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ARTIKEL/420: "Psychiaterbibel" DSM-5 - Kontroverse um die Neuordnung der Seelenleiden (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 6/2012
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Die Neuordnung der Seelenleiden

Kontroverse um DSM-5

von Jochen Paulus


Weltweit bildet das Diagnosemanual der amerikanischen Psychiatervereinigung die Grundlage zur Definition seelischer Krankheiten. Seine neue, fünfte Version erscheint 2013 - und sorgt jetzt schon für erhebliche Diskussionen. Kritiker bemängeln, die Neuauflage der »Psychiaterbibel« werde die Zahl der Patienten drastisch erhöhen. Die entscheidende Frage lautet: Was ist noch normal?


AUF EINEN BLICK

Von gesund bis gestört

  1. Voraussichtlich im Mai 2013 erscheint die neue, fünfte Auflage des Katalogs der psychischen Störungen, den die US-Psychiatervereinigung APA herausgibt.
  2. Das DSM-5 setzt weltweit neue Stan-dards für die Behandlung und weitere Erforschung seelischer Leiden.
  3. Kritiker befürchten eine Aufweichung der geltenden Krankheitskriterien - und eine Flut neuer Patienten.


Es war einmal eine Geisteskrankheit, die hieß Melancholie. Manche nannten sie auch »endogene Depression« - denn sie glaubten, dass sie aus unerforschlichen Gründen in einem Menschen entstehe, während die normale Depression eher durch Schicksalsschläge von außen verursacht werde. William James (1842-1910), einer der Gründerväter der modernen Psychologie, hielt die Melancholie für eine »Seelenqual, die dem gesunden Leben völlig unbekannt ist«. Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit kennzeichneten die Krankheit angeblich ebenso wie eine alles beherrschende Angst vor dem drohenden Ruin.

Doch seit 1980 gibt es die Melancholie nicht mehr. In der dritten Ausgabe des US-amerikanischen Diagnosesystems DSM (von: Diagnostic and Statistical Manual) wurden die vormals zwei Formen der Depression zu einer zusammengefasst. Das DSM gilt Psychiatern in aller Welt als die »heilige Schrift« der psychischen Störungen. Es prägt auch ihre Einteilung im hier zu Lande gültigen Krankheitsverzeichnis der Weltgesundheitsorganisation, der ICD (International Statistical Classification of Diseases).

Bevor die Melancholie aus dem Katalog der Seelenleiden verbannt wurde, hatten führende Psychiater jahrelang miteinander gerungen. Am Ende setzte sich die Fraktion derer durch, die in ihr nur eine subtile Variante der Depression sahen - nicht eindeutig unterscheidbar von ihren anderen Erscheinungsbildern. Genau das bestreitet heute eine Phalanx prominenter Experten, angeführt von dem Psychiatrieprofessor Gordon Parker von der australischen University of New South Wales: »Wir treten dafür ein, dass die Melancholie als eigenes, idenifizierbares und besonders behandelbares affektives Syndrom im DSM-5 platziert wird.«

DSM-5 - das ist die geplante Neufassung der Störungsbibel, die im Mai 2013 erscheinen soll. Alle, die ein seelisches Problem oder eine ausgewachsene Geisteskrankheit anerkannt sehen wollen, versuchen derzeit, sie ins DSM-5 schreiben zu lassen. Das wichtigste Argument der Verfechter der Melancholie lautet: Ihre Abschaffung hat die Therapie ruiniert. Heute werden fast alle Depressionen mit den gleichen Standardmedikamenten behandelt, etwa Fluoxetin (US-Handelsname »Prozac«) oder anderen Mitteln vom Typ der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Die aber, so der Vorwurf, helfen bei Melancholie nicht so gut wie ältere Antidepressiva, die so genannten Trizyklika.

Ob das stimmt, darüber können Spezialisten endlos streiten. Jedenfalls hat die Melancholie es nicht in den DSM-5-Entwurf vom Februar 2010 geschafft. Der Fall zeigt: Es steht viel auf dem Spiel. Das DSM ist keine müßige Beschäftigung für Leute, die alles säuberlich in Schubladen ordnen wollen. Als Steven Hyman 1996 Direktor der für psychische Erkrankungen zuständigen US-Forschungsbehörde NIMH (National Institute of Mental Health) wurde, hielt er den Zank um die DSM-Diagnosen noch für ein dröges Thema, das sich »am besten für mittelalterliche Scholastiker eignet«. Doch als er sah, dass zahllose Anträge bei seiner Behörde auf DSM-Diagnosen fußen, änderte er seine Meinung. Heute debattiert Hyman selbst in einem der Gremien mit, die das DSM-5 vorbereiten.

13 Arbeitsgruppen kümmern sich um verschiedene Kategorien von psychischen Erkrankungen, etwa Ängste, Psychosen und Drogenabhängigkeit. Die 162 Mitglieder dieser Teams werden von über 300 weiteren Experten aus aller Welt unterstützt. Die Vorbereitungen laufen bereits seit 1999 - und anfangs hatten die Beteiligten große Pläne. Diagnosen sollten sich künftig nicht nur darauf stützen, was die Patienten »in spe« selbst zu Protokoll geben und wie sie sich verhalten. Stattdessen sollten wie bei körperlichen Krankheiten auch objektiv erfassbare Merkmale her - so genannte Biomarker wie Auffälligkeiten in der Hirnaktivität, Hormonwerte oder bestimmte Genvarianten.

Obwohl zahllose Studien statistische Unterschiede zwischen Gesunden und psychisch Kranken ergaben, taugen diese bislang nicht zu halbwegs treffsicheren Diagnosen. »Die Identifizierung der exakten neuronalen Abweichungen, die psychischen Störungen zu Grunde liegen, hat sich allen Anstrengungen der Forscher stur widersetzt«, bilanziert Hyman. Übrig blieb ein halbherziger Appell an die DSM-5-Arbeitsgruppen, neben anderen Aspekten auch biochemische oder neurophysiologische Faktoren im Auge zu behalten.

Im Mai kommenden Jahres soll nun nach 14 Jahren Arbeit die endgültige Fassung des DSM-5 präsentiert werden. Die ersten beiden öffentlichen Diskussionsphasen sind abgeschlossen. Rund 10 000 Anmerkungen kamen dabei zusammen. Viele davon sind kritisch, die Empörung schwappt bis in medizinische Zeitschriften und sogar in Massenmedien.

Das »British Medical Journal« - Hausblatt der britischen Ärzteschaft - bemängelt, dass 56 Prozent der Arbeitsgruppenmitglieder Geld von der Pharmaindustrie bekommen haben. Sie könnten folglich geneigt sein, möglichst viele Störungen abzusegnen, an deren Behandlung ihre Sponsoren später verdienen. Immerhin ist der erlaubte Zusatzverdienst eines Mitglieds inzwischen auf 10.000 Dollar jährlich beschränkt.


Eine Büchse der Pandora?

Als DSM-5-Kritiker vom Dienst profilierte sich ausgerechnet der emeritierte Psychiatrieprofessor Allen Frances. Er hat die 1994 erschienene Vorgängerversion DSM-IV verantwortet. (Bislang trugen die Versionen römische Ziffern, jetzt wird auf arabische umgestellt, weil sich leichte Überarbeitungen dann wie Computersoftware mit Kodes wie 5.1 und 5.2 versehen lassen). Frances veröffentlichte Artikel wie »Die Büchse der Pandora öffnen - die 19 schlechtesten Vorschläge für das DSM-5«.

Seine Nachfolger keilen zurück: »Wenn ich DSM-IV-Chef gewesen wäre«, lästerte Psychiater William T. Carpenter, »würde ich auch glauben, dass jeder, der mein Werk verbessern will, sich ziemlich viel vorgenommen hat.« Die Leiter der DSM-5-Neufassung, David Kupfer und Darrel Regier, erlaubten sich sogar den dezenten Hinweis darauf, dass Frances an diversen DSM-IV-Veröffentlichungen so lange verdient, bis das DSM-5 erscheint.

Frances warnt vor einer Inflation der Leiden, wobei er sich auf seine Erfahrungen beruft: »Jede Arbeitsgruppe neigt dazu, die Grenzen der Störungen in ihrem Bereich auszudehnen.« Es solle schließlich nur ja kein Hilfsbedürftiger übersehen werden. So fürchtet Frances das Schlimmste, falls etwa der Vorschlag für die Binge-Eating-Störung durchkommt: »Zig Millionen Menschen, die drei Monate lang einmal wöchentlich anfallsartig essen, werden plötzlich als geisteskrank stigmatisiert und bekommen Medikamente mit unbewiesener Wirksamkeit.«

Das Problem ist allerdings komplizierter, als diese Polemik vermuten lässt. Binge Eating steht schon in Frances' DSM-IV, wenn auch nur im Anhang als Beispiel für eine »nicht näher bezeichnete« Essstörung. Trotzdem ist Binge Eating »bei Weitem die häufigste Essstörung in der Allgemeinbevölkerung«, so Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen.

Solche Restdiagnosen tragen im Englischen die Bezeichnung »not otherwise specified« (NOS). Sie gelten als einer der Schwachpunkte des aktuellen DSM. Denn Therapeuten vergeben sie nicht nur bei Essstörungen häufig. »Wenn 40 Prozent der Universitätskliniken Leute mit NOS-Diagnosen entlassen, weiß man, dass man ein Problem hat«, konstatiert DSM-5-Vizechef Regier. NOS-Diagnosen werden vergeben, wenn klar ist, dass Patienten ein Problem in Richtung einer bestimmten Störung haben, sie aber die Kriterien der Diagnose nicht erfüllen. Man könnte auch sagen: wenn die Diagnosekriterien den Problemen der Patienten nicht exakt entsprechen. Das soll nun auch bei den Essstörungen anders werden, selbst wenn dadurch mehr Menschen zu Patienten werden.

Nach dem DSM-5-Entwurf sind für die Binge-Eating-Diagnose nur noch halb so viele wöchentliche Fresstage erforderlich wie vorher, und das auch nur über einen halb so langen Zeitraum. Doch die neuen Patienten sind deshalb nicht weniger krank als die alten - sie scheinen sich »in ihren klinischen Charakteristika nicht von jenen Patienten zu unterscheiden, die die jetzigen Frequenzkriterien erfüllen«, argumentiert Martina de Zwaan.

Auf dem Papier werden künftig wohl auch mehr Frauen an Bulimie und Magersucht leiden, da die vorgesehenen Kriterien mehr Spielraum bei der Diagnose lassen. So kommt es bei der Magersucht beispielsweise nicht mehr auf das Ausbleiben der Regelblutung an. Auch dadurch wird die Zahl der »nicht näher bezeichneten« Essstörungen sinken. Viele der bisher so Diagnostizierten waren schlicht nicht ganz so schwere Fälle von Bulimie und Magersucht.

Wie bei den Essstörungen drehen sich viele Diskussionen um die Frage, ob in Zukunft weit mehr Menschen eine psychiatrische Diagnose bekommen - und zwar zu Unrecht. Nicht nur, dass die Kriterien etwa für das ohnehin schon inflationäre Zappelphilipp-Syndrom ADHS (die »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung«) weiter gefasst werden, es kommen auch einige neue Störungsbilder hinzu. Verhaltensauffällige Kinder sind in Zukunft auch Kandidaten für die »Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung«. Die Betroffenen rasten bei Kleinigkeiten noch leichter aus als ohnehin altersüblich und sind oft traurig gestimmt. Bisher erhalten sie vor allem in den USA oft die Diagnose »bipolar« (früher: manisch-depressiv) - dieses Massenphänomen gilt als Kollateralschaden des DSM-IV. Frances bezweifelt, dass die neue Diagnose daran viel ändern wird. Er hält sie für »so schlecht geschrieben, dass sie ein neues Monster schaffen wird«.

Selbstredend ist Frances auch gegen die geplante Einführung der »hypersexuellen Störung«, schon weil Vergewaltiger sich auf sie herausreden könnten. Allerdings reicht ein ausgeprägtes Triebleben nicht für die Diagnose; vielmehr muss der Betroffene unter seinen vielen sexuellen Fantasien und Handlungen leiden oder sie als Mittel gegen Stress und schlechte Stimmung einsetzen.

Nicht überall wohlgelitten ist auch der Vorschlag für ein »abgeschwächtes Psychosesyndrom«, das sich zu einer Schizophrenie entwickeln könnte. (siehe [in der Originalpublikationa] Artikel ab S. 48) Die DSM-Macher haben aber keineswegs alle vermeintlichen oder tatsächlichen Störungen aufgenommen, die gerade en vogue sind. So soll es nach momentanem Stand weder Kauf- noch Internetsucht geben. Nicht einmal das Burnout-Syndrom, die derzeitige Lieblingsdiagnose deutscher Medien, ist dabei.

Das Aspergersyndrom, eine milde Form des Autismus, dürfte sogar abgeschafft werden, jedenfalls dem Namen nach - sehr zum Missfallen von betroffenen Familien. Die Diagnose soll in der neuen »Autismusspektrumstörung« aufgehen, die alles irgendwie Autistische umfasst. Asperger-Advokaten aber sind »stolz auf eine Diagnose, die im öffentlichen Bewusstsein, wenn auch nicht in der klinischen Realität, verbunden ist mit sozial linkischen, aber brillanten Köpfen wie Albert Einstein und Andy Warhol«, spottet das Wissenschaftsmagazin »Science«.

Das Problem: Aspergerpatienten lassen sich einfach nicht verlässlich von intelligenten Autisten unterscheiden. Theoretisch können von Asperger Betroffene im Unterschied zu Autisten vor dem zweiten Lebensjahr Wörter sprechen und vor dem dritten Sätze. Doch das lässt sich kaum rekonstruieren, wenn es Jahre später um die Diagnose geht. In einer großen Studie mit gut 2000 Kindern und Jugendlichen, die Catherine Lord und andere Forscher vergangenen November veröffentlichten, stellte sich heraus: Ob ein Betroffener die Diagnose Autismus, Asperger oder »tief greifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet« erhält, hängt weniger von ihm selbst ab als von der Einrichtung, die ihn untersucht. Wenn sich der jetzige Vorschlag im DSM-5 durchsetzt, verschwindet nicht nur Asperger, sondern auch die leidige »nicht näher bezeichnete« Autismusvariante.


Im Bann der Kriterienlisten

Es gibt aber auch noch einen anderen Weg, mit Syndromen umzugehen, die deutlich in Richtung einer bestimmten Störung weisen, ihre Kriterien aber nicht gänzlich erfüllen: Man kann das klassische Diagnostizieren anhand von Kategorien einfach aufgeben.

Wer etwa bislang eine Spinnenphobie bescheinigt bekommt, muss starke Angst vor Spinnen zeigen, deswegen nicht oder nur äußerst ungern in den Keller gehen, im Alltag eingeschränkt sein, und das Ganze muss schon mindestens sechs Monate so gehen. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist es keine Spinnenphobie - selbst wenn der Betreffende beim Anblick eines Achtbeiners sofort in Ohnmacht fällt.

Solche Merkwürdigkeiten löst eine Diagnostik, die auf Dimensionen basiert. Bei fixen Kategorien hat man entweder eine Spinnenphobie oder man hat sie nicht. Mit Dimensionen hat man beispielsweise keine, ein bisschen, ziemlich starke oder extreme Spinnenphobie. Dieser Ansatz löst auch ein weiteres Problem der klassischen Diagnostik - das der Komorbidität. Sehr viele Angstpatienten haben zudem auch noch eine Depression und umgekehrt. Da fragt sich, ob beides wirklich verschiedene Störungen sind.

Bei dimensionaler Betrachtung geht das eleganter. Der Patient erreicht eben auf beiden Skalen hohe Werte, wobei der für die Depression vielleicht besonders hoch ist und der für die Angst nur mäßig erhöht. Die Autoren des DSM-5 konnten sich nicht ganz zu diesem Ansatz durchringen, den viele Spezialisten bevorzugen. Aber sie bieten die Möglichkeit, zusätzlich zu »gestört oder nicht« den Schweregrad festzuhalten: Treten die Symptome gelegentlich, oft oder ständig auf?

Zwingend sollen die Dimensionen nur bei den Persönlichkeitsstörungen sein. Unter ihnen sind Komorbiditäten extrem häufig. Nur sechs der bisherigen zehn Persönlichkeitsstörungen sollen noch als klassische kategoriale Diagnose bestehen bleiben. Den Psychopathen und die Borderlinerin gibt es somit nach wie vor, ebenso vermeidende, zwanghafte und schizotypische Menschen. Auch Narzissten werden weiterhin offiziell anerkannt, obwohl zwischenzeitlich schon die Streichung der Diagnose vorgesehen war. Das veranlasste die »New York Times« zu der schönen Schlagzeile »Ein Schicksal, das Narzissten hassen werden: ignoriert werden«. Jetzt sind die Narzissten wieder da, denn viele Experten protestierten empört.

Nicht mehr zu merken braucht man sich dagegen höchstwahrscheinlich, was bisher unter paranoider, schizoider, histrionischer und abhängiger Persönlichkeitsstörung verstanden wurde. Diese Eigenheiten können künftig nur noch auf den fünf neuen Dimensionen angekreuzt werden: negative Emotionalität, Introversion, Antagonismus, Enthemmung und Psychotizismus. Der entsprechende Bogen soll jedoch nicht nur für Patienten ausgefüllt werden, die starke Persönlichkeitsprobleme haben, sondern für alle mit einer entsprechenden Auffälligkeit. Ob die Therapeuten in den Kliniken und Praxen das mitmachen, bleibt offen. Die neue Einteilung der Persönlichkeitsstörungen hält die Psychiatrieprofessorin Sabine Herpertz von der Universität Heidelberg für »klinisch unbrauchbar, weil zu detailliert und nicht vereinbar mit dem klinischen Denken in Syndromen«.

Bevor das DSM-5 im Frühling 2013 offiziell vorgestellt wird, müssen die vorgeschlagenen Diskussionen ohnehin noch Praxistests in Kliniken und bei niedergelassenen Therapeuten bestehen. Wie viele Praktiker sich anschließend an das neue DSM oder die darauf basierende ICD halten, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt.

In bisherigen Studien fielen vor allem die Hausärzte nicht gerade durch getreuliche Anwendung der Diagnosen auf, die die Experten nach langen Diskussionen endlich beschlossen hatten. Wahrscheinlich wird das DSM-5 in vielen Praxen erst dann wirklich ankommen, wenn dort die an der Universität darin Geschulten dominieren (siehe auch das Interview mit Hans-Ulrich Wittchen [in der Originalpublikation] ab S. 42). Die Experten werden dann allerdings wohl schon am DSM-6 oder DSM-7 tüfteln.


Jochen Paulus ist Psychologe und freier Wissenschaftsjournalist in Frankfurt am Main.


Quellen

Herpertz, H.: Was bringt das DSM-5 Neues zur Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen? In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 59, S. 261 - 266, 2011

Miller, G., Holden, C.: Proposed Revisions to Psychiatry's Canon Unveiled. In: Science 327, S. 770 - 771, 2010

Moynihan, R.: A New Deal on Disease Definition. In: British Medical Journal 342, d2548, 2011

de Zwaan, M., Herzog, W.: Diagnostik der Essstörungen - Was wird das DSM-5 bringen. In: Der Nervenarzt 82, freier Wissenschaftsjournalist in S. 1100 - 1106, 2011

Weitere Quellen im Internet:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/1148815


DSM-5: Die wichtigsten Neuerungen in Kürze

Niedrigere Hürden
Die Kriterien für eine Reihe von Diagnosen sollen weiter gefasst werden, um die bislang große Zahl der »nicht näher bezeichneten« Störungen (NOS, von englisch: not otherwise specified) zu reduzieren.

Dimensionale Einordnung
Zusätzlich zur kategorialen Einordnung eines Leidens kann es auch nach der Stärke seiner Ausprägung beurteilt werden. Das ermöglicht eine bessere Berücksichtigung von mehrfach betroffenen Patienten (»Komorbidität«).

Neue Krankheitsbilder
Nicht trennscharfe Störungsbilder wie das Aspergersyndrom - bislang eine Sonderform des Autismus - werden gestrichen oder zusammengelegt, andere wie Binge Eating (»Fressanfälle«) und die hypersexuelle Störung werden voraussichtlich neu aufgenommen.

RisikoSyndrome
Um einer drohenden schwereren Störung etwa psychotischer Art frühzeitig zu begegnen, sollen mildere Ausprägungen, so genannte »Risikosyndrome«, definiert werden. (siehe [in der Originalpublikationa] den Artikel ab S. 48).


KURZ ERKLÄRT

SYMPTOM
(griechisch für Eigentümlichkeit) Hinweis auf das Vorliegen einer - körperlichen oder psychischen - Störung. Beispiele: reduzierter Appetit, niedergedrückte Stimmung

SYNDROM
(griechisch für Zusammenlauf) Da ein Symptom bei mehreren Störungen auftreten kann, wird die jeweilige Konstellation als Syndrom zusammengefasst.

STÖRUNG
In Abgrenzung von stigmatisierenden Begriffen wie Geisteskrankheit oder Irresein sprechen Psychiater heute von psychischen Störungen. Bei der Diagnose werden neben dem Syndrom auch Dauer, Stärke und soziale Folgen des Leidens für die Betroffenen berücksichtigt


Zwei Diagnosehandbücher

Die beiden gebräuchlichen Kataloge seelischer Störungen sind das US-amerikanische DSM (Diagnostic and Statistical Manual) sowie das entsprechende Kapitel der »Klassifikation der Krankheiten« ICD (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die ICD, derzeit in der zehnten Auflage von 2005, ging aus dem Verzeichnis der Todesursachen hervor und wird seit 1948 als Liste aller bekannten Krankheiten regelmäßig aktualisiert. Während das DSM, das erstmals 1957 erschien, die Grundlage der psychiatrischen Forschung bildet, basieren die Gesundheitssysteme der meisten Staaten auf den Kategorien der ICD. Das neue DSM-5 soll in Sachen seelische Leiden der für 2015 geplanten ICD-11 als Vorbild dienen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

JENSEITS DER SCHUBLADEN
Nach den Plänen für den neuen Katalog der Störungen werden Gemütskrankheiten künftig nicht mehr einfach in Kategorien eingeordnet, sondern auch dimensional betrachtet - nach der Stärke ihrer Auprägungen. Eine Neuerung mit weitreichenden Folgen.

DIE GANZE WELT DES WEHS
Damit die Kriterien für psychische Störungen nicht im luftleeren Raum schweben, gründen die Neuerungen des DSM-5 auf umfangreichen epidemiologischen Studien.

DER VIERTE STREICH
Das aktuelle, seit 1994 gültige DSM-IV verzeichnet 395 verschiedene Störungen der Seele. Die deutsche Ausgabe erschien 1996 und trägt seit der letzten Textrevision von 2000 den offiziellen Titel DSM-IV-TR.

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Quelle:
GEHIRN&GEIST 6/2012, Seite 36-41
Chefredakteur: Dr. Carsten Konneker (verantwortlich)
Redaktionsleiter: Dipl.-Psych. Steve Ayan
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2012

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