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POLITIK/264: "Globale Gesundheit ist kein Markt" - Interview mit Manon Aubry (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Interview mit Manon Aubry: "Globale Gesundheit ist kein Markt"

Von Olivier Turquet, 21. Mai 2021


Das Europäische Parlament hat mit 293 zu 284 Stimmen einen Änderungsantrag gebilligt. In diesem wird "die EU aufgefordert, die von Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereichte Initiative zu unterstützen, die eine vorübergehende Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte an Impfstoffen, Geräten und Therapien zur Bekämpfung von COVID-19 fordert."

Wir sprachen mit Manon Aubry, Mitglied der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament (GUE/NGL), die seit langem für die Impfstofffreiheit kämpft.


Manon Aubry während eines Redebeitrags - CC-BY-4.0: (©) by European Union 2020 - Source: EP [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/]

Manon Aubry
CC-BY-4.0: (©) by European Union 2020 - Source: EP
[https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/]


Die gestrige Abstimmung hat die pro-multinationale Front gebrochen. Was sind Ihre Meinung und Ihr Empfinden dazu?

Die Abstimmung über unseren Änderungsantrag, der eindeutig die Unterstützung des indischen und südafrikanischen Vorschlags bei der WTO fordert, ist ein großer Sieg gegen die großen Pharmalobbys. Es ist das Ergebnis eines unerbittlichen Kampfes, den wir seit Monaten im Europäischen Parlament (wo wir zunächst allein waren) zusammen mit NGOs und Bürger:innen geführt haben. Wir können jetzt sagen, dass das Europäische Parlament offiziell auf der Seite der Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe steht: Das setzt die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten zusätzlich unter Druck. Sie werden sich nicht länger vor ihrer Verantwortung drücken können: Wollen sie die Einzigen auf der Welt sein, die das blockieren, was es uns ermöglichen würde, aus der Knappheit herauszukommen und den ganzen Planeten zu impfen, nur um die Gewinne einiger weniger Aktionäre zu schützen?

Was sind die nächsten Schritte, innerhalb und außerhalb des Parlaments?

Es gibt eine Menge Heuchelei in den europäischen Institutionen und Regierungen in der Frage der Patentaufhebung. Bidens überraschende Kehrtwende zwang Macron, in dieser Frage einen Rückzieher zu machen. Er sagte, er sei "sehr dafür", obwohl er bei der WTO und seine Fraktion in der Nationalversammlung und im Europäischen Parlament immer dagegen gestimmt hatte. Merkel reagierte sofort, um ihren entschiedenen Widerstand gegen jede Infragestellung von Patenten zu bekräftigen, und seither ist Frankreichs Position unklar. Wir haben heute zwei Ziele: Erstens, weiterhin Druck auf das Europäische Parlament auszuüben, das im Juni über eine spezielle Resolution zu diesem Thema abstimmen wird, um die Kommission und den Rat zu zwingen, bei den nächsten WTO-Treffen eine klare Position zu beziehen. Und dann das Thema ausweiten, damit die Debatte um die COVID-Impfstoffpatente zu einem Präzedenzfall wird: Die globale Gesundheit kann nicht als Markt betrachtet werden, wenn Millionen von Leben auf dem Spiel stehen!

Innerhalb der Bewegung "Kein Profit mit der Pandemie" gab es unterschiedliche Reaktionen auf Bidens Aussagen. Was meinen Sie dazu?

Wir lassen uns nicht täuschen: Biden ist nicht über Nacht zum großen Revolutionär geworden, der jeglichen Profit an der Pandemie verhindern und eine für jeden zugängliche Medikamentenversorgung schaffen will! Wir müssen Bidens Sinneswandel als Chance sehen, die es zu ergreifen gilt, und das haben wir im Europäischen Parlament erfolgreich getan. Allerdings müssen wir vorsichtig sein: Wir wollen eine sofortige, vollständige und dauerhafte Aufhebung der Patente auf Impfstoffe, keinen Kompromiss auf Pump. Und wir wollen auch eine faire Aufteilung der notwendigen Rohstoffe sowie einen verpflichtenden Technologie- und Know-how-Transfer von den großen Konzernen. Diese Maßnahmen stehen nicht im Widerspruch zueinander, wie die EU behauptet: Im Gegenteil, sie ergänzen sich gegenseitig! So werden wir in der Lage sein, alle heute ungenutzten Produktionskapazitäten der Welt zu mobilisieren.

Die Zeit läuft uns davon. Hoffen wir, dass es uns gelingt, den Ländern, die sie am meisten brauchen, Impfstoffe zur Verfügung zu stellen?

Wir haben ein Jahr verloren, weil wir uns von Anfang an geweigert haben, Impfungen als globales Thema und den Impfstoff als gemeinsames Gut der Menschheit zu betrachten. Wir zahlen jetzt einen hohen Preis mit Ländern, die von der Pandemie und dem Auftreten neuer Varianten heimgesucht werden. Die Europäische Union ist für diese Sackgasse direkt verantwortlich, und wir werden weiterhin eine Untersuchungskommission fordern, um ihre Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Aber es ist noch nicht zu spät, um zu reagieren und die Politik zu ändern. Wenn wir die Aufhebung der Patente und den verpflichtenden Technologietransfer erreichen, können wir innerhalb weniger Monate neue Produktionslinien erwarten. Wir haben keine Sekunde zu verlieren, denn Untätigkeit ist tödlich. Mindestens 15 bis 20 Milliarden Dosen werden im nächsten Jahr benötigt, vielleicht sogar mehr, wenn reguläre oder variantenangepasste Booster erforderlich sind. Es ist immer noch möglich, aber wir müssen jetzt anfangen und aufhören, höflich darauf zu warten, dass die große Pharmaindustrie damit beginnt.

Die Pandemie überschattet viele andere soziale Notlagen. Woran muss in den kommenden Monaten gearbeitet werden?

Die Pandemie ist ein noch nie dagewesenes Ereignis in der jüngeren Geschichte und hat alle überrascht. Es ist normal, dass die Gesundheitskrise ein Jahr lang im Mittelpunkt stand, aber es ist jetzt an der Zeit, über die vierte Welle zu sprechen, die sozial ist und sein wird. Die Armut explodiert in ganz Europa. Junge Menschen stehen in den Suppenküchen Schlange. Selbstständige haben Schulden angesammelt und riskieren über Nacht den Bankrott. Die Situation ist äußerst ernst und erfordert sofortige Notmaßnahmen. Zuallererst muss der haushaltspolitische Spielraum wiederhergestellt werden: Streichung der öffentlichen Schulden, die von der Europäischen Zentralbank gehalten werden, und Einführung von Steuern auf die Profiteure der Krise, sowohl auf Milliardäre als auch auf multinationale Unternehmen. Damit ließe sich die soziale Komponente des Konjunkturprogramms finanzieren, die von der Europäischen Union völlig ignoriert wird! Was Biden in den USA kann, das können wir auch in Europa.


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2021

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