahmen einer Spendenaktion. Zudem fordern sie die Politik dazu auf, für die Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus einen würdigen nationalen Informations- und Gedenkort zu schaffen.

Über zwanzig namhafte Verbände der deutschen Ärzteschaft haben am 30. September 2011 in Berlin ihre Spendenaktion "Psychiatrie im Nationalsozialismus - Erinnerung und Verantwortung" der Öffentlichkeit vorgestellt. Die einzuwerbenden Gelder sollen u.a. für eine Ausstellung verwendet werden, die über den Umgang mit psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus informieren soll. Diese soll zunächst in den Räumen der "Stiftung Topographie des Terrors" in Berlin gezeigt werden, anschließend an verschiedenen Orten in Deutschland und in Europa. Daneben sollen umfassende, öffentlich zugängliche Datenbanken entstehen, die die Namen und Schicksale von Opfern, aber auch die Biografien von Tätern enthalten. Damit möchten die beteiligten Verbände über das Leid der Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus informieren und ihnen ein anhaltendes, würdiges Gedenken schaffen. Denn in die Zeit des Nationalsozialismus fällt das dunkelste Kapitel der Psychiatrie: Mindestens 250.000 psychisch Kranke und Behinderte fielen dem sogenannten "Euthanasieprogramm" zum Opfer. Psychiater waren maßgeblich an der Zwangssterilisierung von mehr als 360.000 vor allem psychisch kranker und geistig behinderter Menschen beteiligt. Jüdische und politisch missliebige Psychiater wurden verfolgt und aus Deutschland vertrieben.

Aufruf an die Politik - den Opfern ein würdiges Gedenken schaffen

Einen zentralen, nationalen Gedenkort für die Opfer der so genannten "Euthanasie" gibt es bislang nicht. Mit dem Spendenaufruf möchten die Verbände auch ein Signal an die Politik geben, einen würdigen Informations- und Gedenkort für die Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus an der Berliner Tiergartenstraße 4 zu schaffen. Dort befand sich ab 1940 die Organisationszentrale der nationalsozialistischen Patiententötungen. Derzeit erinnert lediglich eine unscheinbare, in den Boden eingelassene Gedenktafel an die "Euthanasie"-Opfer. Dies ist nach Ansicht der Verbände unangemessen und wird den Opfern nicht gerecht. Die Verbände unterstützen deshalb nachdrücklich die aktuellen politischen Initiativen zur Umgestaltung des Geländes der Tiergartenstraße 4.

Aus Verantwortung vor der Vergangenheit - die DGPPN als Initiator

Initiator der Spendenaktion ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Bereits im November 2010 hatte die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft im Rahmen einer Gedenkveranstaltung den Opfern der Psychiatrie im Nationalsozialismus gedacht. Der damalige DGPPN-Präsident Professor Frank Schneider (Aachen) bat im Namen der Fachgesellschaft alle Opfer und ihre Angehörige um Verzeihung für das Unrecht und Leid, das ihnen von deutschen Verbänden und deren Psychiatern in der Zeit des Nationalsozialismus zugefügt wurde. Aktuell ist im Springer Verlag eine Text- und Bilddokumentation der Gedenkveranstaltung "Psychiatrie im Nationalsozialismus - Erinnerung und Verantwortung" erschienen. "Unsere Fachgesellschaft ist sich ihrer historischen Verantwortung bewusst. Die Gedenkveranstaltung bedeutet für uns nicht das Ende eines späten Aufarbeitungsprozesses, sondern erst der Anfang. Wir lernen aus der Vergangenheit und halten die Erinnerung wach, damit sich solche schrecklichen Vorgänge nicht wiederholen", sagt Professor Frank Schneider. Mit der Spendenaktion wolle man ein weiteres Zeichen setzten. Um die Vorhaben zu realisieren, habe die DGPPN zugesagt, einen einmaligen Zuschuss von wenigstens 100.000 Euro zu geben und zusätzlich eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle für die Dauer von zehn Jahren zu finanzieren. Zudem freue man sich, so Schneider weiter, dass die Initiative der DGPPN so viele prominente Unterstützer, wie beispielsweise die Bundesärztekammer (BÄK), findet. "Die deutsche Ärzteschaft hat sich erst sehr spät zu der Schuld von Ärzten im Nationalsozialismus bekannt. Trotz zaghafter Anfänge bereits kurz nach dem Krieg, hat eine wirklich Auseinandersetzung mit den von Ärzten begangenen Verfehlungen und Verbrechen erst vor gut 30 Jahren begonnen. Obgleich die Mitschuld der Ärzte an den Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft seitdem in verschiedenen Forschungsprojekten wissenschaftlich untersucht wurde, gibt es nach wie vor Forschungslücken zur Rolle der Ärzte im "Dritten Reich".

Deshalb hatte die Bundesärztekammer den Forschungsbericht "Medizin und Nationalsozialismus" angestoßen. Die Resonanz der Ärzteschaft und der Öffentlichkeit auf diesen waren enorm und zeugten davon, wie wichtig die Aufarbeitung dieses Themas auch mehr als 65 Jahre nach Kriegsende ist. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Initiative der DGPPN für ein Forschungsprojekt über die Verbrechen der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Ich hoffe sehr, dass das Projekt die größtmögliche Unterstützung mittels Spenden erhalten wird", so der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery über die Bedeutung des Spendenaufrufs.


Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Frank Schneider
Past-Präsident DGPPN
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Universitätsklinikum Aachen
Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen
E-Mail: fschneider@ukaachen.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution805


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
Dr. Thomas Nesseler, 04.10.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2011