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FORSCHUNG/985: Sauerstoffmangel bei Neugeborenen - Schützt ein Gichtmedikament das Gehirn? (idw)


Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden - 09.09.2015

Sauerstoffmangel bei Neugeborenen: Schützt ein Gichtmedikament das Gehirn?


Prof. Axel Franz, Oberarzt der Abteilung für Neonatologie und neonatologische Intensivmedizin an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Tübingen und Prof. Mario Rüdiger, Leiter des Fachbereichs Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden haben eine europaweite Studie initiiert, mit der die Wirksamkeit einer neuen Medikation für Babys überprüft werden soll, die in der Geburtsphase akutem Sauerstoffmangel erlitten haben. Bei einem ungünstigen Verlauf führt dieser Mangel zum Tod oder zu dauerhaften Folgen in Form von motorischen Störungen oder einer verminderten geistigen Leistungsfähigkeit.

Die beiden wissenschaftlich tätigen Ärzte und Wissenschaftler aus Baden-Württemberg und Sachsen konnten die Gutachter des von der Europäischen Union initiierten Rahmenprogramms für Forschung und Innovation "Horizon 2020" von ihrem Vorhaben überzeugen. Die EU finanziert die ALBINO-Studie mit knapp sechs Millionen Euro, in der Wissenschaftler und Kliniker aus 14 europäischen Ländern zusammenarbeiten werden. Die Initiatoren der Studie reisen deshalb als Koordinatoren der Studie am morgigen Donnerstag (10. September) nach Brüssel. Hier informieren sie sich in einem initialen Treffen aller "Horizon 2020"-Koordinatoren über die Modalitäten des Förderprogramms zu ihrem Forschungsvorhaben.

Dank der intensiven medizinischen Überwachung während des Geburtsvorgangs erleiden heute nur noch ein bis vier von eintausend Neugeborenen einen Sauerstoffmangel unter der Geburt. Deutschlandweit sind das etwa 400 bis 600 Kinder, so dass dieser Mangel als häufigste Geburtskomplikation mit Folgeschäden gilt. Der Sauerstoffmangel schädigt grundsätzlich alle Organe, doch das Gehirn reagiert am empfindlichsten. Hier sterben am schnellsten Zellen ab, wenn das Blut zu wenig Sauerstoff enthält. Die Schäden reichen von vorübergehenden Problemen, die von alleine wieder verschwinden, bis hin zu schweren Entwicklungsstörungen, Lähmungen und Behinderungen. Eine wirksame Methode, um das Gehirn nach einem solchen Ereignis zu schützen, ist das vor zehn Jahren als Behandlungsstandard eingeführte und bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Dresden wissenschaftlich untersuchte, gezielte Kühlen des Neugeborenen. Der Körper wird dabei für 72 Stunden auf 33,5 Grad abgekühlt und danach langsam wieder erwärmt.

Trotzdem sterben noch immer 45 bis 50 Prozent der betroffenen Kinder oder behalten schwere neurologische Schäden zurück. In kleineren klinischen Studien wurde bereits gezeigt, dass sich durch die Gabe des Medikaments "Allopurinol" direkt nach der Geburt die langfristigen Schäden weiter reduzieren lassen. Der zur Behandlung von chronischen Gicht-Erkrankungen eingesetzte Wirkstoff sorgt dafür, dass die Harnsäure-Konzentration im Blut gesenkt wird und beugt so akuten Gichtanfällen vor. Wie genau "Allopurinol" nach einem Sauerstoffmangel wirkt, war lange Zeit unbekannt. In den vergangenen Jahren konnten Forscher in einem ersten Schritt die Mechanismen beschreiben, die infolge des Sauerstoffmangels zum Untergang von Hirnzellen führen. Der Mangel setzt komplexe Prozesse in Gang, welche die Nervenzellen schädigen - zum Beispiel das Anlagern von Glutamat, den Anstieg der Kalziumkonzentration oder das Auslösen des programmierten Zelltods. Diese Vorgänge entwickeln sich nicht unmittelbar in der Mangelsituation, sondern während der ersten Stunden nach dem Ereignis. Hieraus ergibt sich ein "therapeutisches Fenster" für mögliche, die Hirnnerven schützende Behandlungen - auch mit "Allopurinol".

In der durch die EU geförderten ALBINO-Studie (Effect of ALlopurinol in addition to hypothermia for hypoxic-ischemic Brain Injury on Neurocognitive Outcome) soll die Wirksamkeit dieses Medikamentes bewiesen werden. Dazu sollen rund 900 Neugeborene mit Sauerstoffmangel unter der Geburt untersucht werden. Da selbst große Kliniken jährlich nicht mehr als fünf derartiger Kinder behandeln, ist eine große multizentrische internationale Studie notwendig, um die Patientenzahlen zu rekrutieren. Die enge Kooperation der Wissenschaftler aus Tübingen und Dresden sorgt für Synergieeffekte. Beide bringen ihr spezielles Wissen und Know-how ein, um dieses Forschungsvorhaben erfolgreich abwickeln zu können. Prof. Axel Franz' Expertise liegt in der Organisation multizentrischer Studien. Der Arzt und Wissenschaftler ist Leiter des "Center for Pediatric Clinical Studies" (CPCS) in Tübingen. Diese Einrichtung koordinierte bereits zwei große, öffentlich durch die Europäische Union beziehungsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierte neonatologische Studien. Prof. Mario Rüdiger leitet das Deutsche Hypothermienetzwerk und ist Organisator eines jährlich stattfindenden wissenschaftlichen Symposiums europäischer Forscher auf diesem Gebiet. Diese Kombination an Expertisen hat die Gutachter der EU davon überzeugt, die auf "Allopurinol" basierende Therapie erstmals in einer großen Studie zu erforschen und damit die Chance zu nutzen, den betroffenen Kindern besser als bisher zu helfen.

Weitere Informationen unter
www.medizin.uni-tuebingen.de/kinder/de/abteilungen/cpcs/www.medizin.uni-tuebingen.de/Patienten/Kliniken/Kinder_+und+Jugendmedizin-p-796/Kinderheilkunde+IV.html
www.hypothermienetzwerk.de

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.uniklinikum-dresden.de/kik
http://www.medizin.uni-tuebingen.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1564

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Holger Ostermeyer, 09.09.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2015

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