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ALLERGIE/286: "Glutenfreier" Weizen - Neue Hoffnung für



Spiegel der Forschung Nr. 1 - Mai/2011
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Glutenfreier" Weizen
Neue Hoffnung für Zöliakiepatienten?

Von Gregor Langen, Karl-Heinz Kogel und Diter von Wettstein

"Gluten": Gluteline und Prolamine

Als Gluten bezeichnet man eine Gruppe von Proteinen im Getreide-Korn, die als Speicherproteine der Ernährung des Keimlings dienen und reich an den Aminosäuren Glutamin (oder Asparagin), Prolin und Arginin sind. Man unterscheidet aufgrund physikochemischer Eigenschaften zwei Fraktionen: die Gluteline und Prolamine, wobei man diese wiederum in Hoch- und Niedermolekulare einteilt. Im Weizen werden diese Fraktionen Glutenine und Gliadine genannt. Die Prolamine der Gerste werden Hordeine, die des Roggens als Secaline bezeichnet.


Glutenunverträglichkeit und die daraus resultierende glutensensitive Enteropathie, auch Zöliakie genannt, ist eine der häufigsten auf Lebensmittelunverträglichkeit beruhenden Autoimmunerkrankungen in westlichen Zivilisationen. Bis zu 2% der europäischen Bevölkerung sind von der Erkrankung betroffen; die Dunkelziffer der "Stillen Zöliakie" ist um ein Vielfaches höher, da milde und atypische Symptome eine Diagnose erschweren. Die Krankheit tritt im Kindes- und Erwachsenen alter auf und ist nicht heilbar, jedoch kann eine konsequente Vermeidung des auslösenden Lebensmittel bestandteils, des Getreideglutens, zum Rückgang der Entzündungen des Darmepithels führen, so dass schwerer wiegende Schädigungen und Folgeerkrankungen vermieden werden können, wenn die Zöliakie rechtzeitig diagnostiziert wird. Vielleicht könnte man aber auch Getreide herstellen, das keine Glutenunverträglichkeit provoziert. Mit dieser Fragestellung befassen sich Pflanzenforscher an der Universität Gießen in Zusammenarbeit mit einer chinesischen und einer amerikanischen Arbeitsgruppe.


Gluten, auch als Klebereiweiß bezeichnet, ist in vielen Getreiden enthalten. Weizengluten ist eine Mischung von 149 Reserveproteinen (110 Prolamine und 39 Proteine mit niedermolekularem Gewicht). Verschiedene Zöliakiepatienten reagieren mit einer Autoimmunreaktion auf unterschiedliche Prolamine. Die Autoimmunreaktion ruft eine Entzündung der Mikrovilli des Dünndarmes hervor (Abb. 1). Dies hat zur Folge, dass die Zotten sich zurückbilden, und durch die Verringerung der Oberfläche des Dünndarms können nicht mehr genügend Nährstoffe aufgenommen werden (Malabsorption). So entstehen im Laufe der Erkrankung Nährstoffdefizite, die eine Reihe von Beschwerden auslösen. Mangelerscheinungen, wie z.B. Nachtblindheit, Osteoporose, Hautveränderungen, Veränderungen am Nerven- und Muskelsystem, Blutgerinnungsstörungen oder Blutarmut sind bei fortgeschrittener Krankheit mögliche Folgen der schlechteren Aufnahme von Nahrungsbestandteilen. Oligosymptomatische Formen können lange unerkannt bleiben und zu Kleinwuchs und Eisenmangel führen. Bei zunehmender Erkrankungsdauer steigt laut Deutscher Zöliakie-Gesellschaft das Risiko für weitere Autoimmunerkrankungen, wie Diabetes mellitus.

Die autoimmune Reaktion resultiert aus den toxischen Eigenschaften bestimmter Proteine des Weizenmehls, die bei der Passage durch den Verdauungstrakt nicht vollständig gespalten werden (Abb. 2). Dies betrifft insbesondere Glutene, die einen hohen Anteil an den Aminosäuren Prolin und Glutamin aufweisen. Diese speziellen Glutene werden als Prolamine bezeichnet. Prolaminfragmente werden nach unvollständigem Abbau der Prolamine im Dünndarm in die Lamina propria aufgenommen und initiieren dort bei Zöliakiepatienten nach weiterer biochemischer Modifikation aufgrund ihrer immunogenen Epitope die autoimmune Reaktion.

Weltweit zählen wir über 24.4 Millionen registrierte Zöliakiefälle. Die einzige bisher bekannte Therapie ist eine totale Abstinenz von Nahrungsmitteln, die Weizen, Roggen oder Gerstenproteine enthalten.

Unsere Fragestellung als Pflanzenforscher liegt auf der Hand: Können wir Getreide züchterisch so verändern, dass neue Sorten keine krankheitsauslösenden Prolaminbestandteile mehr besitzen und damit als Grundlage für eine vorsorgende und kurative Strategie zur Bekämpfung der Zöliakie dienen könnten? Abgesehen von der technologischen Komplexität einer solchen Aufgabe stellt sich sofort die Frage nach der Rolle der immunogenen Prolamine im Weizenkorn und ob sie bei der Verwertung des Weizens durch den Menschen, also etwa in puncto Backqualität von Bedeutung sind?

Gluten befindet sich im so genannten Endosperm des Getreidekorns und dient den Getreidepflanzen als Speicher von Aminosäuren für den sich entwickelnden Korn-Embryo. Das Gluten ist, wie der Name Klebereiweiß sagt, außerdem für die Backqualität des Weizenmehls verantwortlich. Allerdings ergeben sich durch eine etwas tiefere Betrachtung einige höchst interessante und glückliche Hinweise. Das Klebereiweiß des Weizens setzt sich nämlich aus zwei Fraktionen zusammen: eine, die aus Proteinen besteht, die für die Backqualität verantwortlich sind, und eine andere, die aus den für die meisten Zöliakiefälle verantwortlichen niedermolekularen Prolaminen besteht. Nach heutigem Erkenntnisstand bestimmt alleine das hochmolekulare Weizenglutenin die Teig- und Brotbackeigenschaften. Ein interessanter Versuch von Ingo Bauer von der Technischen Universität Berlin hat das in neuerer Zeit nochmals deutlich gezeigt: Nach Entfernung aller Gluten-Proteine und selektiver Zugabe des gereinigten hochmolekularen Glutenins zeigte der resultierende Teig gute Backeigenschaften, d.h. nach diesen Ergebnissen ist nur das für die meisten Zöliakiepatienten unbedenkliche hochmolekulare Glutenin im Mehl benötigt (Bauer, 2006).

Wäre es also möglich, Weizen frei von Prolaminen herzustellen? Um diese Frage zu beantworten, kooperieren wir seit drei Jahren in einem internationalen Zöliakieprojekt mit Wissenschaftlern einer chinesischen Arbeitsgruppe der Northeast Normal University Changchun sowie mit Diter von Wettsteins und Kulvinder Gills amerikanischen Arbeitsgruppen an der Washington State University, Pullman. Wir waren uns schnell über das Ziel des Projekts einig: Zunächst sollte geklärt werden, wie eine gezielte Ausschaltung des krankheitsverursachenden Prolaminanteils erreicht werden könnte. In einem zweiten Schritt sollten die Eigenschaften des veränderten Weizens überprüft, insbesondere seine Backqualität getestet werden. Wären diese Ziele erreicht und die erwartete Qualität des veränderten Weizens nachgewiesen, sollten mit modernen Zuchtverfahren, wie dem TILLING (Targeting Induced Local Lesions In Genomes), marktreifer Weizen erzeugt werden.

An dieser Stelle muss deutlich gesagt werden, dass das Ziel, Prolamin-freien Weizen herzustellen, sehr ambitioniert ist, vor allem deshalb, weil über die biochemische Regulation der Gene der Speicherproteine im Getreidekorn erstaunlicherweise und trotz der enormen Bedeutung für die Ernährung des Menschen fast nichts bekannt ist. Dies bedeutet aber auch, dass jede Forschung mit dem Ziel, Hilfe für Zöliakiepatienten zu bringen, gleichzeitig auch einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung erwarten lässt.


Erste experimentelle Schritte

Züchtung in Weizen ist sehr aufwändig, denn Weizen hat eine sehr komplexe Genomstruktur und ist hexaploid, d.h. die Zellen haben einen sechsfachen Satz von sieben Chromosomen. Deshalb bedienen wir uns eines Tricks. Wir nutzen die große genetische Ähnlichkeit (Syntenie) von Weizen und Gerste, denn Gerste hat ein wesentlich weniger komplexes Genom: Es ist diploid, hat also nur einen zweifachen Chromosomensatz. Bei der Suche nach Möglichkeiten, alle Prolamingene in einem Streich zu inaktivieren, kamen uns frühere Untersuchungen zur Ernährungsbalance von Gerste zu Hilfe.

Wie bereits erwähnt, dient Gluten den Getreidepflanzen als Speicher für Aminosäuren für den keimenden Embryo im Korn. Der hohe Gehalt des Klebereiweiß an Glutamin und Prolin resultiert in einem geringen Lysingehalt, die damit die erste limitierende Aminosäure in den Getreideproteinen für Menschen und monogastrische Tiere ist. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden deshalb umfangreiche Zuchtprogramme durchgeführt, die zum Ziel hatten, den Gehalt an der essentiellen Aminosäure Lysin im Korn zu erhöhen. Dabei wurden Gerstenpflanzen identifiziert, die eine einzelne Mutation im Gen Lys3a besitzen, welches bisher nicht identifiziert ist. Bei der Analyse dieser lys3a-Pflanzen zeigte sich zufällig, dass der erhöhte Gehalt an Lysin einhergeht mit einem Verlust an Prolaminen (bei der Gerste heißen sie eigentlich Hordeine, aber wegen des besseren Verständnisses unterscheiden wir hier nicht die verschiedenen Getreideprolamine). Die Produktion der höher molekularen Gluten-proteine war jedoch unverändert. Dieser zufällige Befund zeigte uns nun, dass unser Ziel, Prolamin-freien Weizen herzustellen, im Prinzip durch genetische Modifikationen zu erreichen ist.

Aber wie kann eine einzige Genmutation zum Ausfall einer ganzen Gruppe von Genen führen? In der lys3a-Mutante wird eine ganze Gruppe von Prolaminen weder in den Blättern noch in den reifenden Körnern gebildet. Dass die Prolamine in den Blättern nicht gebildet werden, ist normal, da die Promotoren, d.h. die für die Steuerung der Produktion verantwortlichen Kontroll-DNA-Abschnitte der Gene, durch Methylierung inaktiv sind. Im sich entwickelnden Endosperm des Korns wird diese Blockade durch gezielte Entfernung der Methylgruppen (Demetylierung) normalerweise aktiv aufgehoben, wodurch die Promotoren aller Mitglieder der Prolamingruppe aktiviert werden. Die Demethylierung findet jedoch in der Mutante nicht statt, und somit bleibt die Synthese aller Prolamine gehemmt (Sørensen, 1992).

Diesen Prozess der Genregulation und des damit verwandten "genomischen Imprinting" durch Methylierung bzw. Demethylierung der Genpromotoren (siehe Text "Genomische Prägung") hat man in den letzten Jahren in der Modellpflanze Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) studiert. Demethylierung benötigt drei Enzyme: Das erste schneidet die methylierten Cytosin-Nukleotide mittels Deglykosylase aus der DNA heraus, nachfolgend bindet ein weiteres Enzym ein unmethyliertes Cytosin-Nukleotid an den geöffneten Strang, und schließlich verbindet eine Ligase die offenen DNA-Strangenden.

Das DEMETER(DME)-Gen, welches ein Enzym mit Deglykosylaseaktivität kodiert, wurde bereits aus Arabidopsis und Reis isoliert (Choi et al., 2002). In Arabidopsis konnte gezeigt werden, dass DME eine bedeutende Rolle bei der Samenentwicklung nach der Befruchtung des Embryos spielt, was sich im Namen widerspiegelt, der für das Gen gewählt wurde: DEMETER ist der Name der griechischen Fruchtbarkeitsgöttin (Abb. 3).

Da die Produktion der Prolamine durch den aktiven Prozess der Demethylierung von Promotoren gesteuert wird und das DME-Gen mit entsprechender Funktion im Samen bekannt ist, lag es nahe zu vermuten, dass das entsprechende Gen in Gersten- und Weizenpflanzen auch vorhanden ist. Die Folge einer Mutation des Gens wäre, so nun unsere Hypothese, dass die Produktion der kleinen Prolamine während der Samenentwicklung in diesen Pflanzen nicht aktiviert werden kann. Diese Mutanten hätten, so ist anzunehmen, den gleichen Phänotyp wie die bekannten lys3a-Gerstenpflanzen: ein Fehlen der die Zöliakie verursachenden niedermolekularen Prolamine, eine unveränderte Backeigenschaften und - ein zusätzlicher positiver Effekt - einen erhöhten Lysingehalt.

Um das DME-Gen der Gerste zu identifizieren, wurde ausgehend von einem konservierten Bereich des bekannten Arabidopsis-Gens ein Fragment isoliert und damit eine Klonbibliothek der Gerste mit Hilfe der so genannten "Southern"-Hybridisierung durchsucht. So konnte die vollständige Sequenz des DME-Gens aus der Gerste ermittelt werden, das tatsächlich eine große Ähnlichkeit mit Arabidopsis- und ReisDME hat. In einem weiteren Schritt konnten wir zeigen, dass das GerstenDME-Gen, wie die Prolamingene, nur im Endosperm aktiv ist (Abb. 4).

Wie können nun diese Ergebnisse aus der Gerste auf den Weizen übertragen werden? Im langen Arm von Chromosom 5 in den Genomen A, B und D, mit welchen von Züchtern vor 10.000 Jahren Brotweizen geschaffen wurde, befindet sich je ein DME-Gen. Wir haben eine genomische Weizenbibliothek von 1,3 Millionen DNA-Sequenzen mit einem Stück der DME Sequenz aus Gerste als Probe mit Hilfe der "Southern"-Hybridisierung durchsucht und zwölf Treffer erzielt. Partielle Sequenzierung zeigte, dass drei dieser Klone von den drei Weizengenomen stammen, und diese werden jetzt mit "next generation sequencing"-Technologie sequenziert.

Wie finden wir nun Weizenpflanzen mit Mutationen in diesen Genen? Dafür arbeiten wir mit Arcadia Bioscience in Seattle zusammen. Die Forscher dieses Unternehmens haben eine Methode entwickelt, aus Tausenden von Mutanten diejenigen zu identifizieren, die in dem interessierenden Gen mutiert sind. Arcadia hat mit dem von Züchtern häufig verwendeten chemischen Mutagen Ethylmethansulfonat Tausende von Weizenmutanten in der Brotweizensorte "Express" und im tetraploiden Hartweizen "Kronos" erzeugt. Durch die verwendete TILLING-Methode (Targeting Induced Local Lesions In Genomes), einer neuen Präzisionszüchtungsmethode (smart breeding) konnten gezielt aus der Mutantensammlung mittels PCR (Polymerase-Kettenreaktion) Pflanzen mit Mutationen im DME-Gen identifiziert werden. Diese werden derzeit auf Inaktivierung des Gens geprüft und vermehrt. Da sich die drei DME-Gene des Weizens unterscheiden, können mit dieser "nicht-gentechnologischen" Methode gezielt Mutanten für die einzelnen DMEs identifiziert werden. Durch klassische Kreuzung dieser Mutanten lassen sich somit Weizenpflanzen ohne aktives DME-Gen herstellen. Tatsächlich ist es gelungen, einige TILLING-Mutanten zu identifizieren, die eine reduzierte Aktivität der DME-Gene im sich entwickelnden Weizengen aufweisen (Abb. 5). Zurzeit überprüfen wir die Effizienz der Mutationen zur Unterdrückung der Synthese der kleinen Prolamine in den Körnern.


Inaktivierung der Weizen-DEMETER-Gene

Das Testen der verschiedenen TILLING-Mutanten und die Kombination der einzelnen DME-Mutanten sowie eine Rückkreuzung mit dem Ziel einer marktreifen Weizensorte ist leider sehr zeitaufwändig und dauert voraussichtlich länger als zehn Jahre. Einen schnelleren Weg zur gezielten Inaktivierung der drei DEMETER-Gene des Weizens bietet die Biotechnologie mit dem Einsatz so genannter artifizieller microRNAs (amiRNA). MicroRNAs sind 20-23 Nukleotid lange Einzelstrang-Ribonukleinsäure-Moleküle, die von microRNA-kodierenden Genen, wie im Einzelnen in Abbildung 6 beschrieben, gebildet werden. Diese kleinen RNAs paaren sich mit der mRNA eines korrespondierenden Gens, worauf ein als Argonaut bezeichnetes Enzym die mRNA zerschneidet. Durch diesen Prozess wird die Synthese des durch die mRNA kodierten Proteins verhindert.

Wir haben mit Hilfe eines microRNA-Designers (http://wmd3.weigelworld.org/cgi-bin/webapp.cgi) nun amiRNAs mit Homologie zum DME-Gen synthetisiert. Von diesen erwarten wir, dass sie spezifisch die DME-Gene des Weizens ausschalten werden. Die künstlichen amiRNAs wurden anschließend von uns in Weizen transformiert. Die ersten transgenen Weizenpflanzen mit den ausgewählten amiRNA-Genen sind in der Abbildung auf Seite 12 dar gestellt.

Für Zöliakiepatienten stellt der Verzicht auf sämtliche Getreideprodukte eine starke Verminderung der Lebensqualität dar. Auch kommt es durch den unbeabsichtigten Verzehr von prolaminhaltiger Nahrung trotzdem immer wieder zu schmerzhaften Darmkrämpfen. So kommt das Klebereiweiß z.B. auch in Kartoffelchips oder Popcorn vor, da es bevorzugt von der Nahrungsmittelindustrie eingesetzt wird. Aufgrund dieser Schwierigkeiten wird deshalb u.a. an einer weiteren Therapie für Zöliakiepatienten geforscht: So sollen durch tägliche Einnahme einer Tablette mit dem Enzym Prolyl-Endopeptidase die schädlichen Peptide zerstört und damit die Toleranz gegenüber getreidehaltiger Nahrung erhöht werden. Trotzdem müssten die Patienten soweit möglich auf Getreideprodukte verzichten und lebenslang das Medikament vor jeder Mahlzeit einnehmen. Dahingegen besitzt unser züchterischer Ansatz erhebliche Vorteile: Sollte die Neuzüchtung gelingen, können zukünftig prolaminfreie Getreideprodukte mit unveränderten Backeigenschaften angeboten werden.


Genomische Prägung

Der Begriff "Genomische Prägung" (Genomic imprinting) beschreibt eine von der klassischen Mendelschen Vererbung unabhängige Art: "Imprinted Genes" werden abhängig von ihrer elterlichen Herkunft in aktiver oder inaktiver Form vererbt. So wird sichergestellt, dass jeweils nur ein bestimmtes Allel eines Gens entweder von väterlichen oder mütterlichen Chromosomen aktiv ist, d.h. im Embryo werden bestimmte Eigenschaften nur durch das väterliche oder mütterliche Gen bestimmt ("Prägung"). Geprägte Chromosomenbereiche zeigen zusätzlich zur Basenfolge, dem genetischen Code, epigenetische Modifikationen der DNA. Sie unterscheiden sich in ihren DNA-Methylierungsmustern. In diesen Bereichen ist an das Kohlenstoffatom 5 der Base Cytosin innerhalb der Dinukleotidsequenz CG eine Methylgruppe angeheftet. Finden solche Methylierungen in den regulatorischen Promotorbereichen statt, inaktiviert das in der Regel die betroffenen Gene. Diese epigenetischen Muster werden normalerweise nicht vererbt, sondern in den Keimzellen wieder gelöscht und geschlechtsspezifisch neu angelegt.

In der Gerste sind die Promotorbereiche bestimmter Prolamin-Gene (B-Hordein), welche für die Speicherproteine kodieren, im Embryo und allen anderen Pflanzenteilen methyliert und somit inaktiv. Nur im Endosperm sind die Promotoren demethyliert und somit aktiv. Dies stellt somit ein dem Genomic Imprinting vergleichbares Regulationsprinzip für die Endosperm-spezifische Expression von Genen dar.

Genomische Prägung wurde bei vielen (Säuge-) Tieren und Pflanzen beschrieben, wobei unklar ist, ob der zugrundeliegende Mechanismus bei Pflanzen und Tieren der gleiche ist. In der Pflanze Arabidopsis thaliana wurde das Gen DEMETER identifiziert, das für ein Enzym mit Deglycosylase-Aktivität kodiert. Es konnte gezeigt werden, dass dieses Enzym für die aktive Löschung der Methylierungsmuster im mütterlichen Nährgewebe, dem Endosperm, benötigt wird. Höhere Pflanzen (Angiospermae) haben eine doppelte Befruchtung: Zum einen wird durch den männlichen Pollen die Eizelle befruchtet, und ein Embryo entwickelt sich. Zum anderen wird aber auch die Embryosackzelle befruchtet, aus der sich das Endosperm entwickelt.


LITERATUR

Bauer I. (2006): Produktion funktioneller Weizenspeicherproteine in transgenen Stämmen der Hefe Saccharomyces cerevisiae,
http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2006/1194/

Sørensen M.B. (1992): Methylation of B-hordein genes in barley endosperm is inversely correlated with gene activity and affected by the regulatory gene Lys3. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 89:4119-23

Choi Y., Gehring M., Johnson L., Hannon M., Harada J.J., Goldberg R.B., Jacobsen S.E., and Fischer R.L. (2002): DEMETE R, a DNA glycosylase domain protein, is required for endosperm gene imprinting and seed viability in Arabidopsis. Cell 110:33-42

Janatuinen E.K., Kemppainen T.A., Julkunen R.J., Kosma V.M., Mäki M., Heikkinen, M., Uusitupa, M.I. (2002): No harm from five year ingestion of oats in coeliac disease. Gut 50:332-5

Kidner C.A. and Martiensen R.A. (2005): The developmental role of microRNA in plants. Curr. Opin. in Plant Biol. 8: 38-44

Deutsche Zöliakie-Gesellschaft e.V.: (http://www.dzg-online.de)


DIE AUTOREN

Gregor Langen, Jahrgang 1964, Studium der Biologie an der RWTH Aachen. Diplom in Biologie, Promotion (Dr. rer nat.) 1995 an der RWTH Aachen auf dem Gebiet der Pflanzenphysiologie zum Thema "Molekulare Erkennungsreaktionen im Wirt-Parasit-System Weizen-Weizenschwarzrost". 1995 bis 1998 Post-Doc am Landwirtschaftszentrum Monheim in der Abteilung Molekulare Wirkstoffforschung / Biotechnologie der Bayer Cropscience AG. Seit 1998 Akademischer Rat am Institut für Phytopathologie und Angewandte Zoologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Karl-Heinz Kogel, Jahrgang 1956, Studium der Biologie und Sozialwissenschaften an der RWTH Aachen. Diplom in Biologie, Promotion (Dr. rer nat.) an der RWTH 1984 auf dem Gebiet der Pflanzenphysiologie. 1983 Gastwissenschaftler am Weizman Institute of Science, Rehovot, Israel, 1986 bis 1988 Post-Doc am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln. 1988 bis 1990 Tätigkeit als Patentanwalt im Bereich der Bio-Patente. 1996 Habilitation an der RWTH Aachen über biochemische Mechanismen der Krankheitsentwicklung an Getreidepflanzen. Seit 1996 Professor am Institut für Phytopathologie und Angewandte Zoologie (IPAZ) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2006 bis 2009 Vizepräsident der Universität Gießen. Mitglied der DFG-Senatskommission für Stoffe und Ressourcen in der Landwirtschaft (2000-2006). Koordinator der DFG-Forschergruppe 343 "Erhöhung des Resistenzpotentials der Gerste" (1999-2005). Seit 2006 Koordinator der DFG-Forschergruppe 666 "Mechanismen der Krankheitskompatibilität". Seit 2010 Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Zellbiologische Arbeiten zum Mechanismus der Krankheitsresistenz bei Getreiden, Biologischer Pflanzenschutz und Pflanzenbiotechnologie.

Diter von Wettstein, Jahrgang 1929, Studium der Biologie in Tübingen. Promotionen in Biologie und Biochemie 1953 (Dr. rer. nat) in Tübingen, in Genetik 1953 (Ph.D.) und 1957 (D.Sc.) in Stockholm (Schweden). 1962-1975 Professor und Leiter des Instituts für Genetik an der Universität Kopenhagen, 1972-1996 Professor und Leiter der Physiologischen Abteilung der Carlsberg-Laboratorien in Kopenhagen. Außerdem von 1975 bis 1988 Direktor des Carlsberg Plant Breeding Institute. Seit 1996 R.A. Nilan Distinguished Professor am Department of Crop and Soil Sciences & School of Molecular Biosciences, Washington State University, Pullman, USA. Seit 2007 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderter Mercator-Gastprofessor am Institut für Phytopathologie und Angewandte Zoologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Prof. v. Wettstein ist Mitglied der National Academy of Sciences USA, der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und zahlreicher weiterer internationaler Akademien. Er ist Ehrenmitglied der Swedish Seed Association, Svalöf, und wurde mit dem Lillö-Stiftelsens-Preis für genetische Forschung, der Gregor Mendel-Medaille, der Kurt Mothes-Gold-Medaille der Leopoldina ausgezeichnet und ist Dr. agro. h.c. an der Universität Kopenhagen.


KONTAKT

Prof. Dr. Karl-Heinz Kogel Dr. Gregor Langen
Justus-Liebig-Universität Institut für Phytopathologie und Angewandte Zoologie
Heinrich-Buff-Ring 26-32, 35392 Gießen
Telefon: 0641 99-37490/-37493
Karl-Heinz.Kogel@agrar.uni-giessen.de
Gregor.Langen@agrar.uni-giessen.de

Prof. Dr. Diter von Wettstein
Department of Crop & Soil Sciences, Washington State University
Pullman, WA 99164-6420, USA
diter@wsu.edu


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Weizenpflanzen, die mit künstlichen MicroRNAs zur Inaktivierung des DEMETER-Gens transformiert wurden.

Abb. 1. Histologische Schnitte des Dünndarm-Epithels von Biopsien aus Zöliakie-Patienten nach Einnahme von Getreide enthaltenden Speisen. A und B, Partielle bzw. totale Zerstörung der Zotten der Darmschleimhaut; C, Darmschleimhaut mit normal ausgebildeten Zotten eines gesunden Menschen. [aus: Richard J. Farrell & P.Kelly, Celiac Sprue. N. Engl. J. Med. vol. 346, 3, p 185, 2002].

Abb. 2: Wirkungsweise der durch Glutenaufnahme ausgelösten Autoimmunreaktion im Darm. In Getreideprodukten enthaltene Glutenbestandteile, die Prolamin-Reserveproteine, werden unvollständig im Darm verdaut. Die entstehenden Peptide werden aufgenommen und im Bindegewebe von einer Transglutaminase deamidiert, wodurch neue Epitope entstehen, die in ZöliakiePatienten toxisch wirken: Zellen des Immunsystems mit den Rezeptoren HLA-DQ2 oder HLA-DQ8 nehmen die Peptide auf und präsentieren sie an ihrer Oberfläche (APZ: Antigen-präsentierende Zelle). T-Zellen vom Typ CD4 binden an die APZ. Die so aktivierten T-Zellen lösen in der Darmschleimhaut eine schmerzhafte Entzündungsreaktion aus.

Abb. 3: Demeter ist der Name einer Muttergöttin aus dem griechisch-kleinasiatischen Raum. Sie war zuständig für die Fruchtbarkeit der Erde, das Getreide, die Saat und die Jahreszeiten. U.a. wurde sie auch als Gerstenmutter bezeichnet. Ihr römischer Name ist Ceres (Cerealien = Getreideprodukte). Aus: Dr. Vollmers Wörterbuch der Mythologie aller Völker, dritte Edition Stuttgart 1874.
[http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Demeter.png].

Abb. 4: Nachweis der Expression (Aktivität) von Prolamingenen - in Gerste "Hordeine" genannt. Die unterschiedlichen Gene sind im sich entwickelnden Gerstenkorn, jedoch nicht im Blatt aktiv (beachte: keine Banden unter der Säule "leaf"). Gezeigt werden in diesem Gelblot die sich neu bildenden mRNAs (Banden) der entsprechend aktiven Gene. Das DEMETER-Gen der Gerste zeigt ebenfalls eine Aktivität. Es handelt sich hier um semi-quantitative RT-PCR-Ergebnisse mit isolierten RNAs aus 2 bis 6 mm großen unreifen Gerstenkörnern (Endosperm) und -blättern. NTC: non-template control (= Negativkontrolle); Ubiquitin (= Positivkontrolle).

Abb. 5. Kristallographisches Modell des aktiven Zentrums des DNA-Reparatur-Enzymes Endonuclease III mit Identität zum aktiven Zentrum des DEMETER-Gens (5-Methyl-Cytosin Glycosylase) aus Weizen. Ein Ersetzen der Aminosäuren 1, 2, oder 3 in der Helix-hairpin-Helix-Domäne oder 4 in der Eisenschwefel-Protein-Domäne durch Mutation kann DME inaktivieren und damit die Bildung der immunogenen Prolamine im Samen unterdrücken.

Abb. 6: Zahlreiche microRNA-Orte im Genom kodieren für ~1kb Pro-miRNA, die von der RNA-Polymerase II transkribiert werden. Der Haarnadel-Faltteil des Transkripts wird vom DICER-LIKE I (DCL1) in Kombination mit dem Doppelstrang bindenden Protein HYL1 und dem ENHANCER HEN1 zerschnitten, um den miRNA-miRNA*-Duplex zu bilden. Dieses Molekül wird vom Zellkern ins Zytoplasma transportiert, wo ein Strang mit der Ziel-mRNA paart und von dem Argonaut-Enzym (AGO1) zerschnitten wird.
[http://wmd3.weigelworld.org, nach Kidner und Martienssen, (2005). Curr. Opin. Plant Biol. 8:38-44]


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1 - Mai/2011, S. 12 - 19
Wissenschaftsmagazin der Justus- Liebig-Universität Gießen, 28.
Jahrgang
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Redaktion: Christel Lauterbach, Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-12040, Fax: 0641/99-12049
E-Mail: christel.lauterbach@uni-giessen.de
Internet: http://www.uni-giessen.de/spiegel-der-forschung


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2011