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OFFENER BRIEF/015: An Angela Merkel zur Covid-19-Geberkonferenz - Gerechte Verteilung von Arzneimitteln (ÄoG)


Ärzte ohne Grenzen - 4. Mai 2020

Covid-19-Geberkonferenz - Medikamente und Impfstoffe müssen die Gefährdetsten erreichen - Offener Brief an Angela Merkel


Berlin, 4. Mai 2020. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert von den Teilnehmern der virtuellen Covid-19-Geberkonferenz am Montag konkrete und transparente Regeln für eine gerechte Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen. Die durch die öffentlichen Gelder zu entwickelnden Mittel müssen alle Menschen weltweit erreichen, insbesondere die am stärksten Gefährdeten.

"Das Gebertreffen der Globalen Allianz im Kampf gegen Covid-19 ist eine notwendige Initiative, aber guter Wille und die bloße Bereitstellung von Milliardensummen reichen nicht aus", sagt Marco Alves von der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. "Wer garantiert uns, dass sich nicht am Ende doch wieder derjenige mit dem größten Geldbeutel einen privilegierten Zugang zu Medikamenten, Impfstoffen und Tests sichert? Wer sorgt dafür, dass die entwickelten Produkte schnellstmöglich in ausreichenden Mengen produziert werden und dort hinkommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden? Wer garantiert bezahlbare Preise? Dazu braucht es einen klaren Prinzipienrahmen, Transparenz, öffentliche Rechenschaftspflicht und eine Verteilung nach medizinischem Bedarf und nicht nach Kaufkraft. Insbesondere die Gastgeberinnen der Konferenz, Ursula von der Leyen und Angela Merkel, müssen sicherstellen, dass nicht Monopole, Protektionismus und nationale Alleingänge über den Zugang zu lebensrettender Hilfe entscheiden, sondern medizinische Notwendigkeiten. Wir sind leider skeptisch und haben sehr viele Fragen."

Bislang ist unklar, wie mit den öffentlichen Geldern Medikamente, Impfstoffe und Tests entwickelt, produziert und verteilt werden sollen, so dass sie tatsächlich weltweit verfügbar sind, wie von der Weltgesundheitsorganisation und den Gebern angekündigt. "Es ist richtig und wichtig, dass Angela Merkel Covid-19-Impfstoffe als globale öffentliche Güter bezeichnet hat", so Alves. "Aber das bedeutet zum Beispiel auch, dass es darauf keine Patente und keine Vorrechte bei der Verteilung geben darf. Die Weltgesundheitsorganisation muss als die einzige globale Institution mit dem Mandat und der Expertise zu menschlicher Gesundheit eine übergeordnete koordinierende Rolle spielen."

Aus Anlass der Geberkonferenz hat ein breites Bündnis deutscher NGOs und Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kirche in einem Offenen Brief an Angela Merkel globale Solidarität bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie gefordert. "Egoistische Interessen von Staaten oder Gewinnerwartungen von Firmen dürfen nicht über Leben von Menschen gestellt werden", heißt es in dem Schreiben, das unter anderem von Ärzte ohne Grenzen, Brot für die Welt und Medico International unterstützt wird. Die Unterzeichner fordern etwa den Verzicht auf Exportbeschränkungen für Schutzkleidung und die besondere Berücksichtigung der Schwächsten, etwa von Obdachlosen, Bewohnern von Slums, Geflüchteten in überfüllten Lagern und auf beengtem Raum Lebenden.

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Der Offene Brief an Angela Merkel
Coronavirus-Pandemie: Globale Solidarität dringend erforderlich!


Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Gesundheit ist ein Menschenrecht, auch in Krisenzeiten. Seit Ausbruch von SARS-CoV-2 befindet sich die Weltgemeinschaft in einer Situation mit bisher unbekannter Dynamik. Weltweit geraten Gesundheitssysteme an ihre Grenzen oder kollabieren. Menschen haben Angst um Familie, Freunde und Nachbarn, um ihren Arbeitsplatz und um ihre Zukunft. Die spürbar zunehmende Unsicherheit vieler betrifft auch medizinische Fragen: Wann wird es eine gezielte Behandlung geben, die Leben rettet,und Impfstoffe, die uns gegen das Virus schützen? Stehen genügend Behandlungskapazitäten zur Verfügung? Wird sich Jede und Jeder die notwendige medizinische Versorgung überhaupt leisten können?

Bundespräsident Steinmeier sagte am 16. März: "Viren haben keine Staatsangehörigkeit. Genauso wird das Gegenmittel keine Staatsangehörigkeit haben." Diese Aussage ist klar und eindrücklich. Die derzeitigen Entwicklungen laufen jedoch leider in die entgegengesetzte Richtung.

Medizinische Schutzkleidung wird stellenweise nur noch für den eigenen nationalen Bedarf produziert und gehortet. Manche Regierungen versuchen sich bereits jetzt einen exklusiven Zugang zu erfolgsversprechenden Medikamenten und Impfstoffen zu sichern. Pharmakonzerne blockieren aus Profitinteresse durch Patente die rasche weltweite Produktion von Impfstoffen, den Zugang zu Medikamenten und Schnelltests.

Das vorherrschende Credo scheint zu sein: Unsolidarisches Verhalten lohnt sich, am Ende gewinnen die Stärkeren! Entsprechend bleiben die Schwächsten und Benachteiligten und insbesondere Menschen in ärmeren Ländern auf der Strecke. Das können und wollen wir nicht akzeptieren.

Wir appellieren daher an Sie: Nutzen Sie die Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um sicherzustellen, dass dringend erforderliche Medikamente und Impfstoffe weltweit allen Menschen zu einem bezahlbaren Preis zur Verfügung stehen.

Setzen Sie sich dafür ein, dass der Zugang zu dringend benötigter Schutzkleidung nicht durch Exportbeschränkungen begrenzt wird und dass medizinische Materialien global dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Unterstützen Sie ärmere Länder gezielt und direkt mit finanziellen Mitteln und technischer Expertise bei der Bewältigung dieser Pandemie. Nur wenn die Übertragung des Virus global verlangsamt, und nur wenn der Zusammenbruch von Versorgungssystemen vermieden wird, kann die Krise gemeistert werden.

Nehmen Sie bei Ihrem politischen Handeln gegen COVID-19 auch und gerade die Gesundheit und den Schutz der Schwächsten und Benachteiligten in den Fokus: Beispielsweise Menschen ohne Obdach, Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in Deutschland und Europa, Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen und andernorts, Menschen, die auf beengtemRaum zusammenleben und deshalb die erforderlichen Abstandsregeln nicht einhalten können, wie Kinder in Slums oder Flüchtlingslagern, oder Menschen im Strafvollzug. All diese Menschen und viele weitere marginalisierte Gruppen werden von dieser globalen Krise besonders getroffen und brauchen jetzt unser solidarisches Handeln.

Egoistische Interessen von Staaten oder Gewinnerwartungen von Firmen dürfen nicht über das Leben von Menschen gestellt werden.

Setzen Sie sich jetzt für globale Solidarität ein. COVID-19 ist eine Herausforderung, die nur grenzübergreifend und gemeinsam bewältigt werden kann. Ein entschlossenes Handeln kann als Vorbild für eine gerechtere künftige globale Zusammenarbeit für Gesundheit dienen.


Mit hochachtungsvollen Grüßen

Zeichnende Organisationen:
  • Aktionsbündnis gegen AIDS
  • Ärzte der Welt e.V.
  • Ärzte ohne Grenzen e.V. / Médecins Sans Frontières
  • Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.
  • Brot für die Welt
  • Pharma-Kampagne
  • Die Christoffel-Blindenmission (CBM)
  • Deutsche Aidshilfe
  • Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e.V (DAHW)
  • Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW)
  • Difäm - Deutsches Institut für Ärztliche Mission e.V.
  • Freie Flüchtlingsstadt Nürnberg
  • HelpAge Deutschland
  • Johanniter Unfallhilfe e.V. / Johanniter Auslandshilfe
  • Kindernothilfe e.V.
  • Medibüro Berlin - Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen
  • Medibüro Hamburg
  • medico international
  • MediNetz Aachen e.V.
  • MediNetz Bielefeld e.V.
  • MediNetz Bonn e.V.
  • MediNetz Freiburg e.V.
  • MediNetz Hannover - Medizinische Flüchtlingsberatung e.V.
  • MediNetz Jena e.V.
  • MediNetz Leipzig e.V.
  • MediNetz Tübingen e.V.
  • MediNetz Würzburg e.V.
  • Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.
  • Memento Preis für vernachlässigte Krankheiten
  • MEZIS e.V
  • Missionsärztliches Institut Würzburg
  • Peoples Health Movement Deutschland
  • Plan International Deutschland
  • SEEBRÜCKE - Schafft Sichere Häfen
  • STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative e.V.
  • Unabhängige Patientenberatung Tübingen e.V.
  • Universities Allied for Essential Medicines (UAEM)
  • Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää)
  • Verein demokratischer Pharmazeutinnnen und Pharmazeuten (VdPP)
  • World Vision Deutschland e.V.
Zeichnende Einzelpersonen:
  • Prof. Dr. Martin Sternberg, Vorsitzender des Graduierteninstituts für angewandte Forschung der Fachhochschulen NRW
  • Ingeborg Simon
  • Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, Tutzing
  • Prof. Dr. Christine Godt, Professorin für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht, Carl von Ossietzky Universität
  • Waltraud Seitz
  • Klemens Ochel, MPH; Fachberater für Globale Gesundheit; Missionsärztliches Institut Würzburg
  • Tilman Rüppel
  • Johanna Paul
  • Sieglinde Mauder
  • Rainward Bastian
  • Christine Kornblum
  • Prof. Dr. Peter G. Kremsner, Direktor, Institut für Tropenmedizin der Universität Tübingen
  • Daniela Hoyer
  • Dr. Anke Osterloh
  • Anke Gaußmann
  • Prof. Dr. Christoph Heintze
  • Prof. Dr. Heinz-Jochen Zenker
  • Dr. Mousa Mazidi
  • Sylvia Gabelmann, Bundestagsabgeordnete
  • Martin Patzelt, Bundestagsabgeordneter
  • Dr. Rainer Neef, Mitglied im Verein "Gesundheitsversorgung für Papierlose" und Medinetz Göttingen
  • Andreas Müller, Domvikar, Seelsorger der Erzdiözese Bamberg für Flüchtlinge und Migranten im Großraum Nürnberg
  • Franziska Formazin
  • Heike Baehrens, Bundestagsabgeordnete, Vorsitzende Unterausschuss Globale Gesundheit
  • Prof. Dr. Gisela Bretzel, Laborleiterin, Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin, Klinikum der Universität München
  • Adelheid von Guttenberg i.R.
  • Stefanie Beckmann
  • Dr. Margot Käßmann, Theologin
  • Dr. med. Amand Führer, Arzt und Sozialanthropologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Epidemiologie der Universität Halle
  • Dr. Regina Schumann
  • Dr. med. Jessica Groß
  • Marion Hörl
  • Caritas Führer, Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller & Dr. Michael Führer, Pfarrer der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens
  • Ottmar von Holtz, Bundestagsabgeordneter
  • Eva Schreiber, Bundestagsabgeordnete
  • Lisa Spingler
  • Ines Klohr
  • Eva Herrmann
  • Kordula Schulz-Asche, Bundestagsabgeordnete

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Ärzte ohne Grenzen leistet als medizinische Hilfsorganisation Nothilfe, wenn in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen das Leben vieler Menschen bedroht ist. Zu den Prinzipien gehört, allen Opfern Hilfe zu gewähren, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen und religiösen Überzeugungen. 2018 umfasste unsere medizinische Nothilfe beispielswiese mehr als 11,2 Millionen ambulante Konsultationen, über 758.000 Patienten und Patientinnen wurden stationär aufgenommen und 309.500 Frauen bei der Geburt unterstützt. Wir haben im Jahr 2018 u.a. mehr als 74.000 schwer mangelernährte Kinder behandelt und 404.000 psychologische Einzelkonsultationen abgehalten. Ärzte ohne Grenzen ist eine unabhängige, neutrale und unparteiliche Hilfsorganisation und arbeitet frei von bürokratischen Zwängen. Um die Unabhängigkeit unserer medizinischen Nothilfe zu bewahren, finanziert sich Ärzte ohne Grenzen überwiegend aus privaten Spenden. Zu unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehören Ärzte und Pflegekräfte, aber auch Vertreter zahlreicher anderer Berufe. Als medizinische Hilfsorganisation leisten wir in rund 70 Ländern Nothilfe.

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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Pressemitteilung vom 4. Mai 2020
Am Koellnischen Park 1 - 10179 Berlin - Germany
Pressestelle: Telefon: + 49 (30) 700 130 - 230
Fax: + 49 (30) 700 130 - 340
E-Mail: office@berlin.msf.org
Internet: www.aerzte-ohne-grenzen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2020

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